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5 RJ 77/89

Tatbestand

Streitig ist, ob die Klägerin Anspruch auf Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) hat.

Die 1932 geborene Klägerin hat in der Zeit zwischen 1946 und 1951 eine Versicherungszeit von 33 Monaten (Pflichtbeitrags- und Ersatzzeiten) zurückgelegt. Für ihre acht Kinder sind ihr für die Zeit zwischen Juni 1951 und 1964 insgesamt 96 Monate Kindererziehungszeiten nach § 1251a der Reichsversicherungsordnung (RVO) anerkannt worden. Von Oktober 1983 bis Dezember 1987 hat sie freiwillige Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet.

Ihren Antrag vom 26. Mai 1986 auf Gewährung der Rente wegen EU lehnte die Beklagte ab, den Widerspruch wies sie zurück (Bescheide vom 18. November 1986 und 27. April 1987). Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) die Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Rente wegen EU auf Zeit nach einem am 26. Mai 1986 eingetretenen Versicherungsfall bis zum 30. Juni 1990 zu gewähren (Urteil vom 10. März 1989). Mit ihrer Berufung hat die Beklagte sowohl geltend gemacht, daß der Versicherungsfall nicht schon am 26. Mai 1986, sondern erst im Juli 1987 eingetreten sei als auch, daß weder im Mai 1986 noch im Juli 1987 die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung der Rente wegen EU erfüllt gewesen seien. Die Voraussetzungen der §§ 1246 Abs. 2a, 1247 Abs. 2a RVO seien nicht erfüllt gewesen, da die Klägerin zuletzt 1951 eine versicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt habe. Die Voraussetzungen des Art. 2 § 6 Abs. 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) seien nicht erfüllt, da die Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten nicht vor dem 1. Januar 1984 zurückgelegt worden sei. Kindererziehungszeiten hätten zu diesem Zeitpunkt noch nicht als Versicherungszeiten anerkannt werden können. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, der Versicherungsfall sei im Mai 1986 eingetreten. Die Klägerin erfülle auch die Voraussetzungen des Art. 2 § 6 Abs. 2 ArVNG. Sie habe unter Einberechnung der Kindererziehungszeiten vor dem 1. Januar 1984 eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt, wie es Art. 2 § 6 Abs. 2 Nr. 1 ArVNG fordere. Zurückgelegt seien die Kindererziehungszeiten als Versicherungszeiten vor diesem Zeitpunkt, auch wenn sie erst bei Versicherungsfällen nach dem 30. Dezember 1985 angerechnet werden könnten (Urteil vom 23. August 1989).

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom LSG zugelassene Revision der Beklagten. Die Beklagte macht mit ihrer Revision nur noch geltend, daß bei der Klägerin die Voraussetzungen des Art. 2 § 6 Abs. 2 ArVNG nicht erfüllt seien.

Die Beklagte beantragt,

  • das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 23. August 1989 und das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 10. März 1989 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht durch einen beim Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Zu Recht hat das LSG die Berufung der Beklagten gegen das der Klage stattgebende Urteil des SG zurückgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig, denn die Klägerin hat Anspruch auf die vom SG zuerkannte EU auf Zeit.

Nach § 1247 Abs. 1 RVO in der bis zum 31. Dezember 1983 geltenden Fassung (RVO a.F.) erhält Rente wegen EU der Versicherte, der erwerbsunfähig ist, wenn die Wartezeit erfüllt ist. Der Anspruch der Klägerin auf Rente wegen EU richtet sich nach § 1247 Abs. 1 RVO a.F., denn die Voraussetzungen des Art. 2 § 6 Abs. 2 ArVNG für die Anwendung der Vorschrift in dieser Fassung sind erfüllt. Nach Art. 2 § 6 Abs. 2 ArVNG gilt § 1247 Abs. 1 RVO a.F. auch für Versicherungsfälle nach dem 31. Dezember 1983, wenn der Versicherte vor dem 1. Januar 1984 eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt hat und jeden Kalendermonat in der Zeit vom 1. Januar 1984 bis zum Ende des Kalenderjahres vor Eintritt des Versicherungsfalles mit Beiträgen belegt hat.

