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5 RKn 13/76

Gründe I.

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem im Jahre 1932 geborenen Kläger die Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit nach § 45 Abs. 1 Nr. 1 Reichsknappschaftsgesetz (RKG) zusteht.

Der Kläger arbeitete im Bergbau bis zum 29. Januar 1972 als Anschläger 2 unter Tage (Lohngruppe 07). Am 30. Januar 1972 erlitt er einen Sportunfall mit stumpfem Bauchtrauma, Leberriß und Gallenblasenperforation. Seitdem kann er nur noch leichte und einfache körperliche Arbeiten über Tage, vorwiegend in geschlossenen Räumen und ohne häufiges Bücken und ohne Heben von Lasten verrichten. Er wird nunmehr von seinem Betrieb als Wächter im Streifendienst geführt und ist nach seinen Angaben als Wächter in der Fahrwache bzw. auf dem Auto-Parkplatz eingesetzt. Uneinigkeit besteht vor allem darüber, ob der Kläger als früherer Anschläger 2 im Rahmen des § 45 Abs. 2 RKG auf die Tätigkeiten als Hilfsarbeiter im Büro und als Telefonist (Lohngruppe 04) verwiesen werden kann.

Die Beklagte hat mit Bescheid vom 16. Juni 1972 und Widerspruchsbescheid vom 21. August 1972 den im Februar 1972 gestellten Rentenantrag des Klägers abgelehnt. Auf die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen die Beklagte mit Urteil vom 12. Dezember 1973 verurteilt, ab Februar 1972 verminderte bergmännische Berufsfähigkeit anzunehmen und dem Kläger Bergmannsrente zu zahlen. Auf die hiergegen von der Beklagten eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 29. Januar 1976 das Urteil des SG abgeändert und die Klage abgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, der Kläger sei mit der von ihm verrichteten knappschaftlichen Arbeit als Anschläger 2 in der Lohngruppe 07 eingestuft gewesen. Der Anschläger 2 sei mit dem Beschicken der Körbe an Hauptförderschächten oder Blindschächten einschließlich der Durchführung der Seilfahrt eingesetzt. Voraussetzung für den Einsatz als Anschläger 2 sei eine Beschäftigung beim Schachtförderbetrieb unter Tage auf die Dauer von wenigstens einem halben Jahr und eine Einweisungszeit von zwei bis vier Wochen mit einer Unterrichtung über die Dienstobliegenheiten. Die Bestellung erfolge durch den Betriebsführer oder eine von ihm beauftragte Aufsichtsperson. Der Kläger könne noch als Hilfsarbeiter im Büro und als Telefonist, nicht aber als Lampenwärter, Stellwerkswärter und Maschinenwärter tätig sein. Einer Beschäftigung als Telefonist stehe auch die chronische Mittelohrentzündung des rechten Ohres nicht entgegen, weil das linke Ohr unversehrt sei und Umgangssprache gut verstanden werde. Diese Tätigkeiten seien in der Lohnstufe 04 eingestuft und damit der früher ausgeübten Tätigkeit im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig. Sie würden auch von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in knappschaftlich versicherten Betrieben ausgeübt, zumal die verhältnismäßig hohe Einstufung des Anschlägers 2 in die Lohngruppe 07 nicht auf den für diese Tätigkeit erforderlichen Kenntnissen und Fähigkeiten, sondern den negativen Bedingungen und Belastungen des Arbeitsplatzes oder auf den besonderen Eigenschaften des Arbeitnehmers beruhten, die aber nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bei der Beurteilung der qualitativen Gleichwertigkeit von Kenntnissen und Fähigkeiten außer Betracht bleiben müßten. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.

Mit der Revision macht der Kläger geltend, die Verweisungstätigkeiten seien der Tätigkeit des Anschlägers 2 qualitativ nicht gleichwertig. Abgesehen davon, könne er aber auch auf die Tätigkeit eines Telefonisten nicht verwiesen werden, denn ihm sei das Tragen von Kopfhörern wegen einer chronischen Mittelohrentzündung des rechten Ohres mit Trommelfellperforation und geringer eitriger Sekretion aus dem Mittelohr nicht zuzumuten. Wenn in Fällen der vorliegenden Art keine verminderte bergmännische Berufsfähigkeit gegeben sei, sei der nach dem gesetzlichen Aufbau erforderliche Abstand zwischen Bergmannsrente und Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit nicht mehr gegeben. Hierzu verweist er auf die Entscheidung des erkennenden Senats im SozR Nr. 35 zu § 45 RKG. Ein Anschläger 2 werde wie ein angelernter Handwerker entlohnt. Wenn nach der Rechtsprechung des BSG ein Lehrhauer, der ebenfalls als angelernter Arbeiter angesehen werde, nicht auf die Tätigkeiten eines Hilfsarbeiters im Büro verwiesen werden könne, dann müsse das auch für den Anschläger 2 gelten. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.

Der Kläger beantragt,

  • das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 29. Januar 1976 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 12. Dezember 1973 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

  • die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 29. Januar 1976 zurückzuweisen.

