5a RKn 23/84
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die von der Beklagten ab März 1979 zuerkannte Erwerbsunfähigkeitsrente schon ab 1. Januar 1975.
Die 1906 geborene Klägerin beantragte erstmals 1965 bei der Saarknappschaft Versichertenrente. Die Knappschaft stellte nur 59 Kalendermonate Versicherungszeit fest. Die von der Klägerin weiterhin geltend gemachten drei Monate Ersatzzeit wegen Schanzeinsatzes von September 1944 bis November 1944 erkannte sie nicht an (Bescheid vom 30. August 1965; Widerspruchsbescheid vom 1. April 1966).
Mit einem am 27. März 1979 bei der Beklagten eingegangenen Schreiben vom 6. März 1979 bat die Klägerin um Überprüfung der früheren Entscheidungen und Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte zunächst eine Änderung der früheren Entscheidungen ab (Bescheid vom 17. April 1979), erkannte jedoch mit Widerspruchsbescheid vom 9. Juni 1980 an, daß die Wartezeit von 60 Kalendermonaten erfüllt sei, weil die Zeit des Schanzeinsatzes von September 1944 bis November 1944 (drei Monate) als Ersatzzeit zusätzlich zu berücksichtigen sei.
Der sozialmedizinische Dienst der Beklagten stellte sodann fest, daß die Klägerin mindestens seit Dezember 1974 nicht mehr in der Lage gewesen sei, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die Beklagte hat darauf der Klägerin die Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit auf der Grundlage eines Versicherungsfalles vom 31. Dezember 1974 ab 1. März 1979 gewährt (Bescheid vom 2. September 1980; Widerspruchsbescheid vom 5. März 1981). Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit „unter Zugrundelegung eines Versicherungsfalles vom Dezember 1974“ zu gewähren (Urteil vom 16. November 1982). Das Landessozialgericht (LSG) hat die vom SG zugelassene Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Beklagte zur Rentengewährung ab 1. Januar 1975 verpflichtet ist: Die Beklagte müsse aus dem Gesichtspunkt des Herstellungsanspruches die Klägerin so stellen, als habe sie im Dezember 1974 einen Rentenantrag wegen Erwerbsunfähigkeit gestellt. Hätte die Klägerin nämlich 1965 eine richtige Auskunft über ihre Wartezeit erhalten, hätte sie mit Gewißheit später bei weiterer Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes, wahrscheinlich also schon 1974, weitere Rentenanträge gestellt (Urteil vom 17. Juli 1984).
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung materiellen Rechts. Grundlage des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sei eine unrichtige, mißverständliche oder unvollständige Auskunft oder Beratung des Versicherungsträgers. Vorliegend sei jedoch keine Auskunft erteilt, sondern ein Verwaltungsakt erlassen worden.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
- das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 16. November 1982 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
- die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist zurückzuweisen. Zu Recht hat das Berufungsgericht entschieden, daß der Klägerin bereits ab 1. Januar 1975 ein Anspruch auf Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit (§ 47 Reichsknappschaftsgesetz - RKG -) zusteht.
Die Voraussetzungen der Erwerbsunfähigkeitsrente liegen unstreitig zugunsten der Klägerin seit 1974 vor. Streitig ist nur, ob wegen des späteren Antrags auch die Rente später beginnt. Nach § 82 Abs. 2 RKG ist die Erwerbsunfähigkeitsrente vom Beginn des Antragsmonates an zu gewähren, wenn der Antrag später als drei Monate nach dem Eintritt der Erwerbsunfähigkeit gestellt wird. Entsprechend dieser Bestimmung hat die Beklagte der Klägerin, die im März 1979 einen erneuten Rentenantrag gestellt hatte, Rente ab 1. März 1979 aufgrund eines im Dezember 1974 eingetretenen Versicherungsfalles gewährt.
