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5b RJ 26/85

Tatbestand

Der Kläger, Verfolgter im Sinne des § 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG), begehrt von der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aufgrund von Versicherungszeiten, die er in der Tschechoslowakei zurückgelegt hat.

Der 1916 in T./Tschechoslowakei geborene Kläger, vor dem Krieg tschechoslowakischer und heute israelischer Staatsangehöriger, lebte bis etwa 1935 in seinem Heimatort und danach bis 1939 in P. Nach seinen Angaben arbeitete er dort bis 1939 als kaufmännischer Angestellter; doch wurden die für ihn entrichteten Beiträge zur tschechoslowakischen Rentenversicherung der Arbeiter erbracht. Im November 1939 wanderte er nach Palästina aus.

Im Juli 1974 beantragte er bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte mit der Begründung ab, dem Kläger fehlten die notwendigen Versicherungszeiten. Da er nicht dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört habe, könnten die tschechoslowakischen Zeiten ihm in der Bundesrepublik nicht angerechnet werden (Bescheid vom 25. November 1977; Widerspruchsbescheid vom 22. April 1980). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 29. Juli 1982). Der Kläger habe nicht dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung mit der Begründung zurückgewiesen, der Kläger könne zwar möglicherweise dem deutschen Sprach- und Kulturkreis zuzurechnen sein, doch habe er nicht deswegen die Tschechoslowakei verlassen. Da er bereits 1939 ausgewandert sei, könne er nicht Vertriebener sein und damit nicht zu dem durch das Fremdrentengesetz (FRG) begünstigten Personenkreis gehören (Urteil vom 27. Juli 1984).

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 15 FRG, 20 Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG), 1, 6 Bundesvertriebenengesetz (BVFG). Er sei, obwohl er schon 1939 die Tschechoslowakei verlassen habe, Vertriebenen gleichzustellen.

Er beantragt,

  • das angefochtene Urteil, das Urteil des SG Düsseldorf vom 29. Juli 1982 sowie die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine Versichertenrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

  • die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Sie ist der Auffassung, daß ein Verfolgter, der das Vertreibungsgebiet vor 1945 verlassen habe, zwar nach § 1 Abs. 2 Ziffer 1 BVFG Vertriebener sein könne, wenn er dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört habe. Doch sei das beim Kläger nicht der Fall.

Entscheidungsgründe

Auf die Revision des Klägers ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 S. 2 SGG). Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus.

Der Kläger begehrt von der Beklagten Erwerbsunfähigkeits- hilfsweise Berufsunfähigkeitsrente. Erwerbsunfähigkeitsrente erhält der Versicherte, der die Wartezeit erfüllt hat und erwerbsunfähig ist (§ 1247 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung -RVO-). Die Wartezeit ist erfüllt, wenn vor dem Eintritt der Erwerbsunfähigkeit eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten oder vor der Antragstellung eine Versicherungszeit von 240 Kalendermonaten zurückgelegt ist (§ 1247 Abs. 3 S. 1 RVO). Das LSG hat bereits die Erfüllung der Wartezeit verneint. Ob Erwerbsunfähigkeit vorliegt, hat es daher nicht mehr geprüft.

Der Kläger hat allerdings keine deutschen Versicherungszeiten. Nach § 15 FRG stehen aber Beitragszeiten, die bei einem nicht-deutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegt sind, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich. Davon, daß der Kläger vor 1939 in der Tschechoslowakei bei einem dortigen gesetzlichen Träger der Rentenversicherung Pflichtversicherungszeiten zurückgelegt hat, ist das LSG in tatsächlicher Hinsicht ausgegangen.

