11 RA 69/83
Tatbestand
Streitig ist, ob bei der Herstellung von Versicherungsunterlagen für die Klägerin die Zeit vom 1. November 1971 bis zum 15. November 1976 als Beitragszeit nach § 15 Abs. 1 des Fremdrentengesetzes (FRG) zu berücksichtigen ist.
Die 1928 geborene volksdeutsche Klägerin, die seit 1949 in Rumänien als Lehrerin tätig war, reiste am 4. September 1971 mit einem dreimonatigen Besuchsvisum zusammen mit ihrem damals 21 Jahre alten Sohn in die Bundesrepublik Deutschland ein, um ihre hier ansässige Schwester zu besuchen. Am 29. September 1971 meldete sich die Klägerin mit dem Sohn, der in Deutschland zu bleiben beschlossen hatte, im Grenzdurchgangslager Friedland, bat am 13. Oktober 1971 um Einweisung in ein Flüchtlingswohnheim und beantragte am 24. Oktober 1971 den Vertriebenenausweis. Hierzu gab sie an, ihr Ehemann habe Rumänien noch nicht verlassen können; sie sei nicht ausgesiedelt worden und habe im Wege der Familienzusammenführung im Bundesgebiet ihren ständigen Aufenthalt genommen. Am 5. November 1971 kehrte die Klägerin wegen ihres Mannes nach Rumänien zurück; den Antrag auf Ausstellung des Vertriebenenausweises nahm der Sohn später zurück.
Im März 1977 reiste die Klägerin mit ihrem Ehemann, diesmal im Besitz eines rumänischen Aussiedlerpasses, erneut nach Deutschland ein und bekam am 16. Juni 1978 den „Vertriebenenausweis A“ mit dem Vermerk ausgestellt, sie sei zur Inanspruchnahme von Rechten und Vergünstigungen aufgrund von § 10 Abs. 2 Nr. 2 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) berechtigt; der ständige Aufenthalt im Bundesgebiet bestehe seit dem 4. September 1971.
Bei der Herstellung der Versicherungsunterlagen nach Maßgabe des FRG gemäß § 11 Abs. 2 der Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) berücksichtigte die Beklagte rumänische Beitragszeiten der Klägerin nur bis zum 3. September 1971. Die danach (ab November 1971) in Rumänien zurückgelegten Zeiten fallen nach ihrer Auffassung nicht unter das FRG, weil die Klägerin laut dem Vertriebenenausweis ab 4. September 1971 den ständigen Aufenthalt in Deutschland genommen habe (Bescheid vom 16. Oktober 1979, Widerspruchsbescheid vom 22. Februar 1980).
Die Vorinstanzen haben die Beklagte zur Berücksichtigung der Zeit vom 1. November 1971 bis zum 15. November 1976 als weiterer Beitragszeit nach § 15 FRG verurteilt. Nach der Ansicht des Landessozialgerichts (LSG) gehört die Klägerin als anerkannte Aussiedlerin i.S. von § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG zum Personenkreis des § 1 Buchst. a FRG. Allerdings sei eine Anrechnung von FRG-Zeiten nicht mehr möglich, wenn der Berechtigte nach dem Zuzug in das Bundesgebiet noch weitere Beitragszeiten im Vertreibungsgebiet zurücklege. Die Klägerin habe indes vor März 1977 im Bundesgebiet noch keinen ständigen Aufenthalt gehabt und sei darum damals noch nicht in die Bundesrepublik eingegliedert gewesen. Berücksichtige man allein den Willen zum Bleiben an einem bestimmten Ort, könnte zwar ab Anfang Oktober 1971 der Aufenthalt nicht mehr als ein nur vorübergehender bezeichnet werden; das tatsächliche Geschehen lasse den im Ergebnis nur kurzen Aufenthalt letztlich aber doch als vorübergehenden erscheinen. Solange das Visum lief, habe die Klägerin noch nicht alle Brücken zum Vertreibungsgebiet abgebrochen gehabt; insgesamt habe der Aufenthalt den Rahmen eines üblichen Besuchs nicht überschritten. Die Eintragung im Vertriebenenausweis über den Aufenthaltsbeginn binde die Beklagte nicht; es könne dahingestellt bleiben, ob diese Entscheidung zutreffend sei.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
- die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie rügt, das LSG habe den Rechtsbegriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ verkannt. Bei der Klägerin hätten im Herbst 1971 etwa vier Wochen ihr Wille, in Deutschland zu bleiben und ihr Verhalten in Einklang gestanden; daß sie dann ihre Absicht aufgegeben habe, könne den einmal begründeten Aufenthalt nicht rückwirkend beseitigen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg; im Ergebnis zu Recht haben die Vorinstanzen entschieden, daß die Zeiten vom 1. November 1971 bis zum 15. November 1976 bei der Herstellung von Versicherungsunterlagen als Beitragszeiten zu berücksichtigen sind.
