4a RJ 9/85
Tatbestand
Die Klägerin begehrt vorgezogenes Altersruhegeld; streitig ist, ob sie die Altersvoraussetzung erfüllt.
Die Klägerin, türkische Staatsangehörige, ist nach der ursprünglichen Eintragung im Personenstandsregister von Istanbul-E am 1. Mai 1931 in Istanbul geboren. Seit Mai 1965 lebt sie in Berlin (West); von diesem Zeitpunkt an bis mindestens November 1982 sind für sie Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter entrichtet.
Im April 1979 klagte die Klägerin vor dem Amtsgericht E/Türkei auf Berichtigung ihres Geburtsdatums. Dem entsprach das Gericht mit Urteil vom 8. Mai 1979 und ordnete eine Berichtigung des Personenstandsregisters Istanbul/E dahin an, daß als Geburtsdatum der Klägerin der 1. Mai 1920 einzutragen sei. In der Begründung stützt sich das Gericht auf ein Untersuchungsattest eines Fachärzteausschusses eines Krankenhauses in H, in dem „Nerven und Verstand“ der Klägerin „entsprechend dem Alter von 59 bis 60“ bewertet sind.
Im November 1982 beantragte die Klägerin bei der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) vorgezogenes Altersruhegeld für weibliche Versicherte wegen Vollendung des 60. Lebensjahres. Die Beklagte lehnte mit dem streitigen Bescheid vom 19. Januar 1983 den Antrag mit der Begründung ab, die am 1. Mai 1931 geborene Klägerin vollende das 60. Lebensjahr erst am 30. April 1991.
Das Sozialgericht (SG) hat der Klage mit Urteil vom 5. Juni 1984 stattgegeben, das Landessozialgericht (LSG) hat sie auf die Berufung der Beklagten abgewiesen. Nach Ansicht des LSG kann das Urteil des türkischen Amtsgerichts nicht anerkannt werden, so daß von der ursprünglichen Eintragung ausgegangen werden müsse. Eine Anerkennung dieses Urteils sei in entsprechender Anwendung von § 328 Abs. 1 Nr. 4 der Zivilprozeßordnung (ZPO) ausgeschlossen, weil das Verfahren des türkischen Gerichts mit dem Amtsermittlungsprinzip des § 12 des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG) nicht zu vereinbaren sei; die Entscheidung sei allein auf ein medizinisches Sachverständigengutachten gestützt, das nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ein untaugliches Beweismittel darstelle. Aus dem Übereinkommen betreffend die Entscheidungen über die Berichtigung von Einträgen in Personenstandsbüchern (Zivilstandsregister) vom 10. September 1964 (BGBl. 1969 II 445, 446) folge keine Bindung an das Urteil des Amtsgerichts E. Dieses Übereinkommen beziehe sich allein auf die Wirksamkeit und die Vollziehung von Berichtigungsentscheidungen; darum handele es sich hier nicht, Daten der Klägerin seien in keinem deutschen Personenstandsbuch enthalten. Damit sei die ursprüngliche Entscheidung des Geburtsdatums für das LSG bindend, so daß auch keine Ermittlungen hinsichtlich der Richtigkeit dieser Eintragung anzustellen seien.
Das LSG hat in dem Urteil die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen; allein im Bereich von Berlin (West) der Kindergeldkasse seien in bezug auf türkische Staatsangehörige rund 200 Fälle von Berichtigungen des Geburtsdatums durch türkische Gerichte bekannt geworden.
Mit der Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von Art. 2 des Übereinkommens vom 10. September 1964 und von § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Nach der erstgenannten Vorschrift seien die Behörden und Gerichte der Bundesrepublik an die Berichtigungsentscheidung gebunden, sofern diese nicht unrichtig sei; eine solche Unrichtigkeit habe das LSG nicht festgestellt und nicht feststellen können. Außerdem habe es das LSG zu Unrecht unterlassen, weitere Ermittlungen anzustellen, insbesondere Schwestern der Klägerin als Zeugen zu hören.
