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GS 2/73

Aus den Gründen

I.

Die Beklagte (LVA) des beim 12. Senat des BSG anhängigen Ausgangsverfahrens hatte dem Kläger mit Bescheid vom 23.12.1969 Rente auf Zeit wegen EU vom 25.9. bis 31.12.1969 gewährt. Einen (Neu-)Antrag des Klägers vom 29.1.1970, ihm die Rente über den 31.12.1969 hinaus weiterzugewähren, lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 1.6.1970 ab. Der Kläger hat diesen Bescheid fristgerecht angefochten. Das SG Mannheim hat die Klage durch Urt. vom 20.7.1971 abgewiesen. In der Rechtsmittelbelehrung des Urt. heißt es u.a.:

„Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats Berufung eingelegt werden. Die Berufung ist innerhalb der Frist schriftlich beim Landessozialgericht Baden-Württemberg in Stuttgart-W., Breitscheidstraße 18, einzulegen. Sie kann auch zur Niederschrift (Protokoll) des Urkundsbeamten der dortigen Geschäftsstelle oder der Geschäftsstelle des Sozialgerichts Mannheim, P 6, 20/21, erklärt werden.“

Das Urt. wurde am 6.8.1971 zur Zustellung durch die Post mittels eingeschriebenen Briefes aufgegeben. Der Kläger hat gegen das Urt. mit einem an das SG gerichteten und dort am 25.8.1971 eingegangenen Schreiben vom 22.8.1971 Berufung eingelegt. Das Schreiben traf erst am 14.9.1971 beim LSG ein. Nachforschungen des LSG ergaben, daß der Vorsitzende des SG noch am 25.8 1971 die Weiterleitung der Berufungsschrift an das LSG verfügt und diese Verfügung mit Rotstift als eilig gekennzeichnet hatte. Die Verfügung wurde am 2.9.ausgefertigt, gelangte am 7.9. zur Poststelle des SG und wurde am 13.9.1971 mit der Berufungsschrift und den Akten bei der Post aufgegeben.

Das LSG hat die Berufung des Klägers durch Urt. vom 15.11.1971 als unzulässig verworfen.

Mit der zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, das LSG habe § 67 SGG unrichtig angewandt. Er habe darauf vertrauen dürfen, daß das SG die Berufungsschrift rechtzeitig an das zuständige Berufungsgericht weiterleiten werde; mit dem Fehl verhalten des SG habe er nicht rechnen müssen.

Der 12. Senat möchte der Rechtsauffassung des LSG beitreten. An einer Entsch. in diesem Sinne sieht er sich durch die Urteile des 2. Senats vom 28.8.1968 - 2 RU 268/66 - (SozR Nr. 41 zu § 67 SGG), des 10. Senats vom 22.9.1971 - 10 RV 210/71 - und des 11. Senats vom 21.10. 1971 - 11 RA 106/71 - (SGb 1971,477) gehindert. … Der 11. Senat hat beschlossen, an der Rechtsauffassung aus dem Urt. vom 21.10.1971 (a.a.O.) festzuhalten. Auch der 10. Senat und der 2. Senat haben an der bisher von ihnen vertretenen Rechtsauffassung festgehalten. Der 12. Senat hat darauf beschlossen, dem Gr. S. des BSG gemäß § 42 SGG folgende Rechtsfrage zur Entsch. vorzulegen:

Ist ein Berufungskläger, der entgegen dem Gesetz (§ 151 des Sozialgerichtsgesetzes) und entgegen der ordnungsgemäß erteilten Rechtsmittelbelehrung die Berufungsschrift nicht an das Landessozialgericht, sondern an das Sozialgericht gesandt hat, deshalb „ohne Verschulden“ an der Einhaltung der Berufungsfrist verhindert gewesen (§ 67 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes), weil durch die Weiterleitung der Berufungsschrift vom Sozialgericht an das Landessozialgericht die Berufungsfrist versäumt worden ist?

