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4 RJ 133/79

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Höhe der Rente.

Die im August 1914 geborene Klägerin, rassisch Verfolgte, arbeitete von 1929 bis Januar 1939 in Bremen als Köchin; für diese Zeit wurden Rentenversicherungsbeiträge entrichtet. Dann wanderte sie verfolgungsbedingt nach England aus, wurde englische Staatsangehörige und arbeitete von Februar 1939 bis August 1974 weiterhin als Köchin; für diese Zeit wurden Beiträge zur englischen Sozialversicherung entrichtet.

Im Juli 1974 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Altersruhegeld für weibliche Versicherte wegen Vollendung des 60. Lebensjahres und überwiegender versicherungspflichtiger Beschäftigung in den letzten 20 Jahren (§ 1248 Abs.. 3 Reichsversicherungsordnung - RVO -). Die Beklagte bewilligte ihr mit Bescheid vom 9. April 1975 das Altersruhegeld in Höhe von zunächst 108,60 DM monatlich für die Zeit vom 1. September 1974 an. Im Bescheid und im Widerspruchsbescheid ist ausgeführt: Die Feststellung der Leistung und die Berechnung der Rente erfolge nach den Verordnungen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-VOen) 1408/71 und 574/72. Die Voraussetzung einer überwiegenden versicherungspflichtigen Beschäftigung in den letzten 20 Jahren sei nur durch Berücksichtigung der britischen Beitragsleistungen erfüllt. Die vom 6. Februar 1939 bis 31. Dezember 1949 andauernde Ersatzzeit des verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes müsse nach § 15 Abs. 1 der EWG-VO 574/72 außer Betracht bleiben, weil sie mit der Beitragszeit nach englischem Recht zeitlich zusammentreffe. Mit notice vom 11. Juni 1975 bewilligte das Department of Health und Social Security (DHSS) in Newcastle upon Tyne der Klägerin für die Zeit vom 8. August 1974 an eine Retirement Pension in Höhe von zunächst 521,43 Pfund jährlich.

Mit der Klage hat die Klägerin beantragt,

  • den Bescheid zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr unter Anrechnung der Ersatzzeit ein höheres Altersruhegeld zu gewähren.

Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat mit Urteil vom 12. Januar 1978 die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat die Berufung der Klägerin als unbegründet zurückgewiesen, die Revision zugelassen und den Rechtsstandpunkt der Beklagten gebilligt (Urteil vom 27. Februar 1979, das ohne mündliche Verhandlung ergangen und der Beklagten am 26. März 1979 sowie der Klägerin am 20. November 1979 zugestellt worden ist).

Im September 1979 hat die Klägerin die Umwandlung des Altersruhegeldes nach § 1248 Abs. 3 in ein (normales) Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 5 RVO beantragt. Die Beklagte hat den Antrag mit Bescheid vom 1. Oktober 1979 abgelehnt. Der mit der üblichen Rechtsmittelbelehrung (Klage zum SG H.) versehene Bescheid ist der Klägerin am 8. November 1979 zugestellt worden.

Mit der am 6. Dezember 1979 eingegangenen Revision trägt die Klägerin vor, die Beklagte habe ihr einen Teil der Wiedergutmachung weggenommen; sie, die Klägerin, habe Anspruch auf zwei volle Pensionen, die deutsche und die englische, soweit diese durch Beitrags- und Ersatzzeiten erworben seien. Die versicherungspflichtige Tätigkeit, die sie als Anspruchsvoraussetzung für ihr vorgezogenes Altersruhegeld nachweisen müsse, betreffe den Zeitraum von 1954 bis 1974. Insoweit müsse sie britische Beitragszeiten für den deutschen Rentenanspruch zu Hilfe nehmen. Für den Zeitraum von 1939 bis 1949 habe sie jedoch keine britischen Beitragszeiten benötigt, demgemäß müsse ihr die auf diese Jahre entfallende Ersatzzeit in der deutschen Rentenversicherung angerechnet werden.