Die Anwendung des § 15 FRG zugunsten des Klägers setzt aber voraus, daß er zu dem durch das FRG begünstigten Personenkreis des § 1 FRG gehört. Da der Kläger nicht Deutscher ist, könnte er nur einem Vertriebenen gleichgestellt sein (§§ 1 Buchst. a FRG; 1, 6 BVFG; 20 WGSVG). Nach § 1 Buchst. a FRG gilt das FRG für Vertriebene. Vertriebene sind u.a. deutsche Volkszugehörige, die durch Vertreibung ihren Wohnsitz außerhalb der Grenzen des deutschen Reiches verloren haben. Die Tschechoslowakei gehört zu den in § 1 BVFG erfaßten Vertreibungsgebieten. Deutscher Volkszugehöriger ist nur, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird (§ 6 BVFG). Für die Verfolgten des nationalsozialistischen Regimes, zu denen das LSG den Kläger aufgrund seiner Tatsachenwürdigung rechnet, genügt es nach § 20 WGSVG, wenn sie dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört haben. Denn von ihnen war ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum unter den Bedingungen der Verfolgung nicht möglich und später war es aus verständlichen Gründen von ihnen nicht zu erwarten.

Ob der Kläger - jedenfalls vor der Verfolgung, was ausreichend ist (BSG SozR 5070 § 20 Nr. 2) - dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört hat, ist vom LSG letztlich offen gelassen worden, weil es insoweit nur zum Ausdruck gebracht hat, daß es zu einer Bejahung dieser Frage „neige“. Das LSG ist dabei davon ausgegangen, daß ein Verfolgter, der bereits 1939 die Tschechoslowakei verlassen habe, nicht von den Vertreibungsmaßnahmen betroffen gewesen sein könne, die erst 1945 eingesetzt hätten. Der Kläger könne deshalb kein Verfolgter sein, der auch noch vertrieben worden sei. Das ist jedoch in dieser Form nicht richtig. Nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 BVFG ist Vertriebener auch, wer nach dem 30. Januar 1933 die späteren Vertreibungsgebiete verlassen und seinen Wohnsitz außerhalb des deutschen Reiches genommen hat, weil aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen gegen ihn verübt worden sind oder ihm drohten. Sinn und Zweck des § 1 Abs. 2 Nr. 1 BVFG ist es, die Anerkennung als Vertriebener solchen Personen nicht zu versagen, die nur deshalb nicht unter § 1 Abs. 1 BVFG fallen, weil sie schon aufgrund drohender nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen vor der allgemeinen Vertreibung ihre Heimat zwangsweise verlassen mußten. Die Bestimmung des § 1 Abs. 2 Nr. 1 BVFG gilt deshalb nur für Verfolgte, die unter § 1 Abs. 1 BVFG gefallen wären, wenn sie nicht schon vor der Vertreibung der Deutschen ausgewandert wären. Sie findet deshalb nur für solche Gebiete Anwendung, aus denen der Verfolgte als Deutscher ohne Rücksicht auf seine Gegnerschaft zum Nationalsozialismus vertrieben worden wäre, wenn er nicht schon vorher aufgrund nationalsozialistischer Zwangsmaßnahmen ausgewandert wäre (Bundesgerichtshof - BGH - RzW 1960, 35; 1960, 85; 1961, 464; 1962, 37; 1963, 76; 1970, 503; 1975, 239). Da in der Sozialversicherung Verfolgte, die dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört haben, deutschen Volkszugehörigen gleichstehen (§ 20 WGSVG), ist es für den Kläger entscheidend, ob er als Angehöriger des deutschen Sprach- und Kulturkreises - sofern dieses Merkmal bei ihm bejaht wird - in Zusammenhang mit den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges (§ 1 Abs. 1 BVFG) aus der Tschechoslowakei vertrieben worden wäre. Für Gebiete, in denen eine Kollektivvertreibung der Deutschen stattgefunden hat, ist davon auszugehen, daß ein deutscher Staatsangehöriger oder Volkszugehöriger ohne die vorherige Auswanderung das Schicksal der Vertreibung erlitten hätte (BGH RzW 1975, 239, 240). Das muß auch, da bei einer Kollektivvertreibung Differenzierungen kaum vorgenommen wurden, für Angehörige des deutschen Sprach- und Kulturkreises gelten.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

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