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8b RKg 12/78

Sonstiger Orientierungssatz

Zum Anspruch auf Kindergeld bei mehr als zweijährigem Auslandsaufenthalt:

1. Zu der Frage, wann jemand einen Wohnsitz im Geltungsbereich des Bundeskindergeldgesetzes hat.

2. Zur Anwendbarkeit des steuerrechtlichen Wohnsitzbegriffs im Sozialrecht.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 26. Oktober 1978 aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 12. April 1978 wird zurückgewiesen.

Die Revision der Beklagten wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten aller Rechtszüge zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin für ihre drei minderjährigen Kinder Kindergeld auch für die Zeit eines Auslandsaufenthaltes zusteht.

Die Klägerin lebt von ihrem Ehemann seit mehreren Jahren getrennt und ist inzwischen von ihm geschieden. Sie ist die Mutter der 1961, 1963 und 1967 geborenen Kinder Manuela, Thekla und Bastienne, die mit ihr im gemeinsamen Haushalt leben. Die Eheleute hatten die Klägerin zur Kindergeldberechtigten bestimmt.

Vom 25. Februar 1975 bis Februar 1977 hielt sich die Klägerin mit den Kindern in Chile auf. Sie bewohnte bis zu ihrer Abreise ein ihr gehörendes Haus in B. Seit dem 22. Februar 1977 wohnt die Klägerin mit ihren Kindern nach ihrer Rückkehr aus Chile in H; das Arbeitsamt H zahlt ihr ab März 1977 Kindergeld. Nachdem die Beklagte von dem Auslandsaufenthalt der Klägerin, den sie der Beklagten nicht angezeigt hatte, im Juli 1975 erfahren hatte, entzog sie ihr das Kindergeld ab 1. März 1975 und forderte es in der bis zum 30. Juni 1975 gezahlten Höhe von 960,- DM zurück (Bescheid vom 30. Juli 1975). Den Widerspruch wies sie zurück (Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 1976).

Das Sozialgericht Köln (SG) hat den Bescheid vom 30. Juli 1975 "in der Fassung" des Widerspruchsbescheides vom 27. Februar 1976 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin unter Berücksichtigung ihrer Kinder Manuela, Thekla und Bastienne Kindergeld in gesetzlicher Höhe für die Zeit vom 1. Juli 1975 bis einschließlich Februar 1977 zu zahlen. Es hat die Berufung zugelassen (Urteil vom 12. April 1978).

Das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (LSG) hat das Urteil des SG abgeändert, den Bescheid der Beklagten vom 30. Juli 1975 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27. Februar 1976 aufgehoben, soweit damit Kindergeld entzogen und zurückgefordert worden ist und die Beklagte unter entsprechender Abänderung dieser Bescheide verurteilt, der Klägerin Kindergeld für die Zeit vom 1. Juli 1975 bis 31. Januar 1976 zu zahlen. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 26. Oktober 1978).

Beide Beteiligten haben Revision eingelegt. Sie rügen eine Verletzung des § 1 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG). Die Klägerin ist der Auffassung, sie habe während ihres gesamten Auslandsaufenthalts ihren Wohnsitz in B niemals aufgegeben. Die Beklagte meint, die Klägerin habe bereits seit ihrer Abreise nach Chile keinen Wohnsitz und keinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland mehr gehabt.

Die Klägerin beantragt:

  • das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 26. Oktober 1978 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 12. April 1978 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

  • das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 26. Oktober 1978 aufzuheben, soweit es die Beklagte beschwert, das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 12. April 1978 in gleichem Umfange aufzuheben und die Klage vollen Umfangs abzuweisen sowie die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

  • die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist begründet, die der Beklagten dagegen nicht. Die Klägerin hat Anspruch auf Kindergeld für die gesamte Zeit des Auslandsaufenthaltes vom 1. März 1975 bis einschließlich Februar 1977. Das SG hat daher zu Recht den Entziehungs- und Rückforderungsbescheid der Beklagten aufgehoben und der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Das angefochtene Urteil des LSG ist daher aufzuheben, die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG und die Revision der Beklagten sind zurückzuweisen.

