Navigation und Service

Logo der Deutschen Rentenversicherung (Link zur Startseite rvRecht)

rvRecht® - Rechtsportal der Deutschen Rentenversicherung

12 RJ 244/74

Gründe I.

Die Beteiligten streiten um die Erhöhung der dem Kläger gewährten Rente auf Zeit wegen Erwerbsunfähigkeit durch Anrechnung einer Ausfallzeit vom 21. September 1950 bis 15. Juni 1955.

Der 1912 geborene Kläger arbeitete in seiner lettischen Heimat in der Landwirtschaft und später als Kraftfahrer. 1945 kam er als Flüchtling nach L. Hier war er ab Januar 1946 als Kraftfahrer bei einer britischen Besatzungseinheit versicherungspflichtig tätig. Mit deren Auflösung am 28. Juli 1950 verlor er diese Beschäftigung. Wegen der damaligen schlechten Arbeitsmarktlage versuchte der Kläger, nach Amerika auszuwandern. Er begab sich deshalb am 29. Juli 1950 mit seiner Familie in ein für derartige Auswanderungswillige bestimmte sog. geschlossenes Auswandererlager. Wegen der gesundheitlichen Verhältnisse seiner Ehefrau kam er für eine Auswanderung jedoch nicht in Betracht und mußte das Lager am 20. September 1950 wieder verlassen. Am 21. September 1950 meldete er sich beim Arbeitsamt in L. arbeitslos. Anschließend bezog er Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung, bis er am 15. Juni 1955 wieder versicherungspflichtig tätig werden konnte.

Die Beklagte gewährte dem Kläger wegen Erwerbsunfähigkeit mit Bescheid vom 3. Juni 1969 Rente für die Zeit vom 5. April bis 30. November 1969. Bei deren Berechnung ließ sie die Zeit seiner Arbeitslosigkeit unberücksichtigt. Die Klage, mit der der Kläger die Anrechnung dieser Zeit als Ausfallzeit begehrte, hat das Sozialgericht (SG) Lübeck durch Urteil vom 29. Januar 1971 abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 30. April 1974 das Urteil des SG sowie den Bescheid der Beklagten geändert und die Beklagte verurteilt, bei der Rentengewährung die Zeit der Arbeitslosigkeit des Klägers vom 21. September 1950 bis 15. Juni 1955 als Ausfallzeit zu berücksichtigen. In den Entscheidungsgründen, auf die im einzelnen verwiesen wird, hat es dazu ausgeführt: Die bis zum 28. Juli 1950 dem Kläger ausgeübte versicherungspflichtige Beschäftigung sei durch seine Arbeitslosigkeit unterbrochen worden, denn eine Arbeitslosigkeit schließe sich auch dann zeitlich unmittelbar an die versicherungspflichtige Beschäftigung an, wenn ein sog. Überbrückungstatbestand vorliege, der selbst keine Ausfallzeit sei. Bei dem siebenwöchigen Lageraufenthalt des Klägers handele es sich um einen solchen Überbrückungstatbestand. Der Kläger sei auch während dieses Lageraufenthalts arbeitsfähig und arbeitswillig gewesen. Angesichts der damaligen ungünstigen Arbeitsmarktlage habe er in der Auswanderung mit Recht ein Mittel erblicken können, um dem Zustand seiner Arbeitslosigkeit abzuhelfen. Er habe damit nur einen Weg beschritten, den u.a. Tausende seiner Landsleute bereits benutzt hätten oder noch hätten benutzen wollen. Damit habe er erkennbar zum Ausdruck gebracht, daß er habe arbeiten wollen, um sich eine neue Existenzgrundlage zu schaffen. Sein Arbeitswille zeige sich schließlich auch daran, daß er sich sofort nach dem Fehlschlagen des Auswanderungsversuchs arbeitslos gemeldet habe. Daß er während des Lageraufenthalts der Arbeitsvermittlung tatsächlich nicht zur Verfügung gestanden habe, sei unerheblich. Er habe sich insoweit in einer kaum anderen Lage befunden als ein Arbeitsloser, der zur Beendigung der Arbeitslosigkeit eine selbständige Tätigkeit aufnehme. Für diesen Fall habe das Bundessozialgericht (BSG) die Zeit des später gescheiterten Versuchs, sich selbständig zu machen, dennoch als Überbrückungstatbestand gewertet. Da auch die übrigen insoweit erforderlichen Voraussetzungen beim Kläger erfüllt seien, müsse deshalb die Zeit seiner Arbeitslosigkeit vom 21. September 1950 bis 15. Juni 1955 bei der Rentenberechnung als Ausfallzeit angerechnet werden.