Sie beantragt,

  • die Urteile der Vorinstanzen sowie den Bescheid der Beklagten vom 9. April 1975 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ein höheres Altersruhegeld zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

  • die Revision der Klägerin als unbegründet zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist zulässig, aber nicht begründet. Die Beklagte hat zu Recht bei dem vorzeitigen Altersruhegeld die Ersatzzeit des verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes (§ 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO) nicht berücksichtigt.

Gegenstand des vorliegenden Revisionsverfahrens ist allein der Bescheid der Beklagten vom 9. April 1975 über das vorzeitige Altersruhegeld, das an die Klägerin aus der deutschen Rentenversicherung zu zahlen ist. Der Bescheid der Beklagten vom 1. Oktober 1979 ist hingegen in diesem Verfahren nicht zu überprüfen, er gilt vielmehr nach § 171 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als mit der Klage beim Sozialgericht angefochten. Dieser Verwaltungsakt entscheidet über das Begehren der Klägerin, die hier streitige Rentenleistung durch eine andere Leistung - nämlich das Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 5 RVO - im Wege der Rentenumwandlung zu ersetzen. Formeller Regelungsgehalt des Bescheides vom 1. Oktober 1979 ist also die Abänderung des Verwaltungsaktes vom 9. April 1975 durch einen neuen Verwaltungsakt, der von der Vollendung des 65. Lebensjahres der Klägerin an Wirkungen entfalten soll.

Der Anwendbarkeit des § 171 Abs. 2 SGG steht nicht entgegen, daß der neue Bescheid vor Revisionseinlegung sowohl ergangen als auch der Klägerin zugestellt worden ist. Zwar gilt im allgemeinen der Grundsatz, daß der Zeitraum bis zur Einlegung des Rechtsmittels noch der unteren Instanz zugehört (vgl. BSG, Urteil vom 21. Oktober 1958 - 2 RU 81/56 - BSGE 8, 164, 166), jedoch muß im Revisionsverfahren die Regelung des § 171 Abs. 2 SGG nicht nur für die Zeit nach der Einlegung der Revision, sondern auch für den Zeitraum zwischen dem Erlaß des Berufungsurteils und der zulässig eingelegten Revision Geltung beanspruchen (so auch Heinze, DAngVers 1969, 328; Schimmelpfeng SGb 1977, 139; Miesbach, Die Abänderung oder Ersetzung des angefochtenen Verwaltungsaktes während des sozialgerichtlichen Verfahrens, Wiesbaden 1959, § 14 VI 1 b, S. 104).

Das folgt einmal aus der Unzulässigkeit der Klageänderung im Revisionsverfahren (§ 168 SGG) und zum anderen aus dem in § 96 SGG konkretisierten Grundgedanken der sinnvollen Prozeßökonomie.

Das SG wird somit über die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 1. Oktober 1979 noch zu entscheiden haben. Dabei wird das SG zu beachten haben, daß Gegenstand des Rechtsstreits der Ersatz einer auf zwischenstaatliches Recht zurückgehenden Rentenleistung durch eine lediglich auf innerstaatlichen deutschen Rechtsvorschriften beruhenden Rente ist.

Die Klägerin hat allein nach innerstaatlichem Recht keinen Anspruch auf das vorzeitige Altersruhegeld (§ 1248 Abs. 3 RVO). Voraussetzung für einen solchen Anspruch ist u.a., daß die Klägerin in den letzten 20 Jahren, also in der Zeit von 1954 bis 1974, überwiegend, also mehr als zehn Jahre, eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt hat. Dabei rechnet, wie der Senat bereits früher entschieden hat (Urteil vom 14. Juni 1962 - 4 RJ 89/59 - BSGE 17, 110, 112 = SozR Nr. 13 zu § 1248 RVO), eine ausländische Beschäftigung nicht mit. Die genannte Voraussetzung liegt sonach aus deutschen Versicherungszeiten nicht vor.

Die Beklagte hat das vorzeitige Altersruhegeld jedoch nach der EWG-VO 1408/71 gewährt, und zwar durch eine auf Art 45 Abs. 1 der VO gegründete Berücksichtigung der Versicherungszeiten, die nach englischem Recht zurückgelegt wurden (vgl. dazu das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften - EuGH - vom 9. Juli 1975 - 20/75 - EuGHE 1975, 891 = SozR 6050 Art. 45 Nr. 1 und das Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 29. November 1978 - 5 RKn 4/77 - BSGE 47, 183). Diese für die Klägerin günstige Anrechnung ist nicht zu beanstanden.