Die Klägerin beantragt,
- das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 17. Dezember 1984 aufzuheben und die Beklagte und Revisionsbeklagte zu verurteilen, ihr Altersruhegeld ab 1. November 1982 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
- die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, Art. 2 des von der Klägerin genannten internationalen Übereinkommens ergebe eindeutig, daß die angesprochenen Berichtigungs-Entscheidungen Auswirkungen auf die Personenstandsbücher eines anderen Vertragsstaates haben müßten. Das sei vorliegend nicht der Fall. Die Personaldaten der Revisionsklägerin hätten in keinem Register der Bundesrepublik Deutschland Niederschlag gefunden. Zu Recht habe das LSG das Übereinkommen daher nicht für anwendbar gehalten. § 328 ZPO finde nicht direkte, sondern entsprechende Anwendung. Die Klägerin verkenne, daß selbst bei Anwendung des genannten Übereinkommens eine Überprüfung ausländischer Entscheidungen möglich sei. Das LSG habe das Urteil des türkischen Amtsgerichts E unter dem Gesichtspunkt des ordre public völlig zutreffend gewürdigt und seine Pflicht zur Amtsermittlung nicht verletzt.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung für einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.
Nach § 1248 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) i.d.F. des Rentenreformgesetzes (RRG) vom 16. Dezember 1972 (BGBl. I S 1965) erhält auf Antrag Altersruhegeld die Versicherte, die das 60. Lebensjahr vollendet und die Wartezeit nach Abs. 7 Satz 2 erfüllt hat, wenn sie in den letzten 20 Jahren überwiegend eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat. Bislang steht nicht fest, daß die Klägerin bereits das 60. Lebensjahr vollendet hat.
Für die Berechnung von Fristen und für die Bestimmung von Terminen gelten nach § 26 Abs. 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) die §§ 187 bis 193 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) entsprechend. Das 60. Lebensjahr vollendet hiernach die Klägerin mit dem Ablauf des dem 61. Geburtstag vorhergehenden Tages; hierbei zählt der erste Geburtstag als der Tag der Geburt (BSG in SozR Nr. 13 zu § 1290 RVO). Für den Fristbeginn ist mithin der Tag der Geburt der Klägerin zu ermitteln. Diese Ermittlung begegnet im vorliegenden Fall Schwierigkeiten.
Im - “inländischen“ - Regelfall beweist das Geburtsbuch (§§ 2 Abs. 2, 16 ff. des Personenstandsgesetzes - PStG - i.d.F. der Bekanntmachung vom 8. August 1957 - BGBl. I S. 1125) als Personenstandsbuch den Tag der Geburt (§§ 1 Abs. 2, 60 Abs. 1 Satz 1 PStG); die Personenstandsurkunden, zu denen der Geburtsschein und die Geburtsurkunde gehören (§§ 61a, 61c, 62 PStG), haben dieselbe Beweiskraft wie die Personenstandsbücher (§ 66 a.a.O.). Dieser auf Eintragungen in Personenstandsbücher gestützte Beweis kann im Falle der in der Türkei als türkische Staatsangehörige geborenen Klägerin nicht geführt werden. Die nach § 51 PStG im staatlichen Auftrag von den Standesbeamten der deutschen Gemeinden für diesen zugeordnete innerstaatliche Standesamtsbezirke geführten Personenstandsbücher beurkunden nur innerstaatliche Personenstandsfälle. „Die Personenstandsbuchführung (ist) immer vom Territorialitätsprinzip beherrscht; die deutschen Standesregister geben lediglich Auskunft über Standesfälle, die im Deutschen Reich eingetragen sind“ (so die Amtliche Begründung zum PStG vom 3. November 1937, Deutscher Reichsanzeiger, Preußischer Staatsanzeiger Nr. 258 vom 8. November 1937 Nr. II Buchst. b; vgl. dazu auch § 69c PStG und § 61 der Durchführungsverordnung - PStV - vom 12. August 1957 - BGBl. I 1139 i.d.F. vom 25. Februar 1977 - BGBl. I 377; zum Standesfall eines Deutschen im Ausland vgl. aber § 41 PStG). Demgemäß gilt die Beweiskraft der §§ 60 Abs. 1 Satz 1, 66 PStG nicht für eine