Zur Begr. seines Vorlagebeschlusses hat der 12. Senat ausgeführt: Nach dem Wortlaut des § 67 Abs. 1 SGG sei allein darauf abzuheben, ob die Fristversäumnis ohne Verschulden des Beteiligten, der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erstrebe, eingetreten sei. Im Hinblick auf die zwingend vorgeschriebene Rechtsmittelbelehrung müsse von jedem Verfahrensbeteiligten, der ein Rechtsmittel einlegen wolle, sei er nun rechtskundig oder nicht, erwartet werden, daß er sich genau an die gerade für ihn gedachte und zu seinen Gunsten der Entsch. beigegebene Anleitung halte. Durch die Rechtsmittelbelehrung wisse er auch, an welches Gericht er sich zu wenden habe. Lasse der Beteiligte die Rechtsmittelbelehrung außer acht, so handele er verfahrensrechtlich nicht „ohne Verschulden“. Ein einmal gesetztes Verschulden eines Prozeßbeteiligten könne durch spätere Ereignisse nicht wieder ausgeräumt werden, und zwar weder durch ein späteres Verhalten eines Beteiligten (vgl. BVerwG 6, 161, 162) noch eines Gerichtsbediensteten oder sonstigen Dritten. Von dieser Rechtsauffassung sei ursprünglich auch die Rechtspr. des BSG im Beschluß des 1. Senats vom 28.1.1956 - 1 RA 115/55 - (SozR Nr. 3 zu §151 SGG) ausgegangen. Auch das BVerwG (a.a.O.) und der BFH (BFH 90, 395; 91, 341; 108, 18) hielten sich in ständiger Rechtspr. auf dieser Linie. Sollte der Gr. S. des BSG der Rechtspr. des 11. Senats folgen wollen, so sei ggf. eine Entsch. des Gemeinsamen Senats (GemS) der obersten Gerichtshöfe des Bundes einzuholen.

II.

Die Vorlage an den Gr. S. ist zulässig.

1. Die Voraussetzungen, unter denen nach § 42 SGG der Gr. S. des BSG entscheidet, sind insoweit erfüllt, als der anrufende 12. Senat in einer Rechtsfrage von einer Entsch. eines anderen Senats, nämlich - zumindest -des 11. Senats, abweichen will. Der 11. Senat sah zwar in seinem Urt. vom 21.10.1971 (SGb 1971, 477) - ebenso wie der 12. Senat - ein vorwerfbar falsches Verhalten des Prozeßbevollmächtigten der damaligen Klägerin darin, daß dieser die Berufungsschrift nicht an das LSG, sondern an das SG gerichtet hatte. Nach Auffassung des 11. Senats handelte aber auch der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle des SG fehlerhaft, indem er die Berufungsschrift in einem Päckchen statt durch einfachen Brief an das LSG weiterleitete (am Donnerstag, dem 5.11.1970), obwohl aus der Berufungsschrift und den beigezogenen Akten des SG der unmittelbar bevorstehende Ablauf der Berufsfrist (am 9.11.1970) ohne weiteres zu erkennen gewesen sei. Ein sich dem fehlerhaften Verhalten ihres Prozeßbevollmächtigten anschließendes fehlerhaftes Verhalten des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle beim SG könne der Klägerin nicht mehr zugerechnet werden. Die vom 12. Senat in seinem Vorlagebeschluß aufgeworfene Rechtsfrage ist also vom 11. Senat anders entschieden worden, als es der Rechtsauffassung des 12. Senats entspricht. Diese Rechtsfrage ist auch für die Entsch. des Ausgangsverfahrens rechtserheblich (vgl. RGZ 63, 42, 46 und insbesondere RGZ 134,17, 22 mit weiteren Hinweisen aus der Rechtspr. des RG; BGH NJW 1970,2120; Wieczorek, Zivilprozeßordnung und Nebengesetze, Bd. V: GVG § 136 Anm. B I; Löwe / Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Ge-richtsverfassungsgesetz, 22. Aufl., § 136 GVG Anm. 5; Peters / Sautter / Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, Erl. zu § 42 SGG, S. 94/36 und 37). Denn nach der Auffassung des 12. Senats wäre die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ohne weiteres zu versagen und die Entsch. des LSG zu bestätigen, während nach der Ansicht des 11. Senats das verzögerliche (fehlerhafte) Verhalten der Geschäftsstelle des SG die Wiedereinsetzung rechtfertigen und eine Sachentscheidung ermöglichen könnte.

