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5a RKn 2/85

Tatbestand

Die Klägerin begehrt Geschiedenenwitwenrente nach dem 1980 verstorbenen Versicherten, mit dem sie von 1951 bis 1963 verheiratet war, der aber 1969 eine zweite Ehe mit der Beigeladenen einging. Die Ehe der Klägerin wurde aus alleinigem Verschulden des Versicherten geschieden. Die Klägerin war zur Zeit der Scheidung nicht erwerbstätig. Von 1966 bis zum 30. September 1980 arbeitete sie als Verkäuferin und bezieht (rückwirkend ab 1. April 1979) Altersruhegeld, das zur Zeit des Todes des Versicherten 675,90 DM monatlich betrug.

Der Versicherte hatte am 8. Oktober 1963 zu notariellem Protokoll erklärt, er verpflichte sich, seiner geschiedenen Frau ab 1. November 1963 einen monatlichen Unterhalt von 320,00 DM bis zu ihrer Wiederverheiratung oder ihrem Ableben zu zahlen. Dabei gehe er davon aus, daß er zur Zeit ein monatliches Nettoeinkommen von 1.030,00 DM habe und seine geschiedene Frau monatlich bis zu 250,00 DM netto verdienen könne. Der ab 1. Februar 1956 versicherungsfreie Versicherte hatte ab Dezember 1968 Knappschaftsruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres - zZt. seines Todes in Höhe von 1.485,10 DM - bezogen. Nach den Angaben der Klägerin hat ihr der Versicherte in den letzten beiden Jahren vor seinem Tod keinen regelmäßigen Unterhalt mehr geleistet.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 19. Januar 1981 den Hinterbliebenenrentenantrag der Klägerin ab, weil der Versicherte ihr zZt. des Todes weder nach den Vorschriften des Ehegesetzes noch aus sonstigen Gründen unterhaltspflichtig gewesen sei, noch im letzten Jahr vor seinem Tod Unterhalt geleistet habe. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 7. April 1981). Die Klage hat das Sozialgericht (SG) Gießen mit Urteil vom 24. April 1984 abgewiesen, weil die Klägerin im letzten Jahr vor dem Tode des Versicherten bei einem Einkommen in Höhe von monatlich etwa 2.000,00 DM brutto nicht unterhaltsbedürftig gewesen sei. Die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen mit Urteil vom 20. Dezember 1984 zurückgewiesen. Es ist zwar davon ausgegangen, daß das Arbeitseinkommen der Klägerin nach Vollendung des 65. Lebensjahres aus unzumutbarer Erwerbstätigkeit erzielt worden sei; gleichwohl müsse aus Billigkeitsgründen - abweichend von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) - ein Teil dieses Einkommens neben der Rente bei Prüfung der Unterhaltsbedürftigkeit angerechnet werden. Bei einem Unterhaltsanspruch der Klägerin von höchstens 188,00 DM (40 % von 1.485,00 DM plus 676,00 DM, vermindert um 676,00 DM = 188,00 DM) und einem nach Billigkeit darauf anzurechnenden Anteil von nur etwa 15 % des unzumutbar erzielten Arbeitseinkommens (bei mindestens 1.400,00 DM monatlich netto = 210,00 DM) verbleibe kein Unterhaltsbedarf.

Mit der zugelassenen Revision rügt die Klägerin, das LSG habe gegen allgemeine Erfahrungssätze, insbesondere gegen die Notwendigkeit beiderseitiger Interessenabwägung verstoßen und § 1577 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) verletzt, wenn es das unzumutbar erzielte Erwerbseinkommen in der Frage ihrer Unterhaltsbedürftigkeit berücksichtigt habe. Sie ist der Auffassung, ihr habe aus dem Anerkenntnis des Versicherten vom 8. Oktober 1963 im Zeitpunkt seines Todes ein Unterhaltsanspruch zugestanden. Deshalb habe sie gemäß § 65 Reichsknappschaftsgesetz (RKG) Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente ab Antragstellung.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

  • die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide und der Urteile der Vorinstanzen zu verurteilen, ihr Hinterbliebenenrente zu gewähren.

Die Beklagte und die Beigeladene beantragen,

  • die Revision zurückzuweisen.

Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.

Der Anspruch der Klägerin als früherer Ehefrau des Versicherten auf Hinterbliebenenrente hängt, weil nach dem Versicherten eine Witwenrente zu gewähren ist, gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 RKG allein davon ab, ob der Versicherte der Klägerin zZt. seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte oder im letzten Jahr vor seinem Tode geleistet hat. Letzteres trifft nach den insoweit von der Revision nicht beanstandeten und daher gemäß § 163 SGG für den Senat bindenden Feststellungen des LSG nicht zu. Die Frage, ob der Versicherte der Klägerin zZt. seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes oder aus der Verpflichtungserklärung vom 8. Oktober 1963 zu leisten hatte, vermag der Senat aufgrund der vom LSG getroffenen Feststellungen nicht abschließend zu beurteilen.

Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß für die Beurteilung der Frage, was als der nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten angemessene Unterhalt der geschiedenen Frau i.S. des § 58 Abs. 1 des EheG anzusehen ist, die Lebensverhältnisse der früheren Ehegatten zZt. der Scheidung maßgebend sind. In der Regel sind, wie das BSG bereits mit Urteil vom 28. November 1963 (SozR RVO § 1265 Nr. 16) entschieden hat, je nach den Besonderheiten des Einzelfalles 1/3 bis 1/4 des Nettoeinkommens des Mannes zZt. der Scheidung als angemessener Unterhalt der Frau anzusehen. Da das LSG von der Revision unbeanstandet festgestellt hat, daß die Klägerin zZt. der Scheidung nicht erwerbstätig war und erst drei Jahre nach der Ehescheidung eine Tätigkeit als Verkäuferin angenommen hat, liegt der vom BSG wiederholt entschiedene Fall von Einkünften beider Ehegatten im Zeitpunkt der Scheidung (vgl. BSGE 52, 83, 85 m.w.N.), hier nicht vor.

Zutreffend ist das LSG auch davon ausgegangen, daß im vorliegenden Fall - anders als in der zuletzt zitierten Entscheidung - eine „Projektion“ des angemessenen Unterhaltsbetrages zZt. der Scheidung auf die Zeit des Todes der Versicherten nicht entfallen kann, weil die individuelle Einkommensentwicklung weder beim Versicherten noch bei der Klägerin der allgemeinen Entwicklung entsprochen hat. Von diesem Ausgangspunkt aus durfte sich das LSG jedoch nicht damit begnügen, auf Seiten des Versicherten, der nach der ebenfalls nicht beanstandeten Feststellung ab 1. Februar 1956 versicherungsfrei war, als Einkommen nur das ihm seit Dezember 1968 gewährte Knappschaftsruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres von 1.485,10 DM zZt. seines Todes anzusehen. Beruhte nämlich dieses Einkommen nur auf den bis zum Februar 1956 entrichteten Beiträgen des Versicherten, so blieb hinsichtlich des Umfangs der beim Versicherten zZt. seines Todes bestehenden Unterhaltsfähigkeit zu klären, ob er sich aus den seit Februar 1956 ersparten Beiträgen eine anderweitige zusätzliche Alterssicherung - sei es in Form von Erträge abwerfenden Sachwerten, von Spareinlagen oder von Leistungen einer privaten Versicherung - beschafft hatte. Hierauf kam es für die Entscheidung des LSG schon deshalb an, weil der Versicherte möglicherweise auch seiner zweiten Ehefrau Unterhalt zu leisten hatte. Wenn das LSG bei Berechnung der Unterhaltsquote der Klägerin von der Summe des Renteneinkommens des Versicherten und der Klägerin ausgegangen ist, so folgt daraus nicht ohne ausdrückliche Feststellung, daß der Versicherte in dem für den Rentenanspruch der Klägerin maßgeblichen wirtschaftlichen Zeitraum vor seinem Tode kein weiteres Einkommen hatte. Jedenfalls ist nach dem Inhalt des angefochtenen Urteils nicht auszuschließen, daß das LSG die Rechtserheblichkeit von Ermittlungen in der genannten Richtung verkannt und deshalb unterlassen hat. Der Senat vermag aus diesem Grunde die hier erforderliche Projektion des angemessenen Unterhalts der Klägerin zZt. der Scheidung auf die Zeit des Todes des Versicherten nicht vorzunehmen. Diese ist vielmehr erst möglich, wenn feststeht, ob und ggf. in welcher Höhe der Versicherte neben dem bereits erwähnten Renteneinkommen während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor seinem Tode anderweitiges Einkommen hatte oder nicht, und wenn geklärt ist, ob und inwieweit er seiner zweiten Ehefrau in dieser Zeit unterhaltspflichtig war. Zur Nachholung dieser Feststellungen, die dem Revisionsgericht versagt sind, muß der Rechtsstreit daher an die Vorinstanz zurückverwiesen werden.

