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10 RKg 12/84

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger für die Zeit von April bis Juli 1983 Kindergeld für seine am 21. Februar 1966 geborene Tochter P. zu zahlen hat.

P.v.d.P. hatte im Dezember 1982 den Besuch der höheren Handelsschule erfolgreich abgeschlossen. Sie bewarb sich bei den Rechtsanwälten Dr. H., H., S. und G. in L. um einen Ausbildungsplatz als Rechtsanwalts- und Notargehilfin. Diese Anwälte forderten vor Abschluß eines Ausbildungsvertrages die Absolvierung eines „Praktikums“, weil sie der Auffassung waren, ohne eine solche Tätigkeit sei die Eignung zur Ausbildung als Rechtsanwalts- und Notargehilfin nicht zu ermitteln; die hierfür benötigte Zeit sollte auf die Ausbildungszeit angerechnet werden. P.v.d.P. absolvierte dieses „Praktikum“ in der Zeit zwischen Januar und Juli 1983. Das Ausbildungsverhältnis begann am 1. August 1983; die Zeit von Januar bis Juli 1983 ist im Ausbildungsvertrag nicht als Ausbildungszeit berücksichtigt worden.

Die Beklagte hat dem Kläger Kindergeld bis einschließlich März 1983 gewährt und ab August 1983 wieder bewilligt. Die Zahlung des Kindergeldes für die Zeit von April bis Juli 1983 hat sie durch den Bescheid vom 3. März 1983 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. April 1983 mit der Begründung abgelehnt, die Betätigung des Kindes bei den vorgenannten Rechtsanwälten in der Zeit von April bis Juli 1983 sei keine Berufsausbildung i.S. des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG).

Das Sozialgericht (SG) Aurich hat mit Urteil vom 27. Juli 1983 der - in erster Instanz noch einen weitergehenden Zeitraum umfassenden - Klage stattgegeben. Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat mit Urteil vom 13. April 1984 das erstinstanzliche Urteil bezüglich des noch streitigen Zeitraumes aufgehoben und die Klage abgewiesen: P.v.d.P. habe in der Zeit der Ableistung des „Praktikums“ bei den vorgenannten Rechtsanwälten keine Berufsausbildung i.S. des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BKGG durchlaufen. Die Berufsausbildung zur Rechtsanwalts- und Notargehilfin sei gesetzlich geregelt. Das von P.v.d.P. bis Juli 1983 absolvierte „Praktikum“ sei weder in der Ausbildungsverordnung vorgeschrieben noch im Ausbildungsvertrag angerechnet worden.

Gegen dieses Urteil richtet sich die - vom LSG zugelassene - Revision des Klägers. Er meint, das LSG habe den Begriff der Berufsausbildung i.S. des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BKGG zu eng abgegrenzt. Zwar sei nicht jede Aus-, Weiter- oder Fortbildung auch eine Berufsausbildung i.S. dieser Vorschrift. Hier habe es sich aber um die sinnvolle Überbrückung der vom Kind nicht zu vertretenden Wartezeit bis zum möglichen Beginn der ernsthaft angestrebten Ausbildung gehandelt. Zudem habe das LSG auch § 2 Abs. 4 BKGG nicht beachtet. Diese Vorschrift sei auch dann anzuwenden, wenn das Kind die Wartezeit sinnvoll nütze. Die Vergütung habe monatlich 200,00 DM betragen.

Der Kläger beantragt,

  • unter Aufhebung des Bescheides vom 3. März 1983 und des Widerspruchsbescheides vom 18. April 1983 das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 13. April 1984 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger auch für die Zeit von April bis Juli 1983 Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu zahlen, hilfsweise, den Rechtsstreit zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

  • die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Über den möglichen Anspruch gemäß § 2 Abs. 4 BKGG habe das LSG zwar nicht entschieden. Dem LSG hätten aber die Akten der Beklagten vorgelegen; es habe durch die Bezugnahme auf diese Akten auch festgestellt, daß P.v.d.P. während der streitigen Zeit Bezüge von mehr als 240,00 DM monatlich erhalten habe. Deshalb sei der Anspruch auch nicht nach § 2 Abs. 4 BKGG begründet.

