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1 RA 61/78

Aus den Gründen

Der 1904 geborene Kläger ist Verfolgter i.S. des § 1 des BEG. Nach dem Besuch des Gymnasiums und der Absolvierung einer Banklehre war er ab 01.04.1924 bei der O Büromaschinenwerke AG E. tätig. Zunächst wurde er als Korrespondent oder Kontorist in der in B. befindlichen Verkaufsabteilung und sodann als Vertreter in der Stadtsektion B. beschäftigt. Am 01.10.1926 wurde er zum Instrukteur für die Verkaufsgebiete Süd- und Norddeutschland und später zum Geschäftsführer der damals unabhängigen Filiale in D. bestellt. Vom 01.10.1930 an war er Geschäftsführer und einziges Vorstandsmitglied der O Büromaschinenwerke AG in P. Hierbei handelte es sich um eine selbständige Vertriebsgesellschaft, deren alleiniger Aktionär die O AG in E. war. Das Beschäftigungsverhältnis des Klägers endete auf Betreiben der nationalsozialistischen Machthaber mit Ablauf des 31.12.1938. In der Folgezeit war der Kläger in der Tschechoslowakei als Waldarbeiter beschäftigt. Von 1943 bis 1945 war er in Konzentrationslagern inhaftiert. Ab April 1945 bis zu seiner Auswanderung in die Vereinigten Staaten leitete er wiederum die O AG in P., die jedoch in wesentlichen Teilen abgebaut wurde und nur noch einen Reparaturbetrieb unterhielt.

Mit Bescheid vom 21.08.1972 bewilligte die beklagte BfA dem Kläger für die Zeit ab 01.09.1969 Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Mit einem weiteren Bescheid vom selben Tage berechnete sie das Altersruhegeld aufgrund des WGSVG vom 22.12.1970 (BGBl. I 846) für die Bezugszeit ab 01.02.1971 neu. In beiden Bescheiden wurde die Zeit von 1930 bis 1938 nicht als Versicherungszeit berücksichtigt.

Der Kläger erhob deswegen Klage. Im Verlaufe des Verfahrens nahm die Beklagte durch zwei Bescheide vom 22.05.1973 eine Neuberechnung des Altersruhegeldes vor. Hierbei berücksichtigte sie den Zeitraum vom 01.10.1930 bis 31.12.1938 als glaubhaft gemachte, die Zeiten vom 01.01. bis 13.05.1940, vom 01.01. bis 23.05.1941 sowie vom 23.06. bis 28.08.1942 als nachgewiesene tschechoslowakische Beitragszeiten und die übrigen Zeiten zwischen dem 01.01.1939 bis zum 30.04.1945 als Ersatzzeiten. Die Beitragszeiten und die Ersatzzeiten, soweit sie als verfolgungsbedingt angesehen wurden, wurden der Leistungsgruppe (LG) B 2 der Anl. 1 zu § 22 FRG vom 25.02.1960 (BGBl. I 93) zugeordnet. Ebenso verfuhr die Beklagte bei den durch eine Beitragsnachentrichtung veranlaßten Neufeststellungen des Altersruhegeldes durch die Bescheide vom 26.07.1974 und vom 21.03.1975. Demgegenüber begehrte der Kläger eine Einordnung der Zeiten in die LG B 1.