Die Beklagte ist der Ansicht, der Kläger könne als früherer Anschläger 2 bei der Prüfung der verminderten bergmännischen Berufsfähigkeit auf die Tätigkeiten eines Hilfsarbeiters im Büro und eines Telefonisten verwiesen werden. Unter den Beteiligten sei unstreitig, daß die genannten Tätigkeiten im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig seien. Es handele sich aber auch um Arbeiten, die von Personen mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in knappschaftlich versicherten Betrieben ausgeübt würden. Ein Anschläger bedürfe etwa die gleichen Einweisungs- und Einarbeitungszeiten wie ein Hilfsarbeiter im Büro und ein Telefonist. Selbst unter Berücksichtigung der mit der Tätigkeit als Anschläger 2 verbundenen Verantwortung für den Schachtförderbetrieb könne nicht die Rede davon sein, daß die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten den zu vergleichenden Tätigkeiten so verschieden seien, daß eine qualitative Gleichwertigkeit i.S. des § 45 Abs. 2 RKG verneint werden könne. Dafür spreche nicht zuletzt die - relativ niedrige - Einstufung des Anschlägers 2 in die Lohngruppe 07. Der Einwand des Klägers, die Ausübung der Tätigkeit als Telefonist sei ihm wegen der chronischen Mittelohrentzündung auf dem rechten Ohr nicht möglich, vermöge die Revision nicht zu stützen. Nach den ärztlichen Sachverständigengutachten sei das linke Ohr unversehrt und die Umgangssprache werde gut verstanden, so daß der Kläger an der Ausübung der Tätigkeit als Telefonist nicht gehindert sei.

Gründe II.

Die Revision des Klägers ist begründet.

Nach § 45 Abs. 1 Nr. 1 RKG erhält Bergmannsrente, wer vermindert bergmännisch berufsfähig ist und eine Wartezeit von 60 Monaten erfüllt hat. Die Wartezeit hat der Kläger erfüllt. Vermindert bergmännisch berufsfähig ist nach § 45 Abs. 2 RKG ein Versicherter, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte weder imstande ist, die von ihm bisher verrichtete knappschaftliche Arbeit auszuüben, noch imstande ist, andere im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Arbeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in knappschaftlich versicherten Betrieben auszuüben.

Der erkennende Senat hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß bei Hauern und gelernten Handwerkern andere Tätigkeiten dann noch als wirtschaftlich im wesentlichen gleichwertig anzusehen sind, wenn die Lohndifferenz nicht größer als 20 % ist; bei Versicherten mit höherem Einkommen wird eine höhere Prozentzahl und bei Versicherten mit niedrigerem Einkommen eine niedrigere Prozentzahl als maßgebend angesehen. Diese Rechtsprechung bedarf wegen der im Laufe der Jahre eingetretenen Verringerung der tariflichen Lohndifferenz zwischen den einzelnen bergmännischen Tätigkeiten, der Aufspaltung der Hauertätigkeit in drei verschiedene Hauertätigkeiten mit unterschiedlichen Lohngruppen, der Ausweitung des von der Knappschaftsversicherungspflicht erfaßten Personenkreises, vor allem aber wegen des Erfordernisses einer deutlicheren Abgrenzung der Bergmannsrente von der Rente wegen Berufsunfähigkeit einer Korrektur. Tätigkeiten, auf die ein Versicherter nicht einmal mehr bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit i.S. des § 46 Abs. 2 RKG verwiesen werden kann, weil sie ihm nicht zugemutet werden können, liegen oft noch innerhalb einer Lohndifferenz von 20 % im Verhältnis zum Hauptberuf des Versicherten. Der Senat ist unter Berücksichtigung aller dieser Umstände der Auffassung, daß auch eine Differenz der tariflichen Einstufung des Hauptberufs zu derjenigen der in Betracht gezogenen Verweisungsberufe von 15 % noch zu groß wäre, weil auch dann der Abstand zu der Berufsunfähigkeit i.S. des § 46 Abs. 2 RKG noch nicht genügend deutlich sein würde. Andererseits erschien ein Grenzwert von 10 % zu gering, weil damit der erforderliche Abstand zur „wirtschaftlichen Gleichwertigkeit“ i.S. des § 45 Abs. 1 Nr. 2 RKG auch dann nicht genügend deutlich wäre, wenn man diese ebenfalls niedriger als bisher ansetzen würde.