Mit der - zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 1259 Abs. 1 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Sie führt aus: Soweit vom BSG auch ein unmittelbarer Anschluß der Arbeitslosigkeit an das Beschäftigungsverhältnis bejaht werde, wenn ein sog Überbrückungstatbestand gegeben sei, könne das nur für besonders gelagerte Ausnahmefälle gelten. Der Kläger sei kein solcher Ausnahmefall. Der Kläger habe „durch die beabsichtigte Auswanderung“ sein Versicherungsleben im Inland als abgeschlossen betrachtet. Er habe während seines freiwilligen kasernierten Lageraufenthaltes der Arbeitsvermittlung tatsächlich nicht zur Verfügung gestanden. Von einer Unterbrechung der versicherungspflichtigen Beschäftigung im Sinne des § 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO könne deshalb hier nicht gesprochen werden.

Die Beklagte beantragt,

  • das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

Gründe II.

Die Revision ist unbegründet. Das LSG hat die Beklagte zu Recht verurteilt, bei der Berechnung der dem Kläger gewährten Rente auf Zeit wegen Erwerbsunfähigkeit die Zeit seiner Arbeitslosigkeit vom 21. September 1950 bis 15. Juni 1955 als Ausfallzeit anzurechnen.

Nach § 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO ist Ausfallzeit eine Zeit, in der eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit durch eine mindestens einen Kalendermonat andauernde Arbeitslosigkeit unterbrochen worden ist, wenn der Arbeitslose bei einem deutschen Arbeitsamt als Arbeitsuchender gemeldet war und wegen der Arbeitslosigkeit entsprechende Leistungen (§ 1259 Abs. 1 Nr. 3 Buchstaben a - d RVO) bezogen hat oder eine dieser Leistungen nur wegen Zusammentreffens mit anderen Bezügen, wegen eines Einkommens oder wegen der Berücksichtigung von Vermögen nicht gewährt worden ist. Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß hieraus nicht notwendig folgt, daß sich eine anrechenbare Ausfallzeit der Arbeitslosigkeit immer zeitlich und unmittelbar an eine mit Beiträgen belegte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit anschließen muß (BSGE 29, 120, 122, 123 = SozR Nr. 22 zu § 1259 RVO; BSGE 31, 11, 13 = SozR Nr. 29 zu § 1259 RVO; BSGE 34, 93 = SozR Nr. 44 zu § 1259 RVO; BSGE SozR Nr. 50 zu § 1259 RVO; BSGE 37, 10, 17 - Großer Senat - = SozR Nr. 62 zu § 1259 RVO). Nach Wortlaut und Sinn des § 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO kommt es für die Voraussetzung, daß „eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ... unterbrochen worden“ ist, nur auf die Arbeitslosigkeit an, nicht auch auf die zusätzlichen Erfordernisse, die zur Erfüllung des Tatbestandes einer anrechenbaren Ausfallzeit notwendig sind. Die Zeit vom 21. September 1950 bis 15. Juni 1955, in der der Kläger beim Arbeitsamt als Arbeitsuchender gemeldet war und Leistungen bezogen hat, ist daher als Ausfallzeit anzurechnen, wenn er in er Zeit seines Aufenthalts im Auswandererlager vom 29. Juli bis 20. September 1950, die sich unmittelbar an seine mit Beiträgen belegte versicherungspflichtige Beschäftigung als Kraftfahrer bei einer britischen Besatzungseinheit anschließt, nach dem damals geltenden Recht der Arbeitslosenversicherung (§§ 87 ff. des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in der 1950 geltenden Fassung - AVAVG a.F. -) arbeitslos, d.h. unfreiwillig ohne Arbeit sowie arbeitsfähig und arbeitswillig gewesen ist. Grundsätzlich galt als arbeitslos im Sinne der §§ 87, 87a AVAVG a.F., wer in dem üblichen Maße dem Arbeitsmarkt subjektiv und objektiv zur Verfügung stand (BSGE 2, 67). Wenn auch für die Zeit des Lageraufenthaltes diese Verfügbarkeit fehlte, so hindert dies nicht, den Kläger