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9a RV 8/84

Tatbestand

Die Klägerin begehrt Hinterbliebenenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Sie ist die Witwe des am 27. Juli 1978 verstorbenen O.K., der zu Lebzeiten eine Beschädigtenrente eines Erwerbsunfähigen (Minderung der Erwerbsfähigkeit - MdE - um 100 v.H.) und eine Pflegezulage der Stufe V bezogen hatte. Der Tod des K. war nicht durch Schädigungsfolgen verursacht.

Die Klägerin hatte ihren späteren Ehemann im Juli/August 1977 aufgrund einer Annonce, mit der dieser nach dem Tod seiner bisherigen Pflegerin eine neue Pflegekraft suchte, kennengelernt. Am 28. August 1977 nahm sie die pflegerische Tätigkeit auf; am 25. November 1977 heiratete sie K. Mit Bescheid vom 12. Dezember 1979 lehnte das Versorgungsamt den Antrag der Klägerin auf Hinterbliebenenversorgung ab. Widerspruch (Bescheid vom 17. September 1980) und Klage (Urteil des Sozialgerichts - SG - vom 10. September 1982) wie auch die Berufung blieben erfolglos (Urteil des Landessozialgerichts - LSG - vom 7. Juli 1983). Das LSG hat u.a. ausgeführt, der Anspruch auf Hinterbliebenenrente bzw. Witwenbeihilfe entfalle nach der widerlegbaren Vermutung des § 38 Abs. 2 BVG, wenn - wie vorliegend - die Ehe erst nach der Schädigung geschlossen worden sei und nicht mindestens ein Jahr gedauert habe, es sei denn, nach den besonderen Umständen des Falles sei die Annahme nicht gerechtfertigt, es sei der alleinige Zweck der Heirat gewesen, der Witwe eine Versorgung zu verschaffen. Besondere Umstände, die in diesem Sinne die gesetzliche Vermutung einer Versorgungsehe zugunsten der Klägerin hätten widerlegen können, seien nicht erkennbar gewesen.

Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt die Klägerin eine unzutreffende Auslegung des § 38 Abs. 2 BVG durch das LSG. Bei richtiger Anwendung von Denkgesetzen und unter Beachtung der allgemeinen Lebenserfahrung hätte das LSG aufgrund der von der Klägerin vorgetragenen besonderen Umstände die gesetzliche Vermutung des § 38 Abs. 2 BVG als widerlegt ansehen müssen.

Die Klägerin beantragt,

  • das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 7. Juli 1983 aufzuheben und ihr die beantragte Hinterbliebenenrente nach dem BVG zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

  • die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist insoweit begründet, als das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen ist. Das LSG hat seiner Entscheidung eine andere Auslegung des § 38 Abs. 2 BVG zugrundezulegen.

Dem Begehren der Klägerin auf Zuerkennung einer Witwenbeihilfe nach § 48 BVG könnte § 38 Abs. 2 BVG entgegenstehen. Diese Rechtsvorschrift findet auf § 48 BVG entsprechende Anwendung (zum vergleichbaren Fall aus der UV: BSGE 48, 79, 80 f = SozR 2200 § 594 Nr. 2). Nach § 38 Abs. 2, 1. Halbsatz, BVG ist Hinterbliebenenrente nicht zu gewähren, „wenn die Ehe erst nach der Schädigung geschlossen worden ist und nicht mindestens ein Jahr gedauert hat“. Denn damit wird vermutet, „daß es der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, der Witwe eine Versorgung zu verschaffen“ (§ 38 Abs. 2, 2. Halbsatz BVG). Die Tatbestandsvoraussetzungen für die Vermutung sind hier gegeben. Das Gesetz billigt jedoch ausnahmsweise Hinterbliebenenversorgung zu, wenn nach den besonderen Umständen des Falles die Annahme nicht gerechtfertigt ist, daß es der - wie ausgeführt - alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, der Witwe eine Versorgung zu verschaffen. Das Berufungsgericht sieht die in § 38 Abs. 2 BVG enthaltene Rechtsvermutung, daß es sich um eine sogenannte Versorgungsehe gehandelt habe, als nicht widerlegt an. Dazu reiche der seitens des Beschädigten auch vorhandene Beweggrund, durch die Eheschließung seine Betreuung und Pflege sicherzustellen, nicht aus. Die Versorgungsabsicht ergebe sich vielmehr aus dem testamentarischen Einsetzen der Klägerin als Alleinerbin fünf Tage nach der Eheschließung sowie aus der fehlenden wirtschaftlichen Sicherung der Klägerin nach Scheidung ihrer ersten Ehe im Jahre 1963 und sei außerdem der Auskunft der Ortsverwaltung T zu entnehmen.

