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4 RJ 9/80

Gründe I.

Streitig ist die Gewährung einer Rente nach Mindesteinkommen (Art. 2 § 55a des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG -).

Die Klägerin ist die Witwe des am 5. Dezember 1976 im Alter von 64 Jahren verstorbenen Versicherten. Dieser hatte ab 1927 Pflichtbeiträge zur belgischen Rentenversicherung geleistet und von 1940 an deutsche Versicherungszeiten zurückgelegt, die unter Außerachtlassung der freiwilligen Beitragsentrichtung eine Versicherungszeit von 25 Jahren nicht erreichten. Die Beklagte gewährte mit Bescheid vom 6. April 1977 Witwenrente, führte jedoch keine Berechnung nach Mindesteinkommen durch.

Das Sozialgericht (SG) Lübeck verpflichtete die Beklagte, die Rente unter Anwendung des Art. 2 § 55a ArVNG zu berechnen (Urteil vom 8. Juni 1979). Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Es hat im Urteil vom 9. Oktober 1979 ausgeführt: Der Versicherte habe die Voraussetzungen des Art. 2 § 55a Abs. 1 ArVNG, eine Zurücklegung von 25 Versicherungsjahren, zwar nicht mit seinen zur deutschen Rentenversicherung geleisteten Pflichtbeiträgen erfüllt, wohl aber unter Einbeziehung der belgischen Pflichtbeiträge. In diesem Zusammenhang seien nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch in EWG-Ländern zurückgelegte Pflichtbeitragszeiten zu berücksichtigen (Urteil vom 18. November 1977 - 5 RJ 24/76 = SozR 5750 Art. 2 § 55a Nr. 2). Dagegen sprächen weder der gesetzgeberische Zweck des Art. 2 § 55a ArVNG noch die Regelungen der Art. 45 bis 47 der EWG-Verordnung (VO) Nr. 1408/71.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision wendet sich die Beklagte zunächst gegen die Rechtsansicht des LSG, belgische Versicherungszeiten könnten nach Art. 46 Abs. 1 EWG-VO Nr. 1408/71 bei der Rentenberechnung nach innerstaatlichem Recht die Voraussetzung der 25 Versicherungsjahre i.S. des Art. 2 § 55a ArVNG mit erfüllen. Zweifelhaft könne dies nach Ansicht der Beklagten allenfalls bei der gemäß Art. 46 Abs. 2 EWG-VO Nr. 1408/71 vergleichsweise zu berechnenden zwischenstaatlichen Rente sein. Jedoch erschöpfe sich die Berücksichtigung mitgliedstaatlicher Versicherungszeiten in der Feststellung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre für die theoretische Rente, während ein weitergehender Einfluß solcher Zeiten auf die Rentenbemessungsgrundlage durch Art. 47 a.a.O. ausgeschlossen werde. Im übrigen sei aufgrund der Rechtsprechung des BSG in Entwürfen für neue Sozialversicherungsabkommen vorgesehen worden, die Berücksichtigung vertragsstaatlicher Versicherungszeiten bei der Prüfung der Voraussetzungen für Mindestrenten auszuschließen. Daraus folge, daß diese Rechtsprechung nicht dem Willen des Gesetzgebers entspreche.

Die Beklagte beantragt (sinngemäß),

  • die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 9. Oktober 1979 sowie des Sozialgerichts Lübeck vom 8. Juni 1979 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin hat keinen Antrag gestellt.

Gründe II.

Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet. Das LSG hat zu Recht entschieden, daß der Klägerin nach Mindesteinkommen berechnete Witwenrente zusteht.

Nach Art. 2 § 55a Abs. 1 Satz 1 ArVNG ist bei Versicherungsfällen nach dem 31. Dezember 1972 für Versicherte, die mindestens 25 anrechnungsfähige Versicherungsjahre ohne Zeiten der freiwilligen Versicherung und Ausfallzeiten zurückgelegt haben, die maßgebende Rentenbemessungsgrundlage in der Weise zu ermitteln, daß für jeden Monat vor dem 1. Januar 1973, der mit einem Pflichtbeitrag belegt ist, der Wert 6,25 zugrunde gelegt wird, wenn sich bei der Anwendung des § 1255 Abs. 3 bis 7 und § 1255a der Reichsversicherungsordnung (RVO) aus allen Pflichtbeitragszeiten vor dem 1. Januar 1973 ein geringerer Monatsdurchschnitt ergibt. Gemäß Satz 5 der Vorschrift gilt Satz 1 auch für Witwenrenten.