Die Anrufung des Gr. S. ist auch nicht deshalb entbehrlich, weil der 12. Senat - wie er meint - zu der Rechtspr. des 1. Senats des BSG (Beschl. vom 28.1.1956, SozR Nr. 3 zu § 151 SGG) zurückkehren will, von der der 11. Senat abgewichen sein soll, ohne seinerseits vorher den Gr. S. anzurufen (so noch RGSt 58, 19, 24). Wollte man diese - im Ges. nicht vorgesehene - Ausnahme zulassen, so würde gerade der Zustand eintreten und unkorrigierbar fortdauern, den § 42 SGG (§ 136 GVG) um der Rechtseinheit willen(vgl. BGHZ 9, 179) verhindern will; es würden voneinander abweichende Entscheidungen zweier Senate nebeneinander fortbestehen (vgl. BGHSt 10, 94 mit Anm. von Schröder, JZ 1956, 333; Rosenberg / Schwab, Zivilprozeßrecht, 11. Aufl., - 1974 - § 22 II 4 Fußn. 2 - S. 98).

2. Der 12. Senat hat seinen Vorlagebeschluß ausdrücklich damit begründet, daß er „von der im Urteil des 11. Senats vom 21. Oktober 1971 - 11 RA 106/71 - (SGb 1971, 477) zum Ausdruck gekommenen Entscheidung abweichen will“. In dem Vorlagebeschluß werden aber auch die „vorsorglichen Anfragen“ an den 2. und 10. Senat des BSG zu den von diesen Senaten erlassenen Urteilen vom 28.8.1968 (SozR Nr. 41 zu § 67 SGG) bzw. vom 22.9.1971 und die Antworten dieser Senate erwähnt (vgl. zum Anfrageverfahren Heußner, DRiZ 1972, 119 mit weiteren Hinweisen). In diesen Entscheidungen war zwar nicht das Fehlverhalten von Gerichtsbediensteten, sondern das Fehlverhalten von Verwaltungsstellen zu beurteilen (vom 2. Senat das Verhalten einer BG, vom 10. Senat das Verhalten des LVersorgA, jeweils als Beklagter). Der 12. Senat hat aber seine Vorlage nicht auf ein Fehlverhalten des fälschlich angegangenen Gerichts beschränkt, sondern in seinem Vorlagebeschluß mehrfach zum Ausdruck gebracht, daß es nach seiner Auffassung bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auf irgendein späteres Verhalten „anderer Personen oder Stellen oder Behörden“ nicht ankomme. Der Gr. S. des BSG hat überdies ständig die Auffassung vertreten, daß er nicht an den Wortlaut der zur Entsch. gestellten Frage gebunden ist, sondern daß er die vorgelegte Rechtsfrage einschränkend, ausdehnend oder differenziert beantworten und daß dabei auch die Begründung des Vorlagebeschlusses maßgebend sein kann. Eine Beschränkung auf das in der Fragestellung des 12. Senats herausgestellte Fehl verhalten des SG wäre um so weniger gerechtfertigt, als die bisher maßgebende Vorschrift des § 151 Abs. 2 SGG durch das Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetz vom 30.7.1974 (BGB I 1625) dahin erweitert worden ist, daß die Berufungsfrist auch dann gewahrt ist, wenn die Berufung innerhalb der (Berufungs-)Frist bei dem SG schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. Mit dem Inkrafttreten dieses Ges. am 1.1.1975 (vgl. Art. VI des Ges.) kann also eine fehlerhafte Adressierung der Berufungsschrift an das SG nicht mehr zu einem Rechtsverlust führen. Weiterhin strittig bleiben aber gerade die Fälle, in denen eine andere Stelle (z. B. VersTr. oder VersorgTr.) fälschlich angegangen wird und diese Stelle die Rechtsmittelschrift verzögert weiterleitet.

