5 RJ 114/76
Gründe
Der Kläger, italienischer Staatsangehöriger, hat auf Grund versicherungspflichtiger Beschäftigung in Deutschland in der Zeit von 1962 bis 1970 für 37 Monate Beiträge zur deutschen Rentenversicherung der Arbeiter entrichtet. Laut Mitteilung des italienischen RentV-Träger INPS vom 8.11.1974 hat er in Italien zwischen 1960 und 1969 63 Versicherungs- und gleichgestellte Wochen zurückgelegt.
Den Rentenantrag des Klägers vom 11.7.1972 lehnte die Beklagte ab: Zwar sei der Kläger seit November 1970 erwerbsunfähig, jedoch bestehe kein Anspruch, da er die Wartezeit von 60 Kalendermonaten mit 37 deutschen und - umgerechnet - 16 italienischen Versicherungsmonaten nicht erfülle.
Hiergegen hat der Kläger Klage erhoben.
Am 09.12.1975 teilte das INPS der Beklagten mit, daß der Kläger in der Zeit von Juli 1972 bis September 1973 noch für 61 Wochen freiwillige Beiträge geleistet habe.
Mit Urteil vom 01.04.1976 hat das SG die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab Oktober 1973 Rente wegen EU zu gewähren.
Die zugelassene Sprungrevision der Beklagten ist begründet.
Der Kläger begehrt von der Beklagten aus der deutschen Rentenversicherung der Arbeiter Rente wegen EU. Nach § 1247 Abs. 1 RVO erhält Rente wegen EU der Versicherte, der erwerbsunfähig ist, wenn die Wartezeit erfüllt ist. Das SG hat unter Berücksichtigung der von der Beklagten eingeholten medizinischen Unterlagen angenommen, daß der Kläger im November 1970 erwerbsunfähig geworden ist. Hiergegen richtet die Beklagte keine Angriffe. Auch dem erkennenden Senat ist nicht ersichtlich, daß das SG den Rechtsbegriff der EU (§ 1247 Abs. 2 RVO) verkannt hätte. Der Kläger hat jedoch deshalb keinen Anspruch auf deutsche Versichertenrente, weil er die geforderte Wartezeit nicht erfüllt hat.
Nach § 1247 Abs. 3 RVO in der zur Zeit des Eintritts des Versicherungsfalles im Jahre 1970 geltenden und deshalb auf den vorliegenden Fall anzuwendenden Fassung (vgl. auch Art. 2 § 1 Nr. 16 i.V.m. Art. 3 § 3 des Gesetzes über die Sozialversicherung Behinderter vom 07.05.1975 - BGBl. I 1061 -) ist die Wartezeit für die Rente wegen EU erfüllt, wenn vor Eintritt der EU eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt ist. Bis zum Eintritt der EU im November 1970 hat der Kläger auf Grund versicherungspflichtiger Beschäftigung in Deutschland 37 Beitragsmonate zurückgelegt. Auf die Wartezeit anrechenbar sind ferner die vom Kläger bis 1969 in Italien auf Grund versicherungspflichtiger Beschäftigung bzw. auf Grund Militärdienstes zurückgelegten 73 Versicherungswochen. Der Kläger fällt nämlich, wie das SG zutreffend annimmt, unter die Vorschriften der EWG-VO Nr. 1408/71, weil er italienischer Staatsangehöriger ist, für den in Ansehung seines wegen „Invalidität“ erhobenen Leistungsanspruches (Art. 4 Abs. 1 Buchst. b a.a.O.) die Rechtsvorschriften mehrerer EWG-Mitgliedstaaten galten (Art. 2 Abs. 1 a.a.O.). Die genannte EWG-VO ist ungeachtet des Umstandes, daß sie nach ihrem Art. 99 erst am 01.10.1972, also - bezogen auf den vorliegenden Fall - erst nach Eintritt des Versicherungsfalles der EU in Kraft getreten ist, allein anwendbar: Gemäß Art. 94 Abs. 1 und 3 a.a.O. wird für Zeiten vom Inkrafttreten der VO an ein Leistungsanspruch auch für Ereignisse begründet, die vor ihrem Inkrafttreten liegen; zu diesen Ereignissen gehört der Eintritt des Versicherungsfalles. Da das SG dem Kläger die schon im Juli 1972 beantragte Rente nur für eine - nach dem Inkrafttreten der VO liegende - Zeit ab Oktober 1973 zugesprochen und dies der Kläger - auch soweit hierin eine Teilabweisung der Klage liegen könnte - nicht angefochten hat, scheidet vorliegend die Anwendung des vor dem 01.10.1972 geltenden EWG-Rechts aus. Nach Art. 40 Abs. 1 i.V.m. Art. 45 Abs. 1 EWG-VO Nr. 1408/71 hat der zuständige Träger eines Mitgliedsstaates für den Erwerb, die Aufrechterhaltung oder das Wiederaufleben des Anspruches auf eine Leistung auf Grund Invalidität erforderlichenfalls auch die Versicherungszeiten, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedsstaates zurückgelegt worden sind, so zu berücksichtigen, als handele es sich um Zeiten, die nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften zurückgelegt worden sind. Indessen ergibt die Zusammenrechnung der bis November 1970 in Deutschland und Italien vom Kläger zurückgelegten Versicherungszeiten, nach welcher der in Betracht kommenden Methoden auch immer die italienischen Versicherungswochen in deutsche Versicherungsmonate umgerechnet werden, keine 60 Kalendermonate.