Die hiernach erforderlichen 25 anrechnungsfähigen Versicherungsjahre (ohne Zeiten der freiwilligen Versicherung und ohne Ausfallzeiten) hat der Versicherte zwar in der deutschen Rentenversicherung allein nicht zurückgelegt, wohl aber mit Hilfe belgischer Pflichtversicherungszeiten erreicht. Diese Zusammenrechnung mit in einem anderen Staat des EWG-Bereichs zurückgelegten Pflichtbeitragszeiten ist Rechtens. Das hat der 5. Senat im Urteil vom 18. November 1977 (= SozR 5750 Art. 2 § 55a Nr. 2) entschieden, und zwar dort hinsichtlich italienischer Pflichtbeiträge. Der Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an.

Auch wenn man mit der Beklagten Art. 2 § 55a Abs. 1 ArVNG - trotz des in ihm enthaltenen Erfordernisses der 25 Versicherungsjahre - als reine Berechnungsvorschrift versteht und deshalb nicht Art. 45 Abs. 1 EWG-VO Nr. 1408/71 anwendet, wonach für den Erwerb des Leistungsanspruchs auch die in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungszeiten berücksichtigt werden, folgt die Berücksichtigung der fremden Zeiten in diesem Zusammenhang aus dem Gemeinschaftsrecht. Art. 46 EWG-VO Nr. 1408/71 regelt, daß auch für die Rentenberechnung mitgliedstaatliche Versicherungszeiten zu berücksichtigen sind. Denn bei der Ermittlung der sog. Zunächstrente („theoretischer Betrag“) sind vorerst alle in Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungszeiten zusammenzurechnen; danach kann der Betrag festgestellt werden, der sich ergeben würde, wenn alle mitgliedschaftlichen Zeiten in dem einzelnen Staat - hier: Bundesrepublik Deutschland - zurückgelegt worden wären (Art. 46 Abs. 2a EWG-VO Nr. 1408/71). Sodann erst wird die Teilrente nach dem Pro-rata-Verhältnis ermittelt, nämlich der theoretische Betrag in dem zeitlichen Verhältnis aufgeteilt, in dem die deutschen Zeiten zu allen Mitgliedschaftszeiten stehen (Art. 46 Abs. 2b a.a.O.). Gleichwohl führt diese Berechnungsweise nicht dazu, daß die in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungszeiten die aus den deutschen Versicherungszeiten sich ergebenden Werteinheiten beeinflussen könnten. Vielmehr wird die persönliche Rentenbemessungsgrundlage allein aus deutschen Beiträgen gebildet (Art. 2 § 47 Abs. 1a EWG-VO Nr. 1408/71).

Unter Berücksichtigung dieser Bestimmungen des EWG-Rechts erscheint es gerechtfertigt, für die Voraussetzung der 25 Versicherungsjahre in Art. 2 § 55a Abs. 1 ArVNG die in anderen EWG-Staaten zurückgelegten Pflichtbeitragszeiten mit heranzuziehen. Der Sinn und Zweck des Art. 2 § 55a ArVNG spricht mehr für als gegen diese Gesetzesanwendung. Mit der durch das Rentenreformgesetz (RRG) geschaffenen Norm wollte der Gesetzgeber einen Ausgleich für die Fälle schaffen, in denen die Rentenbemessungsgrundlage wegen der besonderen, in der Vergangenheit liegenden Lohnverhältnisse in Deutschland - insbesondere infolge eines regionalen oder branchebedingten Lohngefälles oder wegen Lohndiskriminierung der Frauenarbeit nicht dem Wert der geleisteten Arbeit entspricht; es sollte Rentnern geholfen werden, die durch einkommensgerechte Beitragsentrichtung den Nachweis geführt haben, daß ihre geringe Rente nicht auf einer aus freiem Willen zu niedrigen Beitragsleistung beruht, sondern trotz ausgefüllten Arbeitslebens auf einer zu geringen Entlohnung (vgl. BSG a.a.O. S. 4 und 5 und die dort angegebenen Gesetzesmaterialien). Diese Gründe gelten auch für Versicherte, die außer ihren Versicherungszeiten in Deutschland in einem anderen Staat der Europäischen Gemeinschaft Pflichtbeiträge entrichtet haben. Die vom Gesetzgeber in Art. 2 § 55a ArVNG geforderte Versicherungsdauer von 25 Jahren soll sicherstellen, daß die Vergünstigung der Rente nach Mindesteinkommen nur Versicherten mit einem ausgefüllten Erwerbsleben vorbehalten bleibt. Ob ein Versicherter diesem Personenkreis zuzurechnen ist, läßt sich nur bei Betrachtung seines gesamten Versicherungslebens erkennen. Da die EWG-VO Nr. 1408/71 grundsätzlich davon ausgeht, daß alle in den einzelnen Mitgliedstaaten zurückgelegten Pflichtbeitragszeiten einander gleichstellen, weil nur so das vorrangige Prinzip der Freizügigkeit und der Gewährleistung sozialer Sicherheit für Wanderarbeitnehmer in der Gemeinschaft gewährleistet wird, müssen also für die Frage, ob ein ausgefülltes Arbeitsleben vorliegt, alle entsprechenden Zeiten in den einzelnen Mitgliedstaaten Berücksichtigung finden. Dabei bleibt zu beachten, daß die Erfüllung der Versicherungszeit-Voraussetzung noch nicht unmittelbar auf die Rentenberechnung durchschlägt, weil nicht der Zeitraum von mindestens 25 Jahren, sondern lediglich die deutschen Versicherungszeiten vor 1973 auf eine persönliche Bemessungsgrundlage von durchschnittlich (mindestens) 75 % angehoben werden (12 Monate x 6,25 = 75).