3. Die Frage, ob auch eine Abweichung von der Rechtspr. des 2. und 10. Senats vorliegt, ist deshalb erheblich, weil davon die richtige Besetzung des Gr. S. abhängt (vgl. zur Besetzung der „Großen Senate“ Gelhaar, DRiZ 1965, 73; Maetzel, MDR 1966, 453; Müller NJW 1961, 102; Wieczorek, a.a.O., GVG § 132 Anm. A; Zöller, Zivilprozeßordnung und Gerichtsverfassungsgesetz, § 132 GVG). Nach § 41 Abs. 5 Satz 2 SGG (i.d.F. des Gesetzes zur Änderung der Bezeichnungen der Richter und ehrenamtlichen Richter und der Präsidialverfassung der Gerichte vom 26.5.1972, BGBl. I 841) nehmen in den Fällen des § 42 die Vorsitzenden Richter der „beteiligten Senate“ oder ein von ihnen bestimmtes Mitglied ihres Senats an den Sitzungen des Gr. S. mit den Befugnissen eines Mitglieds teil. Die Worte in § 42 SGG „... eines anderen Senats“ sind dabei nicht als Zahlwort (Einzahl) zu verstehen; vielmehr ist jeder andere Senat beteiligt, von dessen Entsch. abgewichen werden soll; das können demnach auch mehrere andere Senate sein (vgl. BSG 29, 225, 227; 30, 167, 169; BGHZ 9, 179; BVerwG 18, 150; Eyermann / Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 6. Aufl. - 1974 - § 11 Anm. 1). Eine entsprechende Vorschrift wie § 4 Abs. 1 Satz 3 RsprEinhG (vom 19.6.1968 - BGBl. I 661) - wonach in Fällen, in denen mehrere Senate des anderen obersten Gerichtshofes über die Rechtsfrage abweichend entschieden haben, nur der Senat beteiligt ist, der „als letzter“ entschieden hat - ist im SGG (vgl. §§ 41 bis 44) nicht enthalten.

Die Entsch., welche Senate „beteiligt“ i.S. des § 42 SGG sind, hat der Gr. S. in der gleichen Besetzung zu treffen, die für die Sachentscheidung zuständig ist. Nach dem SGG gibt es im Hinblick auf die Teilnahmepflicht der beteiligten bzw. erkennenden Senate keine auf die in § 41 Abs. 1 SGG genannten Richter - Präsident des BSG, sechs weitere Berufsrichter, vier ehrenamtliche Richter - beschränkte „ursprüngliche Besetzung“, welche über die endgültige Zusammensetzung des Gr. S. des BSG entscheiden könnte (vgl. BSG 29, 225, 227). Die gesetzliche Regelung ist insoweit anders als in den übrigen Verfahrensordnungen (vgl. § 132 Abs. 5 GVG; § 11 Abs. 2 VwGO; § 45 Abs. 3 ArbGG; § 11 Abs. 2 FGO; vgl. hierzu die Entscheidungen des Gr. S. des BFH 92,188, 191 und insbesondere BFH 111, 278, 279). Während in § 41 Abs. 5 SGG die Besetzung der Richterbank unter Hinzutreten weiterer Berufsrichter zwingend vorgeschrieben ist („nehmen... teil“), „kann“ nach den anderen Verfahrensordnungen jeder beteiligte Senat einen weiteren Richter zu den Sitzungen des Gr. S. entsenden. Insbesondere die Entsch. des Gr. S. des BFH vom 5.11.1973 (BFH 111, 278) läßt erkennen, daß von dieser „Kann-Vorschrift“ auch Gebrauch gemacht wird (BFH 111, 280). Einer Anrufung des GemS der obersten Gerichtshöfe des Bundes (vgl. § 2 RsprEinhG) bedarf es im Hinblick auf die Entscheidungen des Gr. S. des BFH (a.a.O.) nicht, da die verschiedenen Verfahrensordnungen insoweit nach ihrem Wortlaut und auch nach ihrem Regelungsinhalt nicht übereinstimmen (vgl. dazu Entsch. des GemS-OGB, BSG 35, Anh. S. 293, 294).