Unter Abwägung aller dieser Umstände ist der Senat zu dem Ergebnis gekommen, daß eine Differenz zwischen der tariflichen Einstufung des Hauptberufs des Versicherten und der tariflichen Einstufung der in Betracht gezogenen Verweisungsberufe von etwa 12,5 % noch die Annahme einer im wesentlichen wirtschaftlichen Gleichwertigkeit der zu vergleichenden Tätigkeiten rechtfertigt. Diese Grenzzahl kann nicht als unveränderlich fester Wert angesehen werden, weil dann z.B. geringfügige Veränderungen im Lohngefüge durch neue Lohntarifverträge eine Änderung der wesentlichen wirtschaftlichen Gleichwertigkeit zur Folge haben würden. Abweichungen von diesem Grenzwert in Bruchteilen eines Prozentes nach oben oder unten dürften in der Regel unschädlich sein. Da aber aus den dargelegten Gründen für größere Veränderungen dieses Grenzwertes kein Raum mehr verbleibt, muß er künftig für alle Einkommen gelten, er kann also nicht mehr wie bisher wegen der Höhe des Einkommens nach oben oder unten verändert werden.

Durch die Neubestimmung der im wesentlichen wirtschaftlichen Gleichwertigkeit wird die in § 86 Abs. 2 RKG getroffene Regelung an Bedeutung gewinnen. Es darf allerdings nicht übersehen werden, daß diese Vorschrift in ihrer derzeitigen Fassung sowohl hinsichtlich ihrer Voraussetzungen als auch hinsichtlich der von ihr bewirkten Folgen kaum geeignet ist, zu dem für eine Stufenrente erforderlichen Ergebnis zu führen, daß die Rente oder ein dem Versicherten zu belassender Rententeil zusammen mit dem Effektivlohn, den er durch eine neue Tätigkeit erwirbt oder zumutbar erwerben könnte, zumindest nicht wesentlich höher ist als der durchschnittliche Effektivlohn eines gesunden Versicherten gleicher Art. Es wäre daher Sache des Gesetzgebers zu prüfen, ob diese Vorschrift entsprechend geändert werden sollte.

Als Folge der Neubestimmung der „im wesentlichen wirtschaftlichen Gleichwertigkeit“ wird bei gegebenem Anlaß zwangsläufig eine Überprüfung der Grenze der „wirtschaftlichen Gleichwertigkeit“ i.S. des § 45 Abs. 1 Nr. 2 RKG erfolgen müssen.

Nach dem im Februar 1972 (Eintritt des Versicherungsfalls der verminderten bergmännischen Berufsfähigkeit) gültigen Lohntarifvertrag betrug die Lohndifferenz eines Anschlägers 2 unter Tage (Lohngruppe 07) zu einem Telefonisten und einem Hilfsarbeiter im Büro (Lohngruppe 04) 11 %, nach dem ab 1. Mai 1976 gültigen Lohntarifvertrag beträgt sie 10,55 %.

Diese Tätigkeiten sind damit gegenüber der Tätigkeit eines Anschlägers 2 unter Tage noch im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig, so daß hieraus im vorliegenden Fall die Annahme einer verminderten bergmännischen Berufsfähigkeit nicht hergeleitet werden kann.

Die Tätigkeiten eines Telefonisten und eines Hilfsarbeiters im Büro erfordern aber keine der Ausbildung des Anschlägers 2 ähnliche Ausbildung und auch keine gleichwertigen Kenntnisse und Fähigkeiten. Telefonisten im Arbeiterverhältnis bzw. Hilfsarbeiter im Büro bedürfen keiner Ausbildung, sondern nur einer kurzen Einweisungs- und Einarbeitungszeit. Der Anschläger 2 unter Tage wird aber nicht ohne Grund wie ein angelernter Handwerker entlohnt, denn er muß in einer mindestens halbjährigen Tätigkeit im Schachtförderbetrieb unter Tage Kenntnisse in diesem Betrieb erwerben, die ihn dann erst nach einer weiteren Einweisungszeit von 2 bis 4 Wochen mit einer Unterrichtung über seine Dienstobliegenheiten befähigen, die Tätigkeit als Anschläger 2 unter Tage auszuüben, d.h. die Verantwortung für das Beschicken der Körbe an den Schächten einschließlich der Durchführung der Seilfahrt zu übernehmen. Erst dann ist es dem Betriebsführer oder der von diesem beauftragten Aufsichtsperson gestattet, ihn unter Aushändigung einer Dienstanweisung als Anschläger 2 unter Tage zu bestellen.

Für die Entscheidung des Rechtsstreits kann es dahingestellt bleiben, ob der Kläger in seinem Betrieb nur als Wächter im Streifendienst (Lohngruppe 04) geführt wird und in Wirklichkeit - wie er angibt - nur als Fahrzeugwächter (Lohngruppe 01) tätig ist und ob er aus gesundheitlichen Gründen als Wächter im Streifendienst tätig sein könnte, denn für den Wächter im Streifendienst gilt hinsichtlich der Ausbildung und der Kenntnisse und Fähigkeiten gegenüber dem Anschläger 2 dasselbe wie für den Telefonisten im Arbeitsverhältnis und den Hilfsarbeiter im Büro.

Der Kläger ist danach entgegen der Entscheidung des LSG, aber in Übereinstimmung mit der Entscheidung des SG vermindert bergmännisch berufsfähig, so daß ihm die Bergmannsrente zusteht. Das angefochtene Urteil des LSG war daher aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

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