Das LSG hat damit zwar zutreffend verlangt, daß für die Widerlegung der Rechtsvermutung des § 38 Abs. 2, 1. Halbsatz BVG der volle „Beweis des Gegenteils“ erbracht wird. Das schreibt § 292 ZPO vor, der auch im Sozialgerichtsverfahren entsprechend gilt (§ 202 SGG). Das LSG hat aber an diesen Beweis Anforderungen gestellt, die nicht mit dem erkennbaren Sinn und Zweck des § 38 Abs. 2 BVG zu vereinbaren sind. Die Motive, die § 38 Abs. 2 BVG auf Grund äußerer Umstände vermutet, können auch durch entgegenstehende äußere Umstände widerlegt werden. Hat die Ehe offenkundig den Zweck, die häusliche Pflege eines Schwerstbeschädigten sicherzustellen („Pflegeehe“), ist es im allgemeinen nicht vertretbar, diese Ehe zugleich als „Versorgungsehe“ zu diskriminieren.

Mit der in § 38 Abs. 2 BVG geschaffenen Neuregelung i.d.F. des 3. NOG vom 28. Dezember 1966 (BGBl. I 750) war eine vom Gesetzgeber beabsichtigte Angleichung an das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 594 Reichsversicherungsordnung - RVO -) und, abgesehen von der Frist, auch an das Beamtenrecht (§ 123 Abs. 1 Nr. 1 Bundesbeamtengesetz - BBG -; nunmehr § 19 Beamtenversorgungsgesetz - BeamtVG -) vollzogen. Der Anspruch sollte nicht mehr davon abhängig sein, ob besondere Umstände eine Hinterbliebenenversorgung rechtfertigen können (so § 38 Abs. 2 Halbsatz 2 BVG a.F.), sondern, ob nach den besonderen Umständen des Falles anzunehmen ist, daß die Ehe versorgungshalber geschlossen worden ist (BT-Drucks. V/1216 S. 7 zu Nr. 33 <§ 38> Buchstabe b). Rechtsgrund für die Versagung der Hinterbliebenenversorgung ist mithin die sogenannte Versorgungsehe. Nach der im Gesetz vorgegebenen Typisierung wird bei der Dauer einer Ehe von weniger als einem Jahr vermutet, daß die Ehe zum Zweck der Versorgung der Witwe geschlossen worden ist. Diese gesetzliche Vermutung verfolgt den Zweck, die Versorgungsbehörde der Ausforschung im Bereich der Intimsphäre zu entheben (BVerwGE 34, 149, 153 m.w.N.).

Nichts anderes gilt im Grundsatz auch für den Ausnahmetatbestand des § 38 Abs. 2 Halbsatz 2 BVG. Die besonderen Umstände, die die gesetzliche Annahme einer Versorgungsehe entkräften können, gebieten es nicht allgemein, in der privaten Lebenssphäre Ermittlungen anzustellen. Vielmehr ist vorrangig anhand aller vorhandenen objektiven Ermittlungsmöglichkeiten der Frage nachzugehen, ob entgegen der Vermutung doch nicht der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, der Witwe eine Versorgung zu verschaffen. Das in § 38 Abs. 2 Halbsatz 1 BVG sichtbare Bestreben des Gesetzgebers, die Versorgungsbehörde nicht „zu unerfreulichen und im Ergebnis unsicheren Ausforschungen im Bereich der privaten Lebenssphäre zu nötigen“, sie „nicht mit einer ihr wesensfremden Ausforschung der privaten Lebenssphäre des Ehemannes zu befassen“ (BVerwGE 34, 149, 153 m.w.N.), gilt gleichermaßen für die Widerlegung der Rechtsvermutung. Dem Erfordernis einer ausgewogenen Handhabung des Gesetzes Rechnung tragend soll tunlichst auch hier der Intimbereich unbehelligt bleiben.