4. An der Entsch. der vorgelegten Rechtsfrage gemäß § 42 SGG sind somit drei Sozialversicherungssenate (der 2., 11. und 12. Senat) und ein Kriegsopfersenat (der 10. Senat) des BSG beteiligt. Daher waren als ehrenamtliche Richter je zwei Beisitzer aus dem Personenkreis des § 41 Abs. 3 Nr. 1 (Vertreter der Versicherten und der Arbeitgeber) und Nr. 2 (Vertreter der mit der KOV vertrauten Personen und der Versorgungsberechtigten) hinzuzuziehen. Diese Besetzung ergibt sich allerdings nicht unmittelbar aus dem Ges. Dieses läßt jedoch mehrfach erkennen, daß die Besetzung des Gr. S. sich nach anderen Grundsätzen bestimmt, als sie für die Besetzung des anrufenden Senats bei der Entscheidung des konkreten Einzelfalls gelten. So geht aus der Regelung des § 42 SGG hervor, daß sämtliche beteiligten Senate ohne Rücksicht auf ihr Sachgebiet (vgl. § 40 i.V.m. § 31 Abs. 1 SGG) hinzuzuziehen sind, um dem Verfahren vor dem Gr. S. eine möglichst breite Grundlage zu geben (vgl. BSG 29, 225, 227). Dafür spricht auch die Regelung des § 41 Abs. 2 SGG über die „Stammbesetzung“ des Gr. S., wonach je zwei Berufsrichter den Senaten für Angelegenheiten der SozVers, der ArblV sowie der KOV angehören müssen. Deshalb muß für die Benutzung des Gr. S. mit ehrenamtlichen Richtern ebenfalls eine möglichst breite Grundlage angestrebt werden, wenn es sich um übergreifende Rechtsfragen materiell-rechtlicher oder prozeßrechtlicher Art handelt, bei denen verschiedene Senate aus den in § 41 Abs. 3 SGG genannten Gebieten beteiligt sind. Diese Regelung sieht auch der Geschäftsverteilungsplan des BSG vor: Will ein in Angelegenheiten der SozVers zuständiger Senat von der Entscheidung eines für Angelegenheiten der KOV zuständigen Senats abweichen oder umgekehrt, so wird „je ein Beisitzer aus den vier Kreisen“ - gemeint sind die in § 41 Abs. 3 Nr. 1 und 2 SGG genannten Personenkreise - zugezogen (vgl. zur Rechtsnatur des Geschäftsverteilangsplans BVerfG 17, 252, 256 ff.; 18, 344, 349; 31,139,145).

III.

Die Entsch. des Gr. S. über die vorgelegte Rechtsfrage beruht auf folgenden Erwägungen:

1. Auszugehen ist von der Vorschrift des § 67 Abs. 1 SGG. Danach ist einem Beteiligten („jemand“), der ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist - dazu gehört auch die Berufungsfrist (vgl. § 151 SGG) - einzuhalten, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Vorschrift des § 67 Abs. 1 SGG stimmt nahezu wörtlich mit § 60 Abs. 1 VwGO und mit § 56 Abs. 1 FGO überein. In diesen beiden Verfahrensordnungen wird gefordert, daß jemand ohne Verschulden verhindert war, „eine gesetzliche Frist“ einzuhalten. Demgegenüber schreibt § 233 ZPO vor, daß eine Partei, die durch „Naturereignisse oder andere unabwendbare Zufälle“ verhindert worden ist, eine Notfrist (z.B. die Berufungsfrist, vgl. §516 ZPO) oder die Frist zur Begr. der Berufung oder der Revision (§ 519 Abs. 2, § 554 ZPO) einzuhalten, auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist (so auch bisher § 44 StPO; vgl. aber § 44 StPO in der Neufassung durch das Erste Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts - 1. StVRG - vom 9.12.1974, BGBl. I 3393: „War jemand ohne Verschulden verhindert, eine Frist einzuhalten ...“). Die gerichtlichen Verfahrensordnungen enthalten demnach keine einheitliche Regelung der Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (vgl. BVerfG 4, 309,314).