Da der Rentenanspruch der Klägerin nur unter Zuhilfenahme englischer Versicherungszeiten begründet ist, hatte die Berechnung der Höhe des Altersruhegeldes nach EWG-Recht zu erfolgen. Die Beklagte und ihr folgend das LSG haben die hier geltende Vorschrift des Art 46 Abs. 2 der VO 1408/71 richtig angewendet.

Der „theoretische Betrag der Leistung“, auf den die Klägerin Anspruch hätte, wenn alle Versicherungszeiten nach deutschen Rechtsvorschriften zurückgelegt worden wären (Art 46 Abs. 2 Buchst a der VO), ist wie folgt errechnet worden:

  • anrechenbare Versicherungs- und Ausfallzeiten in der Bundesrepublik 117 Monate,
  • anrechenbare englische Versicherungszeiten (aufgrund einer Meldung des DHSS) 1.851 Wochen, umgerechnet nach § 1250 Abs. 2 RVO in 4 Monate,
  • Summe der Beitragszeiten und gleichgestellten Zeiten vor Eintritt des Versicherungsfalles 545 Monate
  • gleich 45,42 Jahre. - Vomhundertsatz: 1,5 x 45,42 = 68,13. - 8.904,16 DM (persönliche Bemessungsgrundlage) x 68,13 : 100 = 6.066,40 DM.
  • Der „tatsächlich geschuldete Betrag“ (Art 46 Abs. 2 Buchst. b der VO) ergibt sich dann im Verhältnis von 117 zu 545 Monaten, also folgendermaßen: 6.066,40 x 117 : 545 = 1.302,32 DM jährlich oder 108,53 DM monatlich.

Die rentensteigernde Berücksichtigung der Ersatzzeit des verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes ist nach EWG-Recht nicht zulässig, weil der gleiche Zeitraum bereits in die Berechnung der englischen Rente eingeht. Denn Art. 46 Abs. 2 Buchst. d der VO 1408/71 bestimmt, daß die Einzelheiten des Berechnungsverfahrens für die Berücksichtigung der sich überschneidenden Zeiten in der in Art. 97 der VO vorgesehenen Durchführungsverordnung festgelegt werden. Diese, die EWG-VO 574/72, regelt jene Fragen in Art. 15 Abs. 1 Buchst. b, c und d. Nach Buchst. c a.a.O. wird, wenn eine nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates zurückgelegte Versicherungs- oder Wohnzeit, die keine gleichgestellte Zeit ist, mit einer nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates gleichgestellten Zeit zusammenfällt, nur die Zeit berücksichtigt, die keine gleichgestellte Zeit ist. Gleichgestellte Zeiten sind nach Art. 1 Buchst. r und s der VO 1408/71 solche Zeiten, die nach den Rechtsvorschriften, unter denen sie zurückgelegt worden sind, als den Versicherungszeiten oder den Beschäftigungszeiten gleichwertig anerkannt sind.

Die Rentenversicherung der Klägerin weist für die Zeit von Februar 1939 bis Dezember 1949 eine nach englischen Rechtsvorschriften zurückgelegte Versicherungs(Beitrags-)zeit, die keine gleichgestellte Zeit ist, und eine nach deutschen Rechtsvorschriften gleichgestellte Zeit, nämlich die Ersatzzeit, aus. Deshalb kann nur die englische Versicherungszeit, die als Beitragszeit stärker ist als eine Ersatzzeit, berücksichtigt werden. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, daß die Ersatzzeit von Februar 1939 bis Dezember 1949 verfolgungsbedingt ist und damit der Klägerin nach deutschem Recht als Wiedergutmachung zusteht. Insbesondere folgt daraus nicht, daß die verfolgungsbedingte Ersatzzeit bei der Zusammenrechnung der Versicherungszeiten als Beitragszeit gelten müßte und aus diesem Grunde nicht gegenüber der britischen Beitragszeit subsidiär wäre. Nach § 12 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22. Dezember 1970 (BGBl. I, 1846) stehen zwar verfolgungsbedingte Ersatzzeiten Beitragszeiten gleich, dies gilt jedoch nur zur Erfüllung der Halbbelegung und ist, wie das BSG bereits festgestellt hat, wegen des Ausnahmecharakters dieser Vorschrift einer ausgehenden Auslegung nicht zugänglich (Urteil vom 27. August 1971 - 1 RA 237/70 - SozR Nr. 13 zu Art. 2 § 14 ArVNG).