Daß die Klägerin während dieses Zeitraums in Rumänien als Lehrerin beschäftigt war und für sie an einen nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung Beiträge entrichtet wurden (§ 15 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 FRG), ist unumstritten. Auch steht fest, daß die Klägerin zu dem von § 1 Buchst. a FRG erfaßten Personenkreis gehört; sie ist im Besitz des Vertriebenenausweises A. Streitig ist allein, ob es sich bei den besagten Zeiten um solche handelt, die die Klägerin zurückgelegt hat, bevor sie vertrieben wurde. Nur wenn das der Fall ist, kommen die Zeiten als Beitragszeiten nach § 15 Abs. 1 FRG in Betracht. Denn die Berücksichtigung fremder Zeiten nach dem FRG findet, wie der erkennende Senat in SozR 5050 § 15 Nr. 5 bereits dargelegt hat, ihre zeitliche Grenze mit der Vertreibung; das verdeutlicht § 16 FRG, der ausdrücklich auf Beschäftigungszeiten „vor der Vertreibung“ abstellt (s. Großer Senat - GS - in BSGE 49, 175 = SozR 5050 § 15 Nr. 13 sowie BSGE 50, 190 = SozR 5050 § 15 Nr. 17; SozR a.a.O. Nrn. 24 und 25).
Der Tatbestand, der die Vertreibung der Klägerin allein begründen kann, ist, da sie in jedem Falle - sowohl 1971 als auch 1977 - nach dem Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen nach Deutschland gekommen ist, der in § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG geregelte; danach ist Vertriebener auch, wer als deutscher Volkszugehöriger eines der in der Vorschrift genannten Gebiete, zu denen Rumänien gehört, nach der allgemeinen Vertreibung verlassen hat oder verläßt, allerdings mit der Einschränkung, daß er nicht nach dem 8. Mai 1945 einen Wohnsitz in diesen Gebieten begründet haben darf, ohne daraus vertrieben und bis zum 31. März 1952 dorthin zurückgekehrt zu sein. Dieser Einschränkung zufolge kommt es hier entscheidend darauf an, in welchem Zeitpunkt die Vertreibung der Klägerin verwirklicht ist. Wäre diese bereits im Zusammenhang mit der ersten Ausreise nach Deutschland im Herbst 1971 erfolgt, dann könnte das FRG die Zeiten ab November 1971 nicht mehr erfassen. Denn die Klägerin wäre in diesem Falle nach einer Vertreibung erst nach dem 31. März 1952 nach Rumänien zurückgekehrt, so daß ihre Wiedereinreise nach Deutschland im März 1977 schon aus diesem Grunde keine Vertreibung i.S. des § 2 Abs. 1 Nr. 3 BVFG mehr darstellen könnte (vgl. dazu BVerwG, Buchholz 412.3 § 1 BVFG Nr. 21; BSG SozR 5050 § 15 Nr. 24).
Die Antwort auf die Frage, worin das Ereignis der Vertreibung zu erblicken ist und zu welchem der möglichen Zeitpunkte es stattgefunden hat, obliegt dem erkennenden Senat. Sie hat in eigener rechtlicher Würdigung auf der Grundlage des vom LSG festgestellten Sachverhalts zu erfolgen. Gemäß § 15 Abs. 5 Satz 1 BVFG ist zwar die Entscheidung über die Ausstellung der in § 15 genannten Ausweise (hier: des Ausweises A) für alle Stellen verbindlich, die für die Gewährung von Rechten oder Vergünstigungen an Vertriebene u.a. nach dem FRG zuständig sind. Es kann jedoch offen bleiben, ob sich diese Verbindlichkeit auch auf die Voraussetzungen der Vertriebeneneigenschaft erstreckt (so BVerwGE 34, 90 zur Feststellung der deutschen Volkszugehörigkeit); sie kann jedenfalls nur für die im Ausweis tatsächlich getroffenen Feststellungen gelten (BVerwG a.a.O.). In dem der Klägerin erteilten Ausweis heißt es aber an vorgedruckter Stelle lediglich: „Ständiger Aufenthalt im Bundesgebiet seit: 04.09.1971“. Das mag vermuten lassen, daß die ausstellende Behörde von einer Vertreibung im Herbst 1971 ausgegangen ist, wenngleich dann die zu Besuchszwecken erfolgte Einreise am 4. September 1971 noch nicht der Vertreibungszeitpunkt sein könnte; eine ggf. verbindliche Feststellung, daß die Vertreibung (Aussiedlung) schon im Herbst 1971 stattgefunden habe, kann darin jedoch nicht gesehen werden.
Mit der Frage, wann bei ursprünglich besuchsweiser Einreise der Vertreibungstatbestand des § 2 Abs. 1 Nr. 3 BVFG erfüllt sein kann, hat sich das BVerwG bereits in einer Entscheidung vom 15. Januar 1975 (Buchholz 412.3 § 10 BVFG Nr. 2) befaßt. Es hat an das „Verlassen“ des Vertreibungsgebietes angeknüpft und die damit zusammenfallende Vertreibung als Aufgabe des Wohnsitzes im Herkunftsland verstanden. Erforderlich hierfür sei nach dem anzuwendenden § 7 Abs. 3 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) die Aufhebung der dortigen Niederlassung mit dem Willen sie aufzugeben, d.h. diesen Ort nicht mehr als den Lebensmittelpunkt zu betrachten. Darum liege in der Ausreise zu Besuchszwecken noch keine Vertreibung. Der Ausreisende werde jedoch Vertriebener „in der Form der Aussiedlung“, wenn er sich zur Nichtrückkehr entschließe und den Entschluß erkennbar betätige.