Der Widerlegungstatbestand der „besonderen Umstände“, dessen Beurteilungsspielraum der richterlichen Kontrolle unterliegt (zu § 38 Abs. 2 BVG a.F.: BSGE 10, 51, 53; ebenso BSGE 27, 286, 287 = SozR Nr. 2; zu § 89 BVG: BSGE 31, 83, 84 = SozR Nr. 4 zu § 89 BVG), gebietet jedenfalls für Fallkonstellationen der zugrundeliegenden und ähnlicher Art eine typisierende Betrachtungsweise. Als Richtschnur dient dabei der Sinngehalt derjenigen einschlägigen Gesetzesvorschriften, die der besonderen Bedarfssituation des Beschädigten Rechnung tragen. Hierbei kommen in erster Linie § 10 Abs. 1 BVG sowie § 35 BVG in Betracht. Erstere Vorschrift weist der Versorgungsverwaltung den Weg, wie über die üblichen heilmedizinischen Maßnahmen hinaus alles erdenklich Notwendige zu tun ist, um den individuellen Bedürfnissen des Beschädigten gerecht zu werden. Der Gedanke der Rehabilitation hat in dieser Gesetzesvorschrift deutlichen Ausdruck gefunden, wenn es unter anderem heißt „... um den Beschädigten möglichst auf Dauer in Arbeit, Beruf und Gesellschaft einzugliedern“. Diese Neufassung des Gesetzes beruht auf Abschnitt 3 § 27 Nr. 2 Buchst. a des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (RehaAnglG) vom 7. August 1974 (BGBl. I 1881). Das gesetzliche Gebot einer möglichst weitgehenden Integration ist auch dem § 35 BVG zu entnehmen. Die Zubilligung einer Pflegezulage ermöglicht es gerade dem Beschädigten, trotz bestehender Hilflosigkeit i.S. des § 35 BVG und damit dem Angewiesensein auf fremde Hilfe (BSG SozR 3100 § 35 Nr. 8) in gewohnter häuslicher Umgebung zu verbleiben. Das bietet die Gewähr für eine den Belangen des Beschädigten angepaßte individuelle Behandlung und wirkt sich außerdem in der Regel positiv auf die Psyche des Beschädigten aus. Die häusliche Pflege hat eindeutig Vorrang. Nur wenn Pflege sonst nicht verschafft werden kann, werden gleichsam subsidiär die Kosten der nicht nur vorübergehenden Anstaltspflege übernommen (§ 35 Abs. 2 Satz 1 BVG).

In diesem Lichte besehen ist typisierend davon auszugehen, daß jedenfalls ein Beschädigter, der dauernd auf fremde Hilfe angewiesen ist und Pflegezulage erhält, mit der Heirat seine Wartung und Pflege sicherstellen möchte, um dadurch seine Lebenssituation eindeutig zu verbessern. Diese Erwartung, die der Beschädigte an die Eheschließung knüpft, basiert auf gesetzlicher Grundlage. Mit der Eheschließung obliegt dem Ehepartner die gesetzliche Verpflichtung, die eheliche Lebensgemeinschaft einzugehen (§ 1353 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB -), die als Wesensinhalt die Beistandspflicht in allen Lebenslagen beinhaltet (vgl. Palandt / Diederichsen, BGB, 45. Aufl., Anm. 2b dd; Wacke in: Münchener Kommentar zum BGB, Band 5, 1978 § 1353 RdNr. 3 und 26). Im Vergleich zu einer zur Verfügung stehenden fremden Pflegekraft erlangt der Beschädigte durch die Heirat unschätzbare Vorteile. Nicht nur, daß die Pflege keiner bestimmten zeitlichen Beschränkung mehr unterliegt, sondern in Notfällen rund um die Uhr sichergestellt ist, ist auch die Aufgabenzuweisung in keiner Weise mehr begrenzt.

Eine solche typisierende Betrachtungsweise ist jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn das Ableben des Beschädigten auf Grund seiner gesundheitlichen Verhältnisse zur Zeit der Eheschließung nicht in absehbarer Zeit zu erwarten ist, mithin die Ehe, wie es ihrem Wesen entspricht, auf unbegrenzte Zeit - auf Lebenszeit - geschlossen ist (§ 1353 Abs. 1 Satz 1 BGB). Voraussetzung ist allerdings, daß die Witwe nach der Heirat die eheliche Lebensgemeinschaft auch tatsächlich eingegangen ist.