ausnahmsweise dennoch als „arbeitslos“ anzusehen. Auch ohne Verfügbarkeit ist nämlich in besonders gelagerten Ausnahmefällen im Rahmen der §§ 87, 87a AVAVG a.F. von der Rechtsprechung des BSG (BSG SozR Nr. 10 zu § 87a AVAVG a.F.) Arbeitslosigkeit angenommen worden. Das hat bereits der 7. Senat des BSG (BSG a.a.O.) für den Fall anerkannt, daß ein Arbeitsloser zu einer selbständigen Tätigkeit übergeht. Für eine gewisse, unter verständiger Würdigung der Einzelumstände zu bemessende Anlaufzeit ist ein solcher selbständig Tätiger noch als arbeitslos angesehen worden. Der 11. Senat des BSG hat im Anschluß an diese Rechtsprechung des 7. Senats eine Unterbrechung der versicherungspflichtigen Beschäftigung durch Arbeitslosigkeit auch dann angenommen, wenn ein Versicherter, der seinen Arbeitsplatz unfreiwillig verloren hat, erfolglos versucht, seine Wiedereingliederung in das Arbeitsleben durch Selbsthilfe zu erreichen. Hierzu rechnen der Fall, in dem der Versicherte eine selbständige Tätigkeit in der Hoffnung übernimmt, damit seinen Lebensunterhalt verdienen zu können, damit aber scheitert (BSGE 34, 93) und der Fall, in dem der Versicherte nach dem Ende der letzten versicherungspflichtigen Beschäftigung durch Leistung bestimmter Vorarbeiten erneut, aber vergeblich eine unselbständige versicherungspflichtige Beschäftigung zu erlangen versucht (BSG SozR Nr. 50 zu § 1259 RVO). Meldet sich der Versicherte nach dem alsbaldigen Scheitern eines derartigen Selbsthilfeversuchs - etwa innerhalb von sechs Monaten (vgl. BSGE 34, 93; SozR Nr. 50 zu § 1259 RVO) - arbeitslos, ist seine weitere Arbeitslosigkeit lediglich die Fortsetzung der bereits mit dem Ende der versicherungspflichtigen Beschäftigung eingetretenen - möglicherweise nicht beim Arbeitsamt gemeldeten - Arbeitslosigkeit. Da der Wortlaut des § 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO ausdrücklich nur eine Unterbrechung der versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit durch „eine ... Arbeitslosigkeit“ verlangt, besteht deshalb in den genannten Fällen - anders als beim Aufeinanderfolgen mehrerer Ausfallzeittatbestände (vgl. § 1259 Abs. 1 Satz 2 RVO) - keine zeitliche Lücke, die zwischen dem Ende der versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit und einem nach dem Gesetz zur Unterbrechung geeigneten Tatbestand überbrückt werden müßte. Unerheblich ist es, daß zwischen dem Ende der versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit und der als Ausfallzeit gemäß § 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO anrechenbaren Zeit eine „Lücke“ besteht, weil nämlich der Gesetzgeber selbst nicht verlangt, daß die Unterbrechung der versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit nur durch eine anrechenbare Ausfallzeit bewirkt werden kann.

Dieser am Wortlaut, Sinn und sozialen Schutzzweck des § 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO orientierten Auslegung liegt auch die vom 11. Senat des BSG (BSG SozR Nr. 50 zu § 1259 RVO) mit Recht herausgestellte und vom Großen Senat des BSG (BSGE 37, 10, 17) gebilligte Erwägung zugrunde, einen Versicherten, der bemüht ist, sich in der dargelegten Weise selbst zu helfen, möglichst vor Nachteilen zu bewahren. Seine mit dem Selbsthilfeversuch bewiesene Eigeninitiative darf sich auf die Höhe einer ihm später zu gewährenden Rente nicht negativ auswirken. Anderenfalls würde nämlich ein Arbeitsloser, der erfolglos versucht, den Zustand der Arbeitslosigkeit durch Selbsthilfe zu überwinden, allein wegen dieser Eigeninitiative benachteiligt. Dies würde dem sozialen Schutzzweck der Regelung des § 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO widersprechen (vgl. BSGE 34, 93).