ausländische Geburtsurkunde; ihr Inhalt unterliegt im Gerichtsverfahren - nicht anders als ihre Echtheit (vgl. § 438 ZPO) - freier richterlicher Beweiswürdigung und in einem vorangegangenen Verwaltungsverfahren der freien Würdigung der zuständigen Verwaltungsbehörde (allgemeine Meinung, vgl. Pfeiffer / Strickert, PStG, 1966, § 66 Anm. 2; Massfeller / Hoffmann, PStG, Stand 1985, Bd. III, § 66 RdNr. 14 und 15). Die der Beklagten über die Klägerin vorliegenden türkischen Geburtsnachweise entsprechen nicht den Anforderungen des Art. 2 Abs. 1 des Übereinkommens über die Erteilung gewisser für das Ausland bestimmter Auszüge aus Personenstandsbüchern vom 27. September 1956 (BGBl. II 1961 S. 1055, für die Bundesrepublik in Kraft ab 23. Dezember 1961 - BGBl. II 1962 S. 42). Auch wenn dies der Fall wäre, hätten sie für die deutschen Behörden und Gerichte nur die Beweiskraft einer ausländischen, einer türkischen, nicht einer deutschen öffentlichen Urkunde (Art. 5 a.a.O.). Art. 2 Abs. 1 des Übereinkommens betreffend die Entscheidungen über die Berichtigung von Eintragungen in Personenstandsbüchern (Zivilstandsregister) vom 10. September 1964 (BGBl. II 1969, S. 445 und 446, in Kraft ab 25. Juli 1969 - BGBl. 1969 II S. 2054) kann die Klägerin ebenfalls nicht begünstigen: Bislang ist keine die Geburt der Klägerin betreffende Eintragung aus einem türkischen Personenstandsregister in ein deutsches Personenstandsbuch übernommen worden. Bei dieser Sachlage bedarf keiner Erörterung, daß nach § 60 Abs. 2 Satz 1 PStG auch gegen die Eintragung der Geburt in einem Personenstandsbuch der Nachweis der Unrichtigkeit zulässig ist (vgl. dazu insbesondere BSG in SozR 5870 § 2 Nr. 40).
Schließlich bindet auch das Urteil des türkischen Amtsgerichts E vom 8. Mai 1979 die deutschen Behörden und Gerichte nicht. Dieses Urteil ordnet eine Berichtigung des in I./E geführten türkischen Personenstandsregisters an. Dieses türkische Urteil kann keine weitergehenden Wirkungen haben als die aufgrund dieses Urteils berichtigte Eintragung im türkischen Personenstandsregister selbst (so zutreffend BSG a.a.O.; Pfeiffer / Strickert, a.a.O., § 49 RdNr. 12). Eine Untersuchung der Frage, ob dem Urteil des Amtsgerichts E in Anwendung von § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO die innerstaatliche Anerkennung zu versagen ist, ist daher nicht veranlaßt.
Unterliegt bei fehlender Bindung einer - berichtigten - Eintragung in ein türkisches Personenstandsbuch die Feststellung des Tags der Geburt der Klägerin der freien Beweiswürdigung der deutschen Behörden und Gerichte, so kann die Auffassung des LSG nicht zutreffen, es sei - wenn auch nicht an die berichtigte zweite, so doch - immerhin an die erste „ursprüngliche Eintragung gebunden“. Beide Eintragungen sind in bezug auf ihre Beweiskraft, die sie in der Bundesrepublik entfalten, gleich zu beurteilen.
Danach mußte auf die Revision der Klägerin das angefochtene Urteil aufgehoben und dem LSG durch Zurückverweisung der Sache Gelegenheit gegeben werden, den Geburtstag der Klägerin - und sodann die Vollendung des 60. Lebensjahres - aufgrund freier Beweiswürdigung festzustellen. Dabei wird das LSG davon ausgehen können, daß von mehreren dasselbe Ereignis beurkundenden Akten demjenigen, der dem Ereignis zeitlich näher liegt, in der Regel höhere Beweiskraft wird zugemessen werden können als demjenigen, der dem Ereignis zeitlich - gegebenenfalls erheblich - ferner liegt. Ferner wird das LSG in Betracht ziehen dürfen, daß eine auffallend hohe Zahl nachträglicher Berichtigungen ausländischer Geburtseinträge in Fällen, in denen dies Leistungsbewerbern in der Bundesrepublik günstig erscheinen kann, eine besonders sorgfältige Prüfung rechtfertigt und verlangt.
Die Entscheidung im Kostenpunkt war der Endentscheidung in der Sache vorzubehalten.