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils des LSG und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an dieses Gericht.

Das LSG hat zwar zutreffend entschieden, daß P.v.d.P. in der streitigen Zeit deshalb nicht zu berücksichtigen war, weil sie sich nicht in einer Berufsausbildung i.S. des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BKGG befunden hat.

Der erkennende Senat hat in ständiger Rechtsprechung entschieden (vgl. zuletzt Urteil vom 25. April 1984 - 10 RKg 2/83 - in Fortführung des grundlegenden Urteils vom 25. März 1982 - 10 RKg 11/81 -, SozR 5870 § 2 Nr. 29), daß nicht jede Aus-, Weiter- oder Fortbildung, die ein Kind nach der Vollendung des 16. Lebensjahres betreibt, Berufsausbildung i.S. des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BKGG ist. Vielmehr muß es sich um eine Ausbildung handeln, die dazu dient, die Fähigkeiten zu erlangen, die die Ausübung des zukünftigen Berufes ermöglichen. Der erkennende Senat hat ferner entschieden (a.a.O.), daß dann, wenn die Betätigung zur Erlangung der Fähigkeiten zur Ausübung des künftigen Berufes in einer Ausbildungsordnung abschließend festgelegt ist, grundsätzlich keine Möglichkeit besteht, weitere Betätigungen als Kindergeld-Leistungszeiten wegen Berufsausbildung i.S. des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BKGG anzuerkennen (vgl. übereinstimmend für § 44 Abs. 1 Satz 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -: BSG, Urteil vom 9. Februar 1984 - 11 RA 53/83 -, SozR 2200 § 1267 Nr. 31). In dem vorgenannten Urteil vom 25. März 1982 (a.a.O.) hat der erkennende Senat bereits eingehend für den Fall der zusätzlichen Schulung und Übung während der Unterbrechung einer bereits begonnenen Ausbildung entschieden, daß eine derartige Schulung auch dann keine Ausbildung i.S. des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BKGG ist, wenn sie für das künftige Berufsziel wünschenswert oder förderungswürdig ist. Entsprechendes muß auch für die Fälle der Ableistung eines freiwilligen „Vorpraktikums“ zur sinnvollen Überbrückung der Zwischenzeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten gelten. Die Rechtsprechung hat zwar, worauf die Revision zutreffend hinweist, für das bis Ende 1981 geltende Recht derartige Überbrückungspraktika unter bestimmten Voraussetzungen und in bestimmten Grenzen als Berufsausbildung angesehen (vgl. Urteile des 4. Senats des BSG vom 12. November 1969 - 4 RJ 495/65 -, SozR Nr. 38 zu § 1267 RVO und vom 2. Dezember 1970 - 4 RJ 479/68 -, SozR Nr. 42 zu § 1267 RVO; vgl. auch die Nachweise in dem Urteil des 1. Senats vom 16. Juni 1982 - 1 RA 44/81 -, SozR 2200 § 1262 Nr. 22 m.w.N.). Der Gesetzgeber hat jedoch diese Abgrenzung als zu weitgehend angesehen (vgl. die Begründung zum Entwurf des 9. Änderungsgesetzes zum BKGG, BT-Drucks. 9/795, S. 54) und deshalb in § 2 Abs. 2 Satz 4 BKGG (i.d.F. der Bekanntmachung vom 21. Januar 1982 - BGBl. I, 13 -) eine Regelung für das zwischen zwei Ausbildungsabschnitten zu zahlende Kindergeld getroffen. Danach wird das Kind, dessen Berufsausbildung mangels eines Ausbildungsplatzes verzögert wird, nur noch dann berücksichtigt, wenn der nächste Ausbildungsabschnitt im vierten auf die Beendigung des vorhergehenden Ausbildungsabschnittes folgenden Monat beginnt. Da § 2 Abs. 2 Satz 4 BKGG nach dem Willen des Gesetzgebers eine abschließende Regelung ist (BT-Drucks. a.a.O.) und P.v.d.P. ihre Berufsausbildung auch nicht innerhalb der ersten vier Monate nach der Beendigung ihrer Schulausbildung aufgenommen hat, kommt die Weitergewährung des Kindergeldes für die streitige Zeit nicht im Hinblick auf § 2 Abs. 2 Satz 4 BKGG in Betracht. Der Anspruch ist schließlich auch nicht deshalb begründet, weil die ausbildenden Anwälte die Ableistung des „Vorpraktikums“ möglicherweise als Vorbedingung für den Abschluß eines Ausbildungsvertrages gemacht haben. Allein wegen dieser Vorbedingung für den Abschluß des Ausbildungsvertrages mit der Tochter des Klägers würde die Ableistung eines Vorpraktikums nicht schon als Berufsausbildung i.S. des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BKGG anzusehen sein. Vielmehr würde es sich allenfalls um besondere Auswahlkriterien des Ausbildenden für die Auswahl des Auszubildenden vor Abschluß des Ausbildungsvertrages und nicht schon um einen notwendigen Bestandteil der Ausbildung handeln. Ob etwas anderes zu gelten hat, wenn die Ableistung eines Vorpraktikums, das in der Ausbildungsordnung nicht vorgesehen ist, allgemein gefordert wird und deshalb ein Ausbildungsplatz ohne die Ableistung eines solchen Praktikums nicht erlangt werden könnte, ist hier nach dem vom LSG festgestellten Sachverhalt nicht entscheidungserheblich.