Das SG meint nun, daß Art. 45 Abs. 1 a.a.O. die Beklagte verpflichte, auch die vom Kläger zur italienischen Rentenversicherung nach Eintritt der EU in den Jahren 1972/1973 entrichteten 61 freiwilligen Wochenbeiträge auf die von § 1247 Abs. 3 RVO geforderte Wartezeit anzurechnen. Dem kann nicht beigepflichtet werden.
Wortlaut und Sinn des Art. 45 Abs. 1 EWG-VO Nr. 1408/71 lassen keinen Zweifel daran, daß der zuständige Träger eines jeden EWG-Mitgliedsstaates die in einem anderen Mitgliedsstaat zurückgelegten Versicherungszeiten nur im Rahmen und in bezug auf die Anwendung der eigenen, innerstaatlichen Rechtsvorschriften über den „Erwerb, die Aufrechterhaltung oder das Wiederaufleben des Leistungsanspruches“ wegen Invalidität wie nach eigenem Recht zurückgelegte Versicherungszeiten zu berücksichtigen hat. Zu den hiernach von der Beklagten allein anzuwendenden deutschen Vorschriften über den „Erwerb“ eines Anspruches auf Rente wegen EU gehören sämtliche deutschen Regelungen über die Erfüllung der Wartezeit. Nach § 1247 Abs. 3 RVO ist, wie dargelegt, für die Erfüllung der Wartezeit die Zurücklegung von Versicherungszeiten in einem gewissen zeitlichen Umfang - 60 Kalendermonate - erforderlich. Dies allein genügt jedoch noch nicht; hinzu treten eine Reihe von Vorschriften, die bestimmen, ob die zurückgelegten Versicherungszeiten auf die Wartezeit auch anrechenbar sind: So folgt - wenn nicht schon aus § 1247 Abs. 3 RVO („... wenn vor Eintritt des Versicherungsfalles ...“) - jedenfalls aus § 1419 Abs. 1 RVO, daß nach Eintritt der EU selbst für eine Zeit vorher nachentrichtete freiwillige Beiträge nicht auf die Wartezeit für die Rente wegen EU angerechnet werden können. Aus der dort getroffenen Regelung, daß freiwillige Beiträge u.a. nach Eintritt der EU „für Zeiten vorher“ nicht mehr entrichtet werden dürfen, ergibt sich nämlich, daß solche Beitragszeiten für Ansprüche aus dem Versicherungsfall der EU nicht berücksichtigt werden dürfen („Anrechnungsverbot“, vgl. BSGE 22, 236, 238, 239 = SozR Nr. 4 zu § 1419 RVO = SozR Nr. 29 zu Art. 2 § 42 ArVNG; BSG in SozR Nr. 16 zu Art. 2 § 52 ArVNG; vgl. auch §§ 1233 Abs. 2, 1253 Abs. 2 Satz 4, 1258 Abs. 4 RVO). Eine weitere Anrechnungsvorschrift enthält § 1249 Satz 2 RVO; danach werden vor dem 1.1.1924 zurückgelegte Versicherungszeiten nur unter bestimmten Voraussetzungen auf die Wartezeit angerechnet (vgl. für die Rentenhöhe auch das Anrechnungsverbot nach § 1258 Abs. 4 Satz 1 RVO).
Hiernach ist festzuhalten, daß die den Erwerb eines Anspruches auf Rente wegen EU regelnden deutschen Vorschriften, soweit sie sich auf die Erfüllung der Wartezeit beziehen, zwei Gruppen umfassen: Die erste Gruppe bilden die Vorschriften, die den Erwerb des Leistungsanspruches davon abhängig machen, daß Versicherungszeiten in einem gewissen zeitlichen Umfang zurückgelegt sind; neben sie tritt eine Gruppe von Vorschriften, die regeln, inwieweit die zurückgelegten Versicherungszeiten für die Erfüllung der Wartezeit anrechenbar sind (Anrechnungsvorschriften).