Die gegen das Urteil des 5. Senats (SozR 5750 Art. 2 § 55a Nr. 2) von Meißner (DAngVers 1978 S. 272 f) vorgebrachten Bedenken, die von der Revision sinngemäß wiederholt worden sind, geben dem Senat keine Veranlassung, von dieser Rechtsprechung abzuweichen. Dies gilt insbesondere für die Auslegung der genannten EWG-Bestimmungen. Wenn Art. 47 Abs. 1a EWG-VO Nr. 1408/71, soweit er sich offensichtlich auf das deutsche Rentenrecht bezieht, vorschreibt, daß der zuständige Träger eines Mitgliedstaates, nach dessen Rechtsvorschriften bei der Berechnung von Leistungen „das Verhältnis zugrundezulegen ist, das während der Versicherungszeiten zwischen dem Bruttoentgelt des Versicherten und dem Durchschnittsbruttoentgelt aller Versicherten mit Ausnahme der Lehrlinge bestand“, die genannten Durchschnitts- oder Verhältniszahlen ausschließlich aufgrund der nach den Rechtsvorschriften dieses Staates zurückgelegten Versicherungszeiten (oder des Bruttoarbeitsentgelts, das der Versicherte während dieser Zeiten bezogen hat) zu ermitteln habe, so schließt das lediglich aus, unmittelbar fremde Versicherungszeiten oder fremde Bruttoarbeitsentgelte als solche in die Berechnung nach Art. 46 Abs. 1 Satz 2 der EWG-VO 1408/71 einzubeziehen. Dagegen verhindert Art. 47 a.a.O. nicht den sich aus Art. 46 Abs. 2a a.a.O. ergebenden Effekt, daß fremde mitgliedstaatliche Zeiten die Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre erhöhen, die ihrerseits zu den Voraussetzungen in Art. 2 § 55a Abs. 1 ArVNG gehören.

Die Beklagte verkennt die Bedeutung der Versicherungszeit-Voraussetzung des Art. 2 § 55a ArVNG. Es handelt sich dabei, wie bereits des näheren dargelegt, eben nicht um eine reine Vorschrift der Rentenberechnung, sondern um eine Rentenvoraussetzung, bei deren Erfüllung lediglich bestimmte Versicherungszeiten mit anderen Werteinheiten belegt werden; diese Versicherungszeiten müssen aber nicht identisch mit den Versicherungszeiten sein, die anders berechnet werden. Ihrer Systematik nach steht die Versicherungszeiten-Voraussetzung im Rahmen der EWG-VO Nr. 1408/71 den versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des Art. 45 näher als den bloßen Berechnungsvorschriften der Art. 46 und 47. Die Regelung des Art. 45 geht aber von dem Grundsatz der Zusammenrechnung aller in den verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegten entsprechenden Zeiten aus.

Den dargelegten Gründen gegenüber hat der Hinweis der Beklagten auf einen von ihr behaupteten Willen des Gesetzgebers, der sich aus neueren zweiseitigen Sozialversicherungsabkommen ergeben soll, keine Bedeutung. Die Beklagte beachtet dabei nicht den grundlegenden Unterschied zwischen bilateralen Sozialversicherungsabkommen und der multilateralen Regelung der EWG-VO Nr. 1408/71. Der Inhalt bilateraler Abkommen ist letztlich davon abhängig, zu welcher Übereinkunft die beiden vertragschließenden Staaten gelangen; er hängt also entscheidend mit vom Willen des innerstaatlichen Gesetzgebers ab. Der Inhalt der in der EWG-VO Nr. 1408/71 niedergelegten sozialversicherungsrechtlichen Regelungen hingegen ist die Folge einer multilateralen Einigung, die ihren Ursprung in den römischen Verträgen hat; sie steht im Hinblick auf Änderungen nicht mehr zur Disposition des einzelnen mitgliedstaatlichen Gesetzgebers. Aus dessen jetzigem Willen läßt sich mithin kein Aufschluß über die Auslegung der EWG-VO 1408/71 gewinnen. Es erübrigt sich demgemäß, neuere zweiseitige Sozialversicherungsabkommen auf ihren Regelungsinhalt hin zu untersuchen.

Die Revision konnte aus allen diesen Gründen keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

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