Da die ursprüngliche Begründung für die Ablehnung des Rentenanspruchs im Bescheid vom 30. August 1965 und im Widerspruchsbescheid vom 1. April 1966, daß die Wartezeit nicht erfüllt sei, unrichtig ist, wäre die Beklagte verpflichtet gewesen, die - infolge der irrtümlich verneinten Wartezeiterfüllung - unterbliebene Prüfung nachzuholen, ob bei der Klägerin während des damaligen Rentenverfahrens bereits Erwerbsunfähigkeit oder wenigstens Berufsunfähigkeit vorgelegen hatte. Bejahendenfalls wäre bei Erlaß der genannten Bescheide i.S. des § 44 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X) nicht nur das Recht unrichtig angewandt, sondern deshalb auch eine Sozialleistung zu Unrecht nicht erbracht worden, so daß die Bescheide mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen wären. Auf den Neuantrag vom 6. März 1979, mit dem die Klägerin auch eine Überprüfung der alten Bescheide begehrt hat, hätte dann die Beklagte die der Klägerin aufgrund des festgestellten Versicherungsfalles zustehende Rente ohnehin gemäß § 44 Abs. 4 SGB X rückwirkend ab 1. Januar 1975 gewähren müssen.
Die somit gebotene Prüfung einer etwaigen Erwerbsunfähigkeit oder wenigstens Berufsunfähigkeit bereits ab 1965/66 hat die Beklagte indes unterlassen. Sie hat sich vielmehr mit der Beurteilung im Gutachten ihres sozialmedizinischen Dienstes vom 17. Juli 1980 begnügt, daß die Klägerin „zum mindesten seit dem Alter von 68 Jahren (Dezember 1974)“ nicht mehr in der Lage sei, irgendwelche Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten. Obwohl damit also der Eintritt jedenfalls der Berufsunfähigkeit bereits zur Zeit des ersten Rentenverfahrens in den Jahren 1965/66 nicht auszuschließen und nach dem weiteren Vorbringen der Klägerin sogar naheliegend ist, hat die Beklagte insoweit von einer Klärung abgesehen.
Die Beklagte kann aber nicht - wie mit ihrer Revision geschehen - den vom LSG bejahten sozialrechtlichen Herstellungsanspruch bei Erteilung eines ablehnenden Verwaltungsaktes mit fehlerhafter Begründung unter Hinweis auf den für die Klägerin bestehenden rechtlichen Schutz nach § 44 SGB X verneinen, ohne selbst die nach dieser Vorschrift gebotene Prüfung durchzuführen. Dabei ist besonders zu beachten, daß die Feststellung einer bereits 1965/66 eingetretenen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit mit zunehmendem Zeitablauf immer schwieriger werden dürfte, so daß die Prüfung dieser Frage erstmals im Rechtsweg durch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zu einer zusätzlichen Schlechterstellung der Klägerin führen könnte. Bei dieser Sach- und Rechtslage ist es nicht zu beanstanden, daß das LSG diesen Weg nicht beschritten und den Anspruch der Klägerin auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bereits ab 1. Januar 1975 aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs bejaht hat. Ein solcher wird - wie gerade der vorliegende Sachverhalt zeigt - durch die in § 44 SGB X getroffene Regelung nicht von vornherein ausgeschlossen.
Dieses richterrechtliche Institut ist vom Bundessozialgericht (BSG) in ständiger Rechtsprechung für den Fall entwickelt worden, daß der Versicherungsträger eine ihm gegenüber obliegende Pflicht aus dem Sozialrechtsverhältnis, insbesondere eine Nebenpflicht zur Auskunft, Beratung und Betreuung, verletzt und dem Versicherten dadurch sozialrechtlich einen Schaden zufügt. Der Anspruch ist auf Vornahme einer mit Recht und Gesetz in Einklang stehenden Amtshandlung zur Herbeiführung desjenigen Rechtszustandes gerichtet, der eingetreten wäre, wenn der Versicherungsträger die ihm obliegenden Pflichten ordnungsgemäß wahrgenommen hätte. Die Pflichtverletzung muß ursächlich für den sozialrechtlichen Schaden des Versicherten gewesen sein. Dieser Anspruch setzt auf Seiten des Versicherungsträgers grundsätzlich kein Verschulden voraus, besteht also auch dann, wenn der Versicherungsträger im Zeitpunkt der Auskunftserteilung von der Richtigkeit seiner Auskunft ausgehen durfte. Der Anspruch besteht auch, wenn ein in den Entscheidungsgang einbezogener anderer Versicherungsträger als der in Anspruch genommene, die Pflichtverletzung begangen hat (vgl. zu alledem die Urteile des erkennenden Senats vom 21. Februar 1980 in BSGE 50, 13 ff. = SozR 2200 § 313 Nr. 6 und 30. November 1983 in BSGE 56, 61 ff. = SozR 2200 § 313 Nr. 7 jeweils m.w.N.).