Ein Vergleich zwischen § 233 ZPO und § 67 Abs. 1 SGG zeigt, daß die Regelung des SGG für die Betroffenen günstiger ist als die der ZPO (vgl. Peters / Sautter / Wolff, a.a.O., § 67 Anm. 7 a S. 217; Amtl. Begr. zu § 16 des Entw. einer Sozialgerichtsordnung - BT-Drucks. Nr. 4357 -). Jeder unabwendbare Zufall ist unverschuldet, aber nicht jedes unverschuldete Ereignis braucht ein unabwendbarer Zufall zu sein (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. I S. 238 b III; Rohwer-Kahlmann, Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, SGG § 67 Anm. 9). Entsprechend haben das RG (vgl. JW 1927, 1309) und ihm folgend der BGH wiederholt entschieden, daß die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 233 ZPO nur dann zu gewähren ist, wenn die Fristversäumnis unter den gegebenen Umständen auch durch die größte, nach Lage des Falles vernünftigerweise gerade von dem Säumigen unter Berücksichtigung seiner Lage, Erfahrung und Bildung zu erwartende Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte (vgl. RG 138,344,350; RG, HRR1929,775; JW 1930,139; Rosenberg / Schwab, a.a.O., § 70 II 1; Dietz / Nikisch, Arbeitsgerichtsgesetz § 59 Anm. 4; Auffahrth / Schönherr, Arbeitsgerichtsgesetz, 3. Aufl., § 66 Anm. 16/8; Hanseatisches OLG Hamburg, MDR 1974,248; vgl. auch § 100 Abs. 2 Satz 2 VerglO: „... durch ein auch bei äußerster Sorgfalt nicht zu vermeidendes Ereignis ...“). Dagegen setzt § 67 SGG lediglich voraus, daß auch bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt durch einen gewissenhaft und sachgemäß Prozeßführenden die Versäumnis der Verfahrensfrist nicht vermieden worden wäre (vgl. Brackmann a.a.O. S. 238 b III; Peters / Sautter / Wolff a.a.O., § 67 Anm. 7 a S. 214) bzw. daß ein Beteiligter diejenige Sorgfalt nicht außer acht gelassen hat, die einem gewissenhaften Prozeßführenden nach den gesamten Umständen zuzumuten ist (vgl. BSG 1, 227, 232; BSG, Beschl. vom 27.6.1957 - 2 RU 298/55 -).

Aus der unterschiedlichen gesetzlichen Regelung hat der BGH die Folgerung gezogen, daß bei §§ 233, 232 ZPO an die Sorgfaltspflicht einer Partei und ihres Prozeßbevollmächtigten sehr hohe Anforderungen zu stellen sind (vgl. BGH, NJW 1951,111), und zwar höhere, als sie nach § 60 VwGO oder nach § 67 SGG in den Verfahren vor den VGen und SGen gestellt werden (vgl. BGH NJW 1972, 684; vgl. auch Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht, 1970, S. 106). In Übereinstimmung damit hat das BVerwG ausgesprochen, daß § 60 VwGO für die säumige Partei günstigere Voraussetzungen schafft als § 233 ZPO, weil § 60 nicht den äußersten Sorgfaltsgrad erfordert, sondern lediglich ein gewissenhaftes und sachgemäßes Handeln (vgl. BVerwG, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts 310, Nr. 53 zu § 60; Eyermann / Fröhler, a.a.O., § 60 Anm. 5; Henckel a.a.O. S. 107). Auch das BSG hat bereits in einer seiner ersten Entscheidungen (vom 23.9.1955, BSG 1, 227, 232) darauf hingewiesen, daß § 233 ZPO für die Wiedereinsetzung strengere Anforderungen stellt als § 36 der MRVO Nr. 165 (Amtsbl. der Britischen Militärregierung 1948 S. 799). Diese Vorschrift kann mit ihrer Formulierung (... ohne eigenes Verschulden verhindert ...) als Vorläufer für § 67 Abs. 1 SGG, aber auch für § 60 Abs. 1 VwGO angesehen werden. Bei den Vorarbeiten zur Reform der Zivilgerichtsbarkeit ist alsdann erwogen worden, die Wiedereinsetzung nur bei grobem Verschulden der Partei oder ihres Prozeßbevollmächtigten zu versagen bzw. die Voraussetzungen des § 233 ZPO denen der anderen, neueren Verfahrensordnungen anzupassen (vgl. Henckel, a.a.O.; Bericht der Kommission zur Vorbereitung einer Reform der Zivilgerichtsbarkeit - 1961 - S. 234 ff.).