Bei der erneuten Entscheidung über die Berufung der Klägerin wird das LSG zweierlei zu beachten haben. In erster Linie wird zu berücksichtigen sein, daß bei Prüfung der Unterhaltspflicht nach dem EheG Erwerbseinkommen aus unzumutbarer Tätigkeit bei keinem der geschiedenen Ehepartner Berücksichtigung finden kann. Wie der 1. Senat des BSG im Urteil vom 30. Mai 1978 (SozR 2200 § 1265 Nr. 33 = BSGE 46, 214) eingehend begründet hat, legen die renten- versicherungsrechtlichen Bestimmungen über die Altersgrenze auch zivilrechtlich/unterhaltsrechtlich die Altersgrenze fest (a.a.O. S. 217). Die dort dargelegten Erwägungen müssen um so mehr Geltung beanspruchen, wenn es sich - wie hier - um die Altersgrenze von 65 Jahren handelt. Der Senat weist darauf hin, daß der Gesichtspunkt der Billigkeit, unter dem das LSG der von ihm zitierten Rechtsprechung des BSG nicht folgen will, gerade in dieser Rechtsprechung entscheidend dafür gewesen ist, ob Einkommen aus unzumutbarer Erwerbstätigkeit - sowohl beim Unterhaltspflichtigen als auch beim Unterhaltsberechtigten - bei Bemessung des Unterhaltsanspruchs zu berücksichtigen war. Wenn im Interesse einer praktikablen Beurteilung dieser Frage, die Berücksichtigung des jenseits der Altersgrenze erzielten Arbeitseinkommens für unbillig erachtet worden ist, so besteht kein Anlaß, diesen Grundsatz wiederum mit Billigkeitserwägungen zu durchbrechen. Deshalb kann weder einer geschiedenen Ehefrau, die bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres einer Erwerbstätigkeit nachgegangen war, danach ein fiktives Einkommen für die Bemessung ihres Unterhaltsanspruchs angerechnet werden (so BSG a.a.O.) noch bei der Klägerin, die nach Vollendung ihres 65. Lebensjahres noch Arbeitseinkommen erzielt hat, ein Teil dieses Einkommens bei Bemessung ihres Unterhaltsanspruchs berücksichtigt werden. Hinzu kommt, daß unter dem Gesichtspunkt der Billigkeit eine Anrechnung jedenfalls dann nicht stattfinden kann, wenn der Unterhaltsberechtigte auch durch das Verhalten des Unterhaltsverpflichteten - etwa die Nichtzahlung von Unterhalt - zur Fortsetzung der Erwerbstätigkeit über die Altersgrenze hinaus bewegt worden ist. Insoweit steht der pauschalen Feststellung des LSG, es hätten sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, daß das Arbeitseinkommen der Klägerin aufgrund ihrer Tätigkeit als Verkäuferin aus Gründen der Billigkeit gänzlich unberücksichtigt bleiben sollte, die präzise Feststellung des LSG entgegen, der Versicherte habe der Klägerin im Jahr vor seinem Tode keinen Unterhalt geleistet, weil er nach den Angaben der Klägerin in den letzten beiden Jahren vor seinem Tod krank gewesen sei.

Das LSG wird bei Feststellung der Unterhaltsfähigkeit des Versicherten im letzten wirtschaftlichen Dauerzeitraum vor seinem Tode einerseits alle ihm für den Unterhalt verfügbaren Einkünfte festzustellen und dabei insbesondere der Frage nachzugehen haben, welche zusätzliche Alterssicherung sich der Versicherte aus den seit Februar 1956 ersparten Versicherungsbeiträgen aufgebaut hat. Sodann wird das LSG feststellen müssen, ob und ggf. in welchem Ausmaß die Unterhaltsfähigkeit des Versicherten durch einen Unterhaltsbedarf seiner zweiten Ehefrau - der Beigeladenen - beansprucht worden ist. Dazu werden Feststellungen erforderlich sein, ob und ggf. in welcher Höhe die Beigeladene während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor dem Tod des Versicherten ein ihr zumutbares und damit auf einen Unterhaltsanspruch anrechenbares Einkommen erzielt hat. Erst anhand dieser Feststellungen wird das LSG entscheiden können, inwieweit der Versicherte der Klägerin gegenüber im maßgeblichen Zeitraum vor seinem Tode unter Berücksichtigung eines etwaigen besonderen krankheitsbedingten Aufwandes unterhaltsfähig war. Diesem Ergebnis ist sodann die von der Klägerin bezogene Rente von 675,90 DM, nicht aber ihr nach Vollendung des 65. Lebensjahres erzieltes Arbeitseinkommen, - ebenfalls unter Berücksichtigung etwaiger besonderer krankheitsbedingter Aufwendungen - gegenüberzustellen. Ergibt sich dabei ein dem Versicherten zumutbarer Unterhaltsbedarf der Klägerin, der 25 % des vom LSG festgestellten Sozialhilferegelsatzes erreicht, ist der Anspruch der Klägerin auf Rente als frühere Ehefrau des Versicherten nach § 65 Abs. 1 RKG begründet. Trifft das nicht zu, ist das Urteil des SG im Ergebnis zu bestätigen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.

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