Das SG hat unter Abweisung der weitergehenden Klage die angefochtenen Bescheide abgeändert und die Beklagte verurteilt, bei der Berechnung des dem Kläger gewährten Altersruhegeldes die in der Zeit vom 01.09.1934 bis 31.10.1947 anerkannten Beitrags- und Ersatzzeiten mit Werten der LG 1 der Anl. 1 B zu § 22 FRG zu bewerten. Das LSG hat auf die Berufung der Beklagten die Klage insoweit abgewiesen, als der Kläger eine günstigere Bewertung der anerkannten Beitragszeiten vom 01.05.1945 bis zum 31.10.1947 begehrt hat. Im übrigen hat es die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Gegenstand des Rechtsstreits ist, nachdem allein die Beklagte Revision eingelegt hat, die Bewertung der Beitrags- und Ersatzzeiten während des Zeitraums vom 01.09.1934 bis zum 30.04.1945. Rechtsgrundlagen hierfür sind § 22 Abs. 1 FRG und § 13 Abs. 1, § 14 Abs. 1 WGSVG. Nach § 22 Abs. 1 Satz  1 Buchst. b) FRG werden, wenn Zeiten der in § 15 FRG genannten Art (Beitragszeiten bei nichtdeutschen RV) als Versicherungszeiten angerechnet werden und der RV der Angestellten zuzuordnen sind, diesen Zeiten bestimmte Gehalts- oder Beitragsklassen bzw. (für Zeiten ab 01.07.1942 an) bestimmte Bruttojahresarbeitsentgelte nach Maßgabe der Anl. 1 zu § 22 FRG zugrunde gelegt. Das gilt, sofern dies gegenüber einer Berechnung nach den allgemeinen Vorschriften für den Berechtigten günstiger ist, entsprechend für Verfolgungszeiten, wenn durch sie eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit unterbrochen oder beendet worden ist (§ 13 Abs. 1 WGSVG) oder wenn der Verfolgte aus Verfolgungsgründen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung ein geringeres Arbeitsentgelt als ein nicht verfolgter Versicherter erhalten hat (§ 14 Abs. 1 WGSVG). Anlage 1 zu § 22 FRG enthält eine Definition der Leistungsgruppen. Danach gehören in der RV der Angestellten zur LG B 1 Angestellte in leitender Stellung mit Aufsichts- und Dispositionsbefugnis. Die LG B 2 umfaßt insbesondere Angestellte mit besonderen Erfahrungen und selbständigen Leistungen in verantwortlicher Tätigkeit mit eingeschränkter Dispositionsbefugnis, die Angestellte anderer Tätigkeitsgruppen einzusetzen und verantwortlich zu unterweisen haben.

Für die Einstufung in die LG B 1 ist zunächst maßgebend, daß die Angehörigen dieser Leistungsgruppe über die Angehörigen der LG B 2 herausragen müssen. Zwar setzt dies keine uneingeschränkte Aufsichts- und Dispositionsbefugnis voraus, weil eine gewisse Einschränkung dieser Befugnis zum Wesen jeder Arbeitnehmertätigkeit gehört. Jedoch muß bei den Angestellten der LG B 1 die Aufsichts- und Dispositionsbefugnis umfangreich gewesen sein; sie müssen in der Regel unternehmerische Funktionen jedenfalls hinsichtlich eines wesentlichen Teilbereichs des Unternehmens selbständig und eigenverantwortlich wahrgenommen haben. Überdies müssen sich die Tätigkeit des Angestellten in leitender Stellung und seine Aufsichts- und Dispositionsbefugnisse in einem Rahmen abgespielt haben, dem erhebliche wirtschaftliche Bedeutung zugekommen ist. Hierfür sind in erster Linie die Größe und Bedeutung des Unternehmens maßgebend, in dem der Versicherte leitend tätig gewesen ist. Schließlich müssen, wie sich insbesondere aus einem Vergleich mit den Merkmalen der LG B 2 ergibt, auch als Voraussetzung für eine Einordnung in die LG B 1 besondere Erfahrungen in dem dem Angestellten übertragenen Tätigkeitsbereich vorhanden gewesen sein, die das Maß der für die LG B 2 geforderten besonderen Erfahrungen überschritten haben. Die hiernach erforderlichen Erfahrungen werden regelmäßig nicht vor der Erreichung des 45. Lebensjahres erworben worden sein. Allerdings können sie insbesondere aufgrund einer qualifizierten Ausbildung wie z.B. eines Hochschulstudiums auch schon vor der Erreichung dieses Alters vorgelegen haben. Vor allem akademisch ausgebildete Angestellte können das für die Einstufung in die LG B 1 geforderte hohe Maß an Erfahrungen schon vor Erreichen des 45. Lebensjahres besessen haben, wenn sie bereits vorher eine berufliche Position erreicht haben, die sich aus den allgemeinen Positionen ihrer Kollegen deutlich herausgehoben hat. Dies muß objektiv feststellbar, und evident sein. Begabung, Befähigung, Fleiß und Können vermögen für sich allein die Voraussetzung hoher beruflicher Erfahrungen nicht zu ersetzen (vgl. BSGE 24, 113, 114f = SozR Nr. 2 zu § 22 FRG; BSGE 39, 95, 97 = SozR 5050 § 22 Nr. 1; BSGE 40, 284, 286 = SozR 5050 § 22 Nr. 2; BSG SozR Nr. 3 zu § 22 FRG und Nr. 3 zu § 23 FRG; BSG Praxis 1971, 91; BSG DAngVers 1977, 297; Urteile vom 20.11.1973 - 11 RA 20/73 - und vom 24.11.1978 - BSGE 47, 168).