Das LSG hat aber nicht geprüft, ob dem Kläger in der streitigen Zeit das Kindergeld gemäß § 2 Abs. 4 BKGG zustand. Der erkennende Senat hat bereits in dem Urteil vom 22. Mai 1984 - 10 RKg 3/83 - (SozR 5870 § 2 Nr. 33) entschieden, daß es dem Wesen des kindergeldrechtlichen Dauerrechtsverhältnisses nicht gerecht wird, die Leistung nur wegen der Änderung einzelner Voraussetzungen des Leistungsanspruches gänzlich zu entziehen und alsdann erst nach Prüfung der geänderten Sach- und Rechtslage ganz oder teilweise neu zu bewilligen. Deshalb hätte die Beklagte bereits in den angefochtenen Bescheiden entscheiden müssen, ob dem Kläger auch für die streitige Zeit das Kindergeld gemäß § 2 Abs. 4 BKGG weiter zu zahlen war. Die Ableistung eines freiwilligen „Vorpraktikums“ steht der Anwendung des § 2 Abs. 4 BKGG jedenfalls dann nicht entgegen, wenn das Vorpraktikum jederzeit beendet werden kann und die übrigen Voraussetzungen des § 2 Abs. 4 BKGG - Aufrechterhaltung der Bewerbung um eine berufliche Ausbildungsstelle oder Verfügbarkeit, Arbeitsentgelt nicht über 240,00 DM monatlich - gegeben sind. Da das LSG diese Anspruchsvoraussetzungen nicht geprüft und dementsprechend keine tatsächlichen Feststellungen getroffen hat, muß das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zur Nachholung der erforderlichen tatsächlichen Feststellungen und zur Entscheidung über das Fortbestehen des Anspruches gemäß § 2 Abs. 4 BKGG zurückverwiesen werden. Unbeachtlich ist entgegen der von der Beklagten vertretenen Auffassung, ob der Inhalt der Verwaltungsakten möglicherweise bereits erkennen läßt, daß P.v.d.P. im Rahmen ihres „Praktikantenverhältnisses“ Bezüge von mehr als 240,00 DM monatlich hatte - was der Kläger bestreitet - und ob es sich dabei um anrechnungspflichtiges Einkommen i.S. des § 2 Abs. 4 BKGG handelte. Die in einem Urteil erfolgte Bezugnahme auf die Verwaltungsakten der Beklagten stellt jedenfalls dann keine das Revisionsgericht bindende oder ihm eine abschließende Entscheidung ermöglichende tatsächliche Feststellung dar, wenn es sich um Tatsachen handelt, die das LSG offensichtlich nicht in seine Prüfung einbezogen hat. Auch der Grundsatz der Prozeßökonomie rechtfertigt bei Fehlen der erforderlichen tatsächlichen Feststellungen durch das LSG keine andere Entscheidung.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

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