Als die Klägerin mit ihren drei minderjährigen Kindern am 25. Februar 1975 nach Chile reiste, gab sie ihren Wohnsitz in B nicht auf; sie behielt ihn auch bis zu ihrer Rückkehr im Februar 1977 bei (§ 1 Nr. 1 BKGG). Ob jemand einen Wohnsitz im Geltungsbereich des BKGG hat, richtet sich entsprechend den zur Klarstellung mit Art. 10 Nr. 3 des Finanzänderungsgesetzes vom 21. Dezember 1967 (BGBl I 1259, 1277) u.a. in § 1 BKGG eingefügten Klammerzusatz (vgl. den Bericht des 13. Haushaltsausschusses zu BT-Drucks V/2341 S. 14) nach § 13 StAnpG vom 16. Oktober 1934 (BGBl I 925). Dieser Zusatz ist durch Art 90 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung vom 14. Dezember 1976 (BGBl. I 3341) gestrichen worden, nachdem die §§ 13 und 14 StAnpG durch die nahezu gleichlautenden §§ 8 und 9 der Abgabenordnung vom 16. März 1976 - AO 1977 - (BGBl. I 613) ersetzt und die Begriffe des Wohnsitzes und des gewöhnlichen Aufenthaltes inzwischen in § 30 Abs. 3 des am 1. Januar 1976 in Kraft getretenen Sozialgesetzbuchs - Allgemeiner Teil - (SGB 1) auch für das Kindergeldrecht verbindlich, und zwar gleichlautend mit den §§ 8 und 9 AO 1977 geregelt worden sind (vgl. Urteile des erkennenden Senats in SozR 5870 § 8 Nr. 3 und vom 27. April 1978 - 8 RKg 2/77 - nicht veröffentlicht -). Trotz dieser Gesetzesänderungen ist also der Begriff "Wohnsitz" inhaltlich unverändert geblieben. Er galt und gilt inhaltsgleich im Steuer- und Kindergeldrecht. Danach hat jemand seinen Wohnsitz dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, daß er die Wohnung beibehalten und benutzen wird (§ 13 StAnpG; § 30 Abs. 3 Satz 1 SGB 1).

Schon nach dem Gesetzeswortlaut sind für die Bestimmung des Wohnsitzes die tatsächlichen Umstände maßgebend. So hat der Bundesfinanzhof (BFH) in ständiger Rechtsprechung den Wohnsitz nur nach tatsächlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten, nicht dagegen etwa nach den §§ 7 und 8 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) beurteilt (BFH 93, 498; BStBl. III 1964, 462, 535; II 1968, 308; Böttcher usw., Kommentar zum Einkommensteuergesetz, Stand August 1977, Anm. 16 bis 25 zu § 1 EStG). Der erkennende Senat hat sich bereits in seinem Urteil vom 27. April 1978 (aaO) dieser Auslegung des BFH angeschlossen (vgl. auch Wannagat, Sozialgesetzbuch, § 30 AT RdNr. 15).