Auch der vom Kläger erfolglos unternommene Versuch, nach Amerika auszuwandern, war nichts anderes, als ein derartiger, seiner Wiedereingliederung in das Arbeitsleben dienender, jedoch mißglückter Selbsthilfeversuch. Da bei jedem solchen Versuch stets mit seinem Scheitern gerechnet werden muß, kann entgegen der Auffassung der Beklagten nicht davon ausgegangen werden, der Kläger habe schon zu Beginn dieses Versuches sein Versicherungsleben im Inland abgeschlossen. Davon kann erst die Rede sein, wenn dem auswanderungswilligen Versicherten die Auswanderung gestattet wird. Solange sich ein arbeitsfähiger und arbeitswilliger Versicherter, der seinen Arbeitsplatz unfreiwillig verloren hat, nur bemüht auszuwandern und sich im Inland freiwillig den entsprechenden notwendigen Vorbereitungsmaßnahmen unterzieht, ist er ebenso als „arbeitslos“ anzusehen wie etwa jener Versicherte, der im Wege der Selbsthilfe versucht hat, sich eine selbständige Tätigkeit aufzubauen und damit ebenfalls den Willen bekundet hat, beim Gelingen seines Vorhabens endgültig dem Arbeitsmarkt nicht mehr als unselbständig Beschäftigter zur Verfügung zu stehen (vgl. BSGE 34, 93).

Dem Kläger kann auch nicht - wie die Beklagte meint - die Anrechnung der Zeit vom 21. September 1950 bis 15. Juni 1955 als Ausfallzeit im Hinblick auf die Entscheidungen des 4. Senats des BSG vom 18. August 1971 - 4 RJ 107/71 - (SozR Nr. 39 zu § 1259 RVO) und des 5. Senats des BSG vom 23. August 1972 - 5 RKn 50/70 - (SozR Nr. 48 zu § 1259 RVO) verweigert werden. Der Fall des Klägers unterscheidet sich von dem vom 4. Senat in dem genannten Urteil entschiedenen Sachverhalt schon dadurch, daß sich jener Versicherte in Untersuchungshaft befand und - im Gegensatz zum Kläger - nicht jederzeit über seine Arbeitskraft frei verfügen konnte. Während der Untersuchungsgefangene seinen Aufenthalt in der Untersuchungshaftanstalt nicht durch einen eigenen Willensentschluß beenden kann, war der Kläger im Hinblick auf die Beendigung des Lageraufenthaltes dazu jederzeit in der Lage.

Auch das von der Beklagten angeführte Urteil des 5. Senats des BSG (SozR Nr. 48 zu § 1259 RVO) hindert die Anrechnung der Ausfallzeit im vorliegenden Fall nicht. In der genannten Entscheidung hat der 5. Senat nur ausgeführt, daß eine Zeit der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland dann nicht zur Erfüllung der Voraussetzungen des § 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO in Betracht kommt, wenn sie sich an eine im Ausland verrichtete versicherungspflichtige Beschäftigung anschließt und diese unterbricht. Das trifft aber hier gerade nicht zu. Der Fall des Klägers unterscheidet sich von dem vom 5. Senat entschiedenen Sachverhalt dadurch, daß der Kläger im Anschluß an eine mit Beiträgen belegte versicherungspflichtige Beschäftigung im Inland den Versuch unternommen hat, den Zustand der Arbeitslosigkeit durch einen Auswanderungsversuch zu überwinden. Diesen Versuch mußte er aber schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit, nämlich nach zwei Monaten, wieder aufgeben und sich sofort arbeitslos melden. Ein solcher Versicherter ist dann unter Würdigung aller Umstände auch für die Zwischenzeit berufsmäßig als Arbeitnehmer anzusehen.

Da auch die übrigen Voraussetzungen des § 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO für die Anrechnung der Zeit vom 21. September 1950 bis 15. Juni 1955 erfüllt sind, ist die Beklagte verpflichtet, diese Zeit bei der Berechnung der dem Kläger gewährten Rente als Ausfallzeit anzurechnen. Die Revision der Beklagten kann somit keinen Erfolg haben; sie ist zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Zusatzinformationen