Die ehemalige Saarknappschaft hatte in ihren Bescheiden vom 30. August 1965 und 1. April 1966 ausgeführt, daß die Klägerin keine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt habe. Das war eine objektiv unrichtige Darstellung, wie heute auch von der Beklagten anerkannt wird. Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 30. November 1983 a.a.O. eine der objektiven Rechtslage nicht entsprechende Satzungsbestimmung der Beklagten einer falschen Belehrung oder Auskunft gleicherachtet. Dasselbe muß hinsichtlich objektiv unrichtiger rechtlicher Ausführungen in einem Bescheid gelten. Beide sind ebenso wie eine falsche Belehrung bzw. Auskunft oder sogar noch in stärkerem Maße geeignet, den Versicherten zu einem für ihn schädlichen Verhalten zu veranlassen. Das LSG hat in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, daß die Klägerin durch den - unrichtigen - Inhalt der Bescheide von 1965/66 davon abgehalten wurde, weitere Rentenanträge zu stellen und wahrscheinlich schon im Dezember 1974 die Rente erneut beantragt hätte, wenn nicht die Beklagte sie falsch über die Erfüllung der Wartezeit informiert hätte. An diese Feststellungen ist das Revisionsgericht gebunden (§ 163 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Da die Klägerin somit durch ein objektiv rechtswidriges Verhalten geschädigt ist, für das die Beklagte einzustehen hat, und die Wiederherstellung des Zustandes, der ohne dieses Verhalten vorliegen würde, in der Rechtsmacht der Beklagten liegt - die Gewährung der Rente ab 1. Januar 1975 ist ihrer Art nach zulässig (vgl. BSGE 49, 76, 80, 81) -, kann die Klägerin verlangen, daß der versicherungsrechtliche Zustand hergestellt wird, der infolge der unterbliebenen erneuten rechtzeitigen Rentenantragstellung nicht eingetreten ist.
Da die Klägerin ihr Leistungsbegehren auf die Zeit ab Januar 1975 und damit auf den Zeitraum beschränkt hat, für den hier nach § 44 Abs. 4 SGB X bei Rücknahme eines Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit die Leistung zulässig ist, braucht der Senat nicht darüber zu entscheiden, ob diese Vorschrift in der Einschränkung rückwirkender Leistungen einen allgemeinen Grundgedanken enthält, der auch in anderen Fällen, wie etwa dem hier gegebenen, rückwirkende Leistungen über die dortige Zeitgrenze hinaus ausschließt (vgl. hierzu BSG-Urteil vom 28. August 1984 - 1 RA 50/83 -).
Des weiteren kann offen bleiben, ob das Klagebegehren nach § 44 Abs. 2 SGB X begründet wäre, weil die Klägerin mit ihrem Widerspruch gegen den Bescheid vom 30. August 1965 ausdrücklich die Feststellung der Wartezeiterfüllung für die Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bzw. Berufsunfähigkeit beantragt hatte und insoweit der ablehnende Widerspruchsbescheid vom 1. April 1966 einen rechtswidrigen nicht begünstigenden - feststellenden - Verwaltungsakt beinhaltet, der gemäß § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden kann (vgl. Eicher / Haase / Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 7. Aufl., Stand: März 1984, Anm. 3 zu § 44 SGB X).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.