Nach den tatsächlichen, nicht angegriffenen Feststellungen des LSG hatte die Klägerin bis zu ihrer Abreise ein eigenes Haus in B. bewohnt. Sie war sich zunächst nicht darüber im klaren, wie lange sie in Chile bleiben wollte; sie wollte dies vielmehr davon abhängig machen, wie es ihr dort gefallen werde. Sie hatte niemals die Absicht, für immer in Chile zu bleiben und war auch dort nicht durch berufliche oder andere Interessen gebunden. Sie hatte das Haus zunächst an die Eheleute B. für die Dauer von 11 Monaten mit der gesamten Einrichtung und persönlichen Gegenständen vermietet, jedoch vereinbart, daß bei einer früheren Rückkehr die Eheleute B. das Haus räumen würden. Im Februar 1976 wurde dieser Vertrag um ein Jahr verlängert. Es sind keine Anhaltspunkte erkennbar, daß sich die Eheleute B. etwa nicht an die getroffenen Vereinbarungen gehalten hätten, vor allem das Haus nicht geräumt hätten, wenn die Klägerin mit ihren Kindern früher als vorgesehen zurückgekehrt wäre. Ihre Wohnung im Inland stand der Klägerin also jederzeit zur Benutzung zur Verfügung. Sie hatte sie damit inne. Ob die Klägerin während des gesamten streitigen Zeitraumes polizeilich in Bergisch-Gladbach gemeldet war, ist unerheblich (BFH BStBl 1970, 153; Tipke-Kruse, Abgabenordnung, 9. Aufl. Stand November 1978, § 8 RdNr 5 und 6). Das allein reicht aber zur Begründung oder Aufrechterhaltung eines Wohnsitzes nicht aus. Ein Wohnsitz ist auch dann aufgegeben, wenn die Wohnung nicht mehr benutzt wird, und zwar weder durch Angehörige noch durch Bedienstete noch durch den Wohnungsinhaber selbst (Tipke-Kruse, aaO, § 8 RdNr. 6). Eine Ausreise ins Ausland ist als Aufgabe des Wohnsitzes anzusehen, wenn der Berechtigte den Umständen nach nicht ins Inland zurückkehren wird (BFH BStBl 1972, 949). Der Reichsfinanzhof (RFH) hat es als ausreichend angesehen, wenn der Berechtigte seine inländische Wohnung in absehbarer Zeit nicht mehr benutzen werde; daß er sie niemals benutzen werde, ist nicht erforderlich (RFH RStBl. 1937, 382; BFH BStBl. III 1968, 818). Eine vorübergehende Unterbrechung in der Benutzung der Wohnung beendet daher den Wohnsitz nicht (RFH RStBl. 1934, 1104). Andererseits genügt der Wille allein, einen Wohnsitz im Inland beizubehalten, nicht. Vielmehr dürfen die tatsächlichen Umstände der Benutzung nicht entgegenstehen. Es ist durchaus möglich, daß zunächst in der Schwebe bleibt, ob und wann der Berechtigte ins Inland zurückkehren wird, ohne daß damit die Aufgabe des Wohnsitzes verbunden sein muß. Allerdings kann ein solcher Zustand der Ungewißheit nicht jahrelang andauern (RFH RStBl. 1935, 86, 87). Dem Fortbestehen ihres inländischen Wohnsitzes steht auch nicht entgegen, daß die Klägerin sich für längere Zeit im Ausland aufgehalten hat und gegebenenfalls dort in dieser Zeit ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Zwar kann ein Berechtigter nur einen gewöhnlichen Aufenthalt haben, daneben aber einen anderen Wohnsitz (BFH BStBl. III, 1966, 522 f). So hat der RFH einen Auslandsaufenthalt von mehr als einem Jahr in der Regel als Anzeichen dafür angesehen, daß der Berechtigte seinen inländischen Wohnsitz endgültig aufgeben wolle. Eine feste zeitliche Grenze hat er jedoch niemals gezogen (RStBl. 1937, 382). Ebenso hat das Bundessozialgericht (BSG) einen vorübergehenden Auslandsaufenthalt im Sinne von §§ 1319, 1320 RVO (in der bis zum 30. Juni 1977 geltenden Fassung = jetzt § 1319 Abs. 1 RVO) angenommen, wenn und solange den gesamten Umständen nach anzunehmen ist, daß er beschränkt sein soll; die im Gesetz genannte Jahresgrenze sei keine feste zeitliche Grenze (SozR Nr. 4 zu § 1319 RVO). Überdies schließt eine vorübergehende Entsendung ins Ausland den Kindergeldanspruch nicht aus (§ 1 Nr. 2a BKGG). Für die Zeit vor dem Inkrafttreten des Sozialgesetzbuches - Gemeinsame Vorschriften - (SGB 4) am 1. Juli 1977 hatte die Rechtsprechung des BSG zunächst eine "Ausstrahlung" im Sinne einer vorübergehenden Auslandsbeschäftigung für die Dauer von etwa einem Jahr angenommen. Der 3. Senat des BSG hat diesen Zeitraum auf zwei Jahre ausgedehnt (BSGE 39, 241, 242). Diese Zeit hat der erkennende Senat auch im Sinne einer vorübergehenden Entsendung für maßgeblich erachtet (Urteil vom 27. April 1978, aaO). Wenigstens eine solche Zeitspanne hält der Senat auch für die Beurteilung der Frage für angemessen, ob ein Wohnsitz im Inland aufrechterhalten bleibt, soweit die weiteren Voraussetzungen erfüllt sind, daß nämlich die Wohnung jederzeit zur Benutzung zur Verfügung steht und der Berechtigte nicht die Absicht hat, auf unabsehbare Zeit im Ausland zu verweilen und seiner Rückkehr keine tatsächlichen Hindernisse entgegenstehen (vgl. auch: Jahrbuch des Steuerrechts 1961, S. 179, wo bei einer dreijährigen Auslandsreise und Vermietung der Wohnung keine Aufgabe des inländischen Wohnsitzes angenommen worden ist).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

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