Sind diese vorgenannten tatbestandlichen Voraussetzungen in der Person des Beschädigten erfüllt, ist ein etwa entgegengesetzter auf Versorgung gerichteter Beweggrund der späteren Witwe unbeachtlich. Das bestätigt der Wortlaut des § 38 Abs. 2 BVG, der auf den „alleinigen oder überwiegenden Zweck der Heirat“ abhebt. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat schon zu § 101 Deutsches Beamtengesetz (DBG) ausgesprochen, daß der Anspruch auf Witwengeld nicht entfalle, wenn die Annahme gerechtfertigt sei, daß mit der Heirat nur „von einem der Ehegatten“ der Zweck verfolgt worden sei, der Witwe den Bezug des Witwengeldes zu beschaffen; vielmehr verliere die Beamtenwitwe ihren Anspruch nur, wenn beide Ehegatten allein oder überwiegend mit der Eheschließung den Versorgungszweck verfolgten (BGHZ 12, 347 f). Auch das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) führt unter ausdrücklicher Bezugnahme auf diese Rechtsprechung an, daß die in § 123 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BBG enthaltene Vermutung in aller Regel dann widerlegt sei, wenn nachweislich für einen der Ehegatten die Absicht, der Witwe eine Versorgung zu verschaffen, nicht maßgebend gewesen sei (BVerwGE 25, 221, 224; BVerwG Buchholz 232 § 123 BBG Nr. 7).

Ausnahmen hiervon sind, worauf der 5. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BVerwG zu Recht hingewiesen hat (BSGE 35, 272, 274 f = SozR Nr. 2 zu § 594 ZPO), durchaus denkbar. Sie sind jedoch nur dann gegeben, wenn objektiv nachweisbare und gewichtige Umstände der vorgegebenen typisierenden Betrachtungsweise entgegenstehen. So etwa, wenn der Ehepartner den Beschädigten durch Ausnutzung einer Notlage oder Willensschwäche veranlaßt, die Ehe einzugehen. Dann dürfte auch zur endgültigen Klärung eine Befragung der Witwe unvermeidbar sein. § 38 Abs. 2 BVG zwingt indessen die Witwe nicht, ihre Beweggründe für die Eheschließung zu offenbaren (Zu § 594 RVO: BSGE 35, 272, 273 = SozR Nr. 2 zu § 594 RVO). Sie muß dann aber etwaige Rechtsnachteile in Kauf nehmen, wenn ein den Anspruch begründender Umstand - hier die Widerlegung der Rechtsvermutung - nicht festgestellt werden kann (Grundsatz der objektiven Beweislast: So ständige Rechtsprechung des BSG, u.a. BSGE 30, 278, 280 m.w.N. = SozR Nr. 84 zu § 128 SGG).

Unter diesen rechtlichen Gesichtspunkten wird das Berufungsgericht zu entscheiden haben, ob die testamentarischen Zuwendungen fünf Tage nach der Eheschließung sowie die, allerdings von der Revision bestrittene, fehlende wirtschaftliche Sicherung nach der Scheidung der ersten Ehe im Jahre 1963 wie auch die gemeindliche Auskunft geeignet sein können, die typischerweise gerechtfertigte Annahme einer „Pflegeehe“ zu widerlegen. Immerhin hatte der Beschädigte mit der Klägerin bereits die vierte Pflegerin engagiert. Auch hatte er schon seine frühere Pflegerin als Alleinerbin eingesetzt und seinem Sohn wegen dessen Verhaltensweise sogar den Pflichtteil entzogen. Deswegen, und weil die zunächst testamentarisch bedachte Erbin verstorben war, könnte es nahegelegen haben, seine Ehefrau als Erbin einzusetzen. Schließlich hat die Gemeinde ihre zunächst erteilte Auskunft, die Ehe sei versorgungshalber geschlossen worden, widerrufen. Wie es zu diesem Widerruf kam, ist bisher unaufgeklärt geblieben. Ob es nach alldem überhaupt noch auf die nicht unbestritten gebliebene Annahme des Berufungsgerichts einer fehlenden wirtschaftlichen Sicherung der Klägerin nach der Ehescheidung im Jahre 1963 ankommen kann, wird das LSG ebenfalls in die Überlegungen mit einzubeziehen haben.

Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

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