Die Klägerin hat Beiträge vom 1. Januar 1984 an bis zum Jahr 1987 für jeden Kalendermonat entrichtet. Die Klägerin hat auch vor dem 1. Januar 1984 eine Versicherungszeit von mehr als 60 Kalendermonaten zurückgelegt. Was Versicherungszeiten sind, wird in § 1250 Abs. 1 RVO bestimmt. Danach sind anrechnungsfähige Versicherungszeiten neben Beitrags- und Ersatzzeiten (Buchst. a u. b) auch Zeiten der Kindererziehung vor dem 1. Januar 1986 nach § 1251a RVO (Buchst. c). Versicherungszeiten i.S. von Art. 2 § 6 Abs. 2 Nr. 1 ArVNG sind deshalb nicht nur die schon am 31. Dezember 1983 anrechenbaren 33 Monate Beitrags- und Ersatzzeiten, die die Klägerin zwischen 1946 und 1951 zurückgelegt hat, sondern auch die 96 Monate, die als Kindererziehungszeiten in den Jahren 1951 bis 1964 nach § 1251a RVO anzurechnen sind.

Mit den §§ 1251a, 1250 Abs. 1 Buchst. c RVO hat der Gesetzgeber rückwirkend für die Zeit vor dem 31. Dezember 1985 Kindererziehungszeiten als Versicherungszeiten eingeführt. Zwar können Kindererziehungszeiten nach Art. 2 § 5c ArVNG nur bei Versicherungsfällen nach dem 30. Dezember 1985 angerechnet werden. Dies bedeutet aber nicht, daß sie nicht in der Zeit, für die sie angerechnet werden - jeweils das erste Jahr nach der Geburt des Kindes - zurückgelegt sind. Es muß unterschieden werden zwischen der Anrechenbarkeit einer Versicherungszeit einerseits und dem Zeitpunkt, in dem diese Versicherungszeit zurückgelegt ist. Eine derartige Unterscheidung ist der gesetzlichen Rentenversicherung systemimmanent. Andernfalls wäre beispielsweise die durch das ArVNG eingeführte Berücksichtigung von Ersatzzeiten i.S. des § 1251 Abs. 1 RVO, die überwiegend vor Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung eingetretene Sachverhalte betreffen, obsolet. Zurückgelegt sind Zeiten der Kindererziehung deshalb als Versicherungszeit, wenn die Tatbestände des § 1251a RVO verwirklicht sind. Darauf hat das LSG schon zu Recht hingewiesen. Wenn der Gesetzgeber in § 1251a RVO die Kindererziehungszeit für jedes Kind einem bestimmten Zeitraum als Versicherungszeit zuordnet, so gilt dann bei Anwendung aller Vorschriften, daß die Versicherungszeit in diesem Zeitraum zurückgelegt ist. Bei Eintritt eines Versicherungsfalles nach dem 30. Dezember 1985 ist für die vorhergehende Zeit der Kindererziehung damit eine anrechnungsfähige Versicherungszeit vorhanden (so auch Hennies in: Koch/Hartmann, Kommentar zum Angestelltenversicherungsgesetz - AVG -, § 23 Anm. A.I.4).