Entgegen der Ansicht des SG gebietet Art. 45 Abs. 1 EWG-VO Nr. 1408/ 71 dem zuständigen Träger eines Mitgliedsstaates nicht, die nach den Vorschriften eines anderen Mitgliedsstaates zurückgelegten Versicherungszeiten für den Erwerb des Leistungsanspruches immer anzurechnen, d.h. die innerstaatlichen Vorschriften, die insoweit die Anrechnung bestimmter Versicherungszeiten ausschließen, nicht anzuwenden. Der Wortlaut der Vorschrift gibt einer solchen Auslegung keinen Anhalt. Die Formulierung, daß der zuständige Träger die fremdstaatlichen Versicherungszeiten zu „berücksichtigen“ habe, läßt sich nicht so verstehen, als habe der Träger die fremdstaatlichen Zeiten für den Erwerb des Leistungsanspruches ausnahmslos auch „anzurechnen“; dem steht entgegen, daß Art. 45 Abs. 1 a.a.O. erläuternd und einengend ausdrücklich bestimmt, wie diese Zeiten bei Anwendung der innerstaatlichen Vorschriften über den Erwerb des Leistungsanspruches zu berücksichtigen sind: So nämlich, „als handele es sich um Zeiten, die nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften zurückgelegt worden sind“. Das bedeutet eine Gleichstellung der fremdstaatlichen mit den nach innerstaatlichem Recht zurückgelegten Versicherungszeiten. Dagegen bietet der Wortlaut des Art. 45 Abs. 1 EWG-VO Nr. 1408/71 keinen Anhalt, daß die fremdstaatlichen Zeiten über die Gleichstellung mit den nach innerstaatlichem Recht zurückgelegten Versicherungszeiten hinaus diesen gegenüber durch Freistellung von Anrechnungsverboten bevorzugt sein sollten. Die Annahme des SG, das Gebot der Berücksichtigung fremdstaatlicher Zeiten bedeute zugleich eine Freistellung von innerstaatlichen Anrechnungsverboten läßt zudem außer acht, daß Art. 45 Abs. 1 a.a.O. auch für die fremdstaatlichen Zeiten die Anwendung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften u.a. über die „Aufrechterhaltung des Leistungsanspruches voraussetzt; bei ihnen aber handelt es sich praktisch auch um Vorschriften über die Anrechenbarkeit von Beitragszeiten. „Berücksichtigen“ bedeutet mithin in Art. 45 Abs. 1 EWG-VO Nr. 1408/71 schon nach seinem Wortlaut nicht immer soviel wie „anrechnen“; es bedeutet vielmehr, daß der zuständige Träger den fremdstaatlichen Versicherungszeiten im Rahmen der Anwendung seiner innerstaatlichen Vorschriften über den Erwerb eines Leistungsanspruches die gleiche Rechtsqualität wie deutschen Versicherungszeiten beizulegen hat. Nichts anderes ergibt eine Auslegung des Art. 45 Abs. 1 a.a.O. nach Sinn und Zweck, wie er in der Präambel zur EWG-VO Nr. 1408/71 zum Ausdruck kommt: „Die Vorschriften über die Koordinierung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften für die Soziale Sicherung ... sollen innerhalb der Gemeinschaft sicherstellen, daß alle Staatsangehörigen der Mitgliedsstaaten nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedsstaaten gleichbehandelt werden ... Diese Ziele sollen insbesondere durch eine Zusammenrechnung aller Zeiten verwirklicht werden, die nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedsstaaten für den Erwerb und die Aufrechterhaltung des Leistungsanspruches sowie für die Berechnung zu berücksichtigen sind (Abs. 5 und 7 a.a.O.).
Nach alledem erklärt es Art. 45 Abs. 1 EWG-VO Nr. 1408/71 für die Qualifizierung einer Zeit als Versicherungszeit für unschädlich, daß sie nach fremdem Recht zurückgelegt worden ist. Sie stellt den Wanderarbeitnehmer aber nicht dadurch besser, daß sie von den anzuwendenden innerstaatlichen Vorschriften für den Erwerb des Leistungsanspruches diejenigen ausschließt, die bestimmte Versicherungszeiten - ungeachtet ihrer Rechtsqualität als solche - für nicht geeignet erklären, einen Anspruch auf eine Leistung wegen Invalidität zu begründen. Für den konkreten Fall folgt hieraus, daß die Beklagte die in Italien nach Eintritt des Versicherungsfalles der EU nach italienischem Recht wirksam entrichteten freiwilligen Beiträge zwar bei der Feststellung der Rente nach deutschem Recht als wirksame - und für einen späteren Versicherungsfall auch anrechenbare - Beitragszeiten zu behandeln hat, nicht aber, daß sie die Beklagte entgegen dem Anrechnungsverbot des § 1419 Abs. 1 RVO auch auf die Wartezeit für die Rente wegen EU anzurechnen hätte.
Den in Art. 48 Abs. 2 und 3 a.a.O. getroffenen Regelungen kann entgegen der Ansicht des SG nichts anderes entnommen werden; diese Bestimmungen über die Gewährung von Leistungen aus fremdstaatlichen Zeiten setzen voraus, daß nach den vom zuständigen Träger anzuwendenden innerstaatlichen Vorschriften die Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch überhaupt erfüllt sind.
Hiernach hatte die Beklagte im Falle des Klägers nicht nur in bezug auf die in Deutschland, sondern auch in bezug auf die in Italien zurückgelegten Versicherungszeiten in Anwendung der §§ 1247 Abs. 3, 1419 Abs. 1 RVO zu prüfen, ob sie auf die Wartezeit anzurechnen sind. Da dies für die 1972/1973 vom Kläger in Italien entrichteten freiwilligen Beiträge nicht der Fall ist, ist die Wartezeit von 60 Kalendermonaten nicht erfüllt und der Leistungsanspruch des Klägers unbegründet.