Das Berufungsgericht hat zu Recht für die hier allein noch streitige Zeit ab 01.09.1934 die Voraussetzungen einer Einordnung der Tätigkeit des Klägers in die LG B 1 als erfüllt angesehen.

Ohne Rechtsfehler ist es zunächst zu dem Ergebnis gelangt, daß der Kläger eine umfassende Aufsichts- und Dispositionsbefugnis gehabt habe, wie sie für eine Zuordnung seiner Tätigkeit in die LG B 1 erforderlich ist. Zu diesem Ergebnis ist es aufgrund der Feststellungen gelangt, daß der Kläger alleiniger Geschäftsführer einer Aktiengesellschaft gewesen ist und im Rahmen des geltenden Aktienrechts die Befugnis gehabt hat, alle Maßnahmen im Rahmen des üblichen Geschäftsablaufs zu entscheiden, wobei er lediglich gegenüber dem Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft und gegenüber der Mutterfirma in Fragen besonderer Bedeutung oder gemäß den Erfordernissen des Aktienrechts verantwortlich gewesen ist. Gegen diese Feststellungen hat die Beklagte Revisionsrügen nicht vorgebracht; sie sind daher für den Senat bindend (§ 163 SGG). Auf ihrer Grundlage ist die Schlußfolgerung, daß der Kläger eine für die Einordnung in die LG B 1 erforderliche umfassende Aufsichts- und Dispositionsbefugnis besessen hat, rechtlich nicht zu beanstanden.

Dasselbe gilt für die Auffassung des Berufungsgerichts, die Aufsichts- und Dispositionsbefugnis habe in einem Rahmen bestanden, dem erhebliche Bedeutung zukomme. Das LSG hat hierzu festgestellt, daß der Kläger alleiniger Geschäftsführer einer Aktiengesellschaft und diese für den gesamten Vertrieb eines großen deutschen Industrieunternehmens in der Tschechoslowakei zuständig gewesen sei. Ihm hätten jedenfalls nach Abschluß der Gründungsphase der Gesellschaft ein Prokurist und 30 festangestellte sowie eine Vielzahl sonstiger Personen in der Zentrale der Gesellschaft und in den Filialen aller größeren Städte der Tschechoslowakei unterstanden. Diese Feststellungen sind ebenfalls von der Beklagten nicht angegriffen worden und deshalb für den Senat bindend. Sie tragen das rechtliche Ergebnis, daß sich die Aufsichts- und Dispositionsbefugnis des Klägers in einem Rahmen von erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung abgespielt hat.