Gegen diese Auslegung kann auch nicht eingewandt werden, daß Art. 2 § 6 Abs. 2 ArVNG eine Vorschrift ist, die den Versicherten bei Einführung der Anwartschaftsregelung in die §§ 1246 und 1247 RVO einen bereits bestehenden Besitzstand sichern sollte. Diese Besitzstandswahrung ist das Motiv für die Schaffung der Vorschrift gewesen, die so auch verfassungsrechtlich geboten war (vgl. BVerfGE 75, 78 = SozR 2200 § 1246 Nr. 142). Der Gesetzgeber hat aber einerseits in Art. 2 § 6 Abs. 2 ArVNG auf die zurückgelegte Versicherungszeit abgestellt und andererseits in §§ 1251a, 1250 Abs. 1 Buchst. c RVO die Kindererziehungszeiten vor 1986 zeitlich dem Jahr nach der Geburt zugeordnet und rückwirkend allgemein als Versicherungszeit anerkannt. Er hätte ausdrücklich anordnen müssen, wenn diese Vergünstigung bei bestimmten Tatbeständen nicht gelten soll. Der Senat verkennt dabei nicht, daß diese rückwirkende Einführung der Versicherungszeit wegen Kindererziehung i.V.m. Art. 2 § 6 Abs. 2 ArVNG zu Begünstigungen führen kann, die von den Betroffenen nicht vorherzusehen waren. Nach Art. 2 § 6 Abs. 2 ArVNG konnte nur die bereits erfüllte Anwartschaft - 60 Monate Versicherungszeit - durch die Entrichtung von freiwilligen Beiträgen gewahrt werden. Es bestand deshalb für Versicherte, die bis zum 31. Dezember 1983 nach dem damaligen Rechtsstand keine Versicherungszeit von 60 Monaten zurückgelegt hatten, keine Veranlassung, in der Zeit danach Beiträge zur Erhaltung der Anwartschaft auf Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) bzw. EU zu entrichten. Diese Versicherten konnten freiwillige Beiträge ab 1. Januar 1984 nur in der Erwartung entrichten, daß sie bei dem Altersruhegeld angerechnet werden. Durch die Einführung von Kindererziehungszeiten mit § 1251a RVO sind die entrichteten freiwilligen Beiträge in Fällen wie dem der Klägerin rückwirkend „wertvoller“ geworden als sie es vorher waren. Diese nachträgliche Begünstigung von Versicherten ist aber kein Grund, deshalb das Gesetz zum Nachteil dieser Begünstigten nicht anzuwenden.

Keinen Rentenanspruch haben allerdings die Versicherten, die zwar erst durch die Einführung der Kindererziehungszeiten die Wartezeit des Art. 2 § 6 Abs. 2 Nr. 1 ArVNG erfüllt haben und auch wie die Klägerin Beiträge ab 1. Januar 1984 entrichtet haben, bei denen der Versicherungsfall jedoch schon vor dem 31. Dezember 1985 eingetreten ist. Diese Benachteiligung ist aber zwingende Folge des Umstandes, daß Kindererziehungszeiten nach Art. 2 § 5c ArVNG ausnahmslos erst für Versicherungsfälle nach dem 30. Dezember 1985 anrechenbar sind. Der Gesetzgeber hätte dieses Ergebnis nur vermeiden können, wenn entweder Kindererziehungszeiten auf die Wartezeit schon für Versicherungsfälle zumindest z.B. seit dem 1. Januar 1984 anrechenbar wären oder aber die Erfüllung der Wartezeit i.S. des Art. 2 § 6 Abs. 2 Nr. 1 durch Kindererziehungszeiten ausdrücklich ausgeschlossen worden wäre. Wenn der Gesetzgeber einerseits mit Art. 2 § 5c ArVNG beim Versicherungsfallprinzip bleibt und andererseits unter Wahrung des Versicherungsfallprinzips den Begünstigten die maximale Begünstigung eingeräumt wird - und das ist die Anrechnung der Kindererziehungszeit vor dem 1. Januar 1984 als Versicherungszeit im Rahmen von Art. 2 § 6 Abs. 2 Nr. 1 ArVNG -, so ist eine solche Regelung nicht willkürlich, und zwar weder zum Nachteil der von der Begünstigung Ausgeschlossenen noch zum Vorteil der Begünstigten.

Auch die übrigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Rente wegen EU auf Zeit sind erfüllt. Die Klägerin ist seit Mai 1986 erwerbsunfähig. Die EU beruht auch nicht nur auf dem Gesundheitszustand der Klägerin (§ 1276 Abs. 1 Satz 2 RVO). Das LSG hat dazu festgestellt, daß die Klägerin seit Mai 1986 wegen der bei ihr bestehenden Gesundheitsstörungen nur noch vier Stunden täglich arbeiten kann und ihr der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist. Diese Feststellungen sind mit der Revision nicht angegriffen worden und deshalb für den erkennenden Senat bindend (§ 163 SGG).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

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