Dieser Auslegung schließt sich der erkennende Senat für die Fälle an, in denen der Ausreisende in der Bundesrepublik Deutschland verbleibt und nicht wie im vorliegenden Falle kurz nach dem Entschluß zur Nichtrückkehr doch wieder in das Herkunftsland zurückkehrt. Kehrt er nämlich noch innerhalb einer kurzen Besuchszeit zurück, so erscheint es nicht gerechtfertigt, allein wegen der zuvor vollzogenen Wohnsitzaufgabe eine bereits abgeschlossene Vertreibung anzunehmen. Das kann nicht im Sinne des BVFG liegen, wie eine weitere Entscheidung des BVerwG vom 23. November 1979 (Buchholz 412.3 § 1 BVFG Nr. 21) zeigt. Das BVerwG hat dort erwogen, bei erster Rückkehr nach dem 31. März 1952 die erneute Einreise nach Deutschland abweichend vom Wortlaut des § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG ausnahmsweise als eine erneute Vertreibung anzuerkennen, wenn die erste Rückkehr aus besonders schwerwiegenden Gründen unausweichlich war; dies hat es bei der dortigen Klägerin, die zur Pflege ihrer erkrankten Eltern zurückkehrte, verneint. Demgegenüber sind die Gründe der Klägerin für die Rückkehr zum Ehemann deutlich zwingender gewesen; ob ihre Rückkehr deswegen auch „unausweichlich“ war und ob das ein Abweichen vom Wortlaut des Gesetzes zuläßt, kann jedoch dahingestellt bleiben. Denn eine Vertreibung im Herbst 1971 ist schon bei sinngemäßer Auslegung (Fortentwicklung) des in § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG geforderten „Verlassens“ des Vertreibungsgebietes zu verneinen. Wie nämlich das BVerwG aa0 (S. 43) weiter dargelegt hat, beruht die Regelung im letzten Halbsatz der Vorschrift auf der Erwägung, daß es Vertriebene nach § 1 Abs. 1 Satz 1 BVFG gab, die „zwischen den Fronten hin- und herirrten und nicht wußten, wohin sie gehen sollten“. Ein solches Hin und Her kann es aber auch in Zeiten nach dem 31. März 1952 noch gegeben haben. Dem muß die Rechtsprechung bei der Auslegung des Begriffes „Verlassen“ des Herkunftslandes Rechnung tragen. Die Klägerin war sich ausweislich des Sachverhalts selbst nach ihrer Meldung in Friedland noch nicht im klaren, ob sie nun bei ihrem Sohn in Deutschland bleiben oder besser zu ihrem Ehemann nach Rumänien zurückkehren sollte. Kurz nach dem Entschluß zur Nichtrückkehr ist sie dann noch innerhalb der dreimonatigen Besuchszeit zu dem Ehemann zurückgekehrt. Wenn unter solchen Umständen ein Entschluß zur Nichtrückkehr alsbald wieder rückgängig gemacht wird, kann in dem ursprünglichen Entschluß noch kein „Verlassen“ des Vertreibungsgebietes gesehen werden. Denn hierbei ist an einen dauerhaften und nicht einen letztlich nur vorübergehenden Weggang gedacht. Wer den Willen zum Verweilen im Aufnahmegebiet - wie im vorliegenden Falle - binnen kurzem aus zwingenden Gründen wieder aufgibt, hat das Herkunftsgebiet daher noch nicht „verlassen“.
Da die streitigen Zeiten somit vor und nicht nach einer Vertreibung zurückgelegt sind, sind sie Beitragszeiten i.S. des § 15 FRG. Dafür spricht auch der Sinn und Zweck dieses Gesetzes, die Vertriebenen mit den darin getroffenen Regelungen in das Bundesgebiet einzugliedern. Denn eine solche „Eingliederung“, für deren Feststellung keine Bindungen nach § 15 Abs. 5 Satz 1 BVFG bestehen, war im Herbst 1971 noch nicht erreicht. Auch insoweit ist es nicht gerechtfertigt, trotz der vorliegenden besonderen Umstände nur danach zu fragen, ob die Klägerin für wenige Wochen schon einen ständigen Aufenthalt i.S. des § 30 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch I oder sonstiger Vorschriften im Bundesgebiet genommen hatte; denn selbst dann war sie aus den dargelegten Gründen damit noch nicht in das Bundesgebiet eingegliedert.
Nach alledem war das Urteil des LSG zu bestätigen. Das führte mit der auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes beruhenden Kostenfolge zur Zurückweisung der Revision.