Das LSG hat schließlich rechtsfehlerfrei angenommen, daß der Kläger in der hier maßgeblichen Zeit ab 01.09.1934 das für die Ausübung seiner Tätigkeit erforderliche hohe Maß an beruflichen Erfahrungen besessen hat. Zunächst steht diese Annahme nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung des BSG. Zwar hat dieses wiederholt unterstrichen, daß Befähigung und Können allein noch nicht die Voraussetzung hoher beruflicher Erfahrungen erfüllen (vgl. insbesondere BSGE 40, 284, 286 = SozR 5050 § 22 Nr. 2). Der Senat teilt diese Auffassung. Das LSG hat jedoch nicht aus der Befähigung und dem Können des Klägers auf hohe berufliche Erfahrungen geschlossen. Es hat diese Schlußfolgerung vielmehr daraus gezogen, daß der Kläger schon im Lebensalter von 30 Jahren eine berufliche Position erreicht gehabt hat, die sich aus den allgemeinen Positionen gleichaltriger kaufmännischer Angestellter deutlich herausgehoben hat. Hiermit hat das LSG ersichtlich an die Urteile des BSG vom 29.01.1975 (BSGE 39, 95, 97 = SozR 5050 § 22 Nr. 1), vom 23.10.1975 (BSGE 40, 284, 286 = SozR 5050 § 22 Nr. 2) und vom 14.091976 (Praxis 1977, 91) angeknüpft, wonach vor dem 45. Lebensjahr besondere Erfahrungen nur dann erworben sein können, wenn der Angestellte schon zuvor eine berufliche Position erreicht hat, die sich aus den allgemeinen Positionen seiner Berufskollegen deutlich heraushebt. Dies hat das BSG bislang allerdings nur für Angestellte mit akademischer Ausbildung ausgesprochen. Es bestehen jedoch keine grundsätzlichen Bedenken dagegen, auch bei Angestellten ohne eine solche Ausbildung bei Erfüllung der übrigen Voraussetzungen für eine Einordnung in die LG B 1 aus einer deutlich hervorgehobenen beruflichen Position auf das Vorliegen der hierfür erforderlichen besonderen Erfahrungen zu schließen. Das gilt jedenfalls für Angestellte im Bereich der gewerblichen Wirtschaft. In diesem dem Wettbewerb und dem Konkurrenzdruck ausgesetzten Bereich sind hohe berufliche Erfahrungen regelmäßig essentielle Voraussetzung für die Übertragung einer der LG B 1 entsprechenden leitenden Tätigkeit. Für den Regelfall - Ausnahmen mögen beispielsweise in Familienunternehmen gelten - kann nicht angenommen werden, daß leitende Positionen mit Angestellten besetzt werden, die nicht das für eine wirtschaftlich erfolgreiche Ausübung ihrer leitenden Tätigkeit erforderliche besonders hohe Maß an Erfahrungen mitbringen. Allerdings kann nicht außer Betracht bleiben, daß berufliche Erfahrungen in erster Linie durch praktische Ausübung der jeweiligen beruflichen Tätigkeit erworben werden und ihr Ausmaß somit auch vom Lebensalter des Betreffenden abhängt. Das Lebensalter kann jedoch nicht mehr als eines von mehreren Indizien für das Vorliegen besonderer Erfahrungen sein. Ergeben sich diese bereits aus anderen Anhaltspunkten wie etwa aus der tatsächlichen Erreichung und Innehabung einer besonders hervorgehobenen beruflichen Position, so kann allein wegen eines relativen niedrigen Lebensalters des Versicherten das Vorhandensein besonders hoher beruflicher Erfahrungen nicht verneint werden. Das muß umsomehr gelten, als die Einordnung in die LG B 1 selbst nicht von einem bestimmten Lebensalter abhängig gemacht worden ist und im Rahmen der übrigen Leistungsgruppen die Berufsgruppenkataloge, nach denen die Zuordnung zu einer Leistungsgruppe teilweise von der Erreichung eines bestimmten Lebensalters abhängig ist, gegenüber der einleitenden Definition der jeweiligen Leistungsgruppe den Nachrang haben, so daß bei Erfüllung der Merkmale der einleitenden Definitionen dem Lebensalter des Versicherten keine maßgebliche Bedeutung mehr beigemessen werden kann (vgl. BSG SozR Nrn. 6 und 7 zu § 22 FRG; BSGE 29, 181, 183 = SozR Nr. 8 zu § 22 FRG).

Der Senat übersieht nicht, daß insbesondere bei Berücksichtigung des unausweichlichen Zwanges zur Schematisierung (vgl. BSGE 40, 284, 286 = SozR 5050 § 22 Nr. 2) das Vorliegen der für eine Einordnung in die LG B 1 erforderlichen besonders hohen beruflichen Erfahrungen bei Angestellten mit einem Lebensalter unter 45 Jahren nur in Ausnahmefällen angenommen werden kann. Die Schematisierung darf jedoch nicht dazu führen, daß ein nachweisbar schon in jüngeren Lebensjahren erreichter ungewöhnlicher beruflicher Erfolg allein unter Hinweis auf das Lebensalter als nicht eingetreten angesehen wird. Der Kläger hat nach den Feststellungen des LSG einen solchen ungewöhnlichen Berufserfolg erzielt. Ihm ist bereits mit 26 Jahren die verantwortliche Leitung der - damals allerdings zunächst im Aufbau begriffenen - selbständigen ausländischen Vertriebsgesellschaft eines großen deutschen Industrieunternehmens übertragen worden. Speziell in dieser Tätigkeit hat er bis zum Beginn des hier noch allein streitigen Zeitraums (01.09.1934) vier weitere Jahre lang berufliche Erfahrungen sammeln können (zur Berücksichtigung dieses Gesichtspunkts vgl. Urteil des BSG vom 03.02.1977 - 11 RA 24/76 -). Diese haben ihrerseits zu den nach den Feststellungen des LSG vom Arbeitgeber bezeugten „unübertrefflichen Erfolgen“ geführt. Auf der Grundlage dessen ist die Zuordnung der fremden Beitragszeit ab 01.09.1934 zur LG B 1 der Angestellten rechtlich nicht zu beanstanden.

Dasselbe gilt dann aber auch für die während des Zeitraums vom 01.01.1939 bis zum 30.04.1945 zurückgelegten Ersatzzeiten der Verfolgung und anerkannten fremden Beitragszeiten mit verfolgungsbedingtem Minderverdienst.

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