Daß die Ersatzzeit bei der Ermittlung der Höhe der deutschen Teilrente nicht berücksichtigt werden kann, stellt keinen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz dar. Die Rüge einer Verletzung des Art. 3 Grundgesetz (GG) gegenüber dem Gemeinschaftsrecht hat der 11. Senat des BSG in seinem Urteil vom 10. September 1980 - 1 RA 74/78 - (zur Veröffentlichung vorgesehen) unter Hinweis auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 25. Juli 1979 (BVerfGE 52, 187) nicht für zulässig gehalten. Die Rüge ist darüber hinaus im vorliegenden Fall auch unbegründet. Durch die Nichtanrechnung der Ersatzzeit wird die Klägerin nicht schlechtergestellt, als wenn sie im Geltungsbereich der RVO hätte verbleiben können. Auch im innerdeutschen Recht verdrängt eine Beitragszeit einen gleichzeitig bestehenden Ersatzzeittatbestand, und zwar auch dann, wenn die entrichteten Beiträge niedriger sind als der Wert der Ersatzzeit. Es erscheint nur folgerichtig, wenn dieses versicherungsrechtliche Prinzip auch im Gemeinschaftsrecht der EWG gilt, zumal in der Präambel zur EWG-VO 1408/71 sinngemäß ausgeführt wird, den Arbeitnehmern, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwanderten, solle nur insoweit die Beibehaltung der erworbenen Rechte und Vorteile ermöglicht werden, als dies nicht zu ungerechtfertigten Kumulierungen führe.

Die von der Klägerin angeführten Urteile des EuGH

a)vom 21. Oktober 1975 - 24/75 - in dem Rechtsstreit Petroni ./. Office national (EuGHE 1975, 1149 = SozR 6050 Art. 46 Nr. 1 = ABl EG Nr. C 3/76 S. 4),
b)vom 3. Februar 1977 - 62/76 - in dem Rechtsstreit Strehl ./. Nationaal Pensioenfunds (EuGHE 1977, 211 = SozR 6050 Art 46 Nr. 2 = ABl EG Nr. C 47/77 S. 3) und
c)vom 13. Oktober 1977 - 112/76 - in dem Rechtsstreit Manzoni ./. Fonds National (EuGH 1977, 1647 = SozR 6050 Art.  46 Nr. 3 = ABl EG Nr. C 275/77 S. 2)

betreffen andere Rechtsfragen. Sie erklären Art. 46 Abs. 3 der VO 1408/71 als mit Art. 51 des EWG-Vertrages unvereinbar; zu Art. 46 Abs. 2 der VO sind sie nicht von Interesse.

Schließlich läßt sich der Klageanspruch auch nicht mit dem Hinweis darauf begründen, daß die Klägerin für die Erfüllung ihres Rentenanspruchs den Zeitraum von 1954 bis 1974 benötigt, während die Ersatzzeit auf den Zeitraum von 1939 bis 1949 falle. Da der Rentenanspruch der Klägerin aus deutschen Versicherungszeiten allein nicht entstehen kann, bietet ihr das Gemeinschaftsrecht die Möglichkeit, durch Zuhilfenahme anderer Zeiten zum Anspruch zu gelangen. Es sieht aber nicht die Möglichkeit vor, aus den fremden Zeiten einzelne Teile - nach Belieben - herauszulösen und die anderen Teile in dem fremden Sozialversicherungssystem geltend zu machen. Auch im deutschen Versicherungsrecht steht es dem Versicherten nicht frei, bei der Begründung eines Rentenanspruchs irgendwelche Zeitabschnitte aus seinem Versicherungsverlauf herauszulösen.

Die Revision der Klägerin war sonach zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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