2. Sämtliche verwaltungsgerichtlichen Verfahrensordnungen schreiben vor, daß die Frist für ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf nur dann zu laufen beginnt, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsstelle oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, dessen Sitz und die einzuhaltende Frist belehrt worden ist (vgl. §§ 66, 84 Abs. 2 letzter Satz, 151 Abs. 1 SGG; §§ 58, 73 Abs. 3, 84 Abs. 2 letzter Satz VwGO; § 55 FGO; vgl. auch § 35a StPO und § 9 Abs. 4 und 5 ArbGG). Die Frage, ob die - entgegen der zutreffend erteilten Rechtsmittelbelehrung vorgenommene - falsche Adressierung der Rechtsmittelschrift dem Beteiligten immer als Verschulden anzurechnen ist, bedarf hier keiner abschließenden Stellungnahme, da auch der 11. Senat in seinem Urt. vom 21.10.1971 (SGb 1971, 477) - und ebenso der 2. (SozR Nr. 41 zu § 67 SGG) und 10. Senat (10 RV 210/71) - davon ausgegangen sind, daß der Prozeßbevollmächtigte des dortigen Klägers durch die falsche Adressierung der Berufungsschrift „vorwerfbar fehlerhaft“, also zumindest fahrlässig (vgl. § 176 Abs. 1 Satz 2 BGB) gehandelt hat. Entscheidend kommt es also auf die - vom 12. Senat verneinte - Frage an, ob ein solcherart fehlerhaft handelnder Rechtsmittelkläger mit Erfolg geltend machen kann, das zunächst angegangene, aber unzuständige Gericht - oder die unzuständige Behörde oder Verwaltungsstelle - habe bei schnellerer Bearbeitung des Vorgangs den Fehler des Rechtsmittelklägers erkennen und den Schriftsatz noch rechtzeitig an das zuständige Gericht weiterleiten müssen. - Wird der Schriftsatz so rechtzeitig weitergeleitet, daß er noch innerhalb der Rechtsbehelfs- oder Rechtsmittelfrist beim zuständigen Gericht eingeht, sind Folgerungen zum Nachteil des Klägers oder Rechtsmittelklägers aus dessen fehlerhaftem Verhalten ohnehin nicht zu ziehen. -

3 a. Der BGH geht in ständiger Rechtspr. davon aus, daß eine falsche Adressierung der Rechtsmittelschrift im Regelfall als auf einem Verschulden der Partei bzw. ihres Prozeßbevollmächtigten beruhend anzusehen ist (vgl. Lindenmeier / Möhring, Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs, ZPO, Nr. 8 zu § 233 (D); Nr. 34 zu § 232 (Ca); insoweit unentschieden gelassen: Nr. 42 zu § 233; vgl. auch BGH, Urt. vom 16.1.1974, VersR 1974, 435); auch eine etwaige Rechtsunkenntnis des Prozeßbevollmächtigten muß hier als verschuldet angesehen werden (vgl. BGH NJW 1971, 1704; ferner auch BSG SozR Nr. 30 zu § 67 SGG). Eine schuldhafte Säumnis des Rechtsmittelklägers bzw. ein Verschulden seines Prozeßbevollmächtigten - das darin zu sehen war, daß die Berufungsschrift versehentlich an das LG (statt an das OLG) gerichtet wurde - schließt jedoch nach der Auffassung des BGH die Wiedereinsetzung nach § 233 ZPO nicht aus, wenn die Folgen der Säumnis durch ein von einer anderen Stelle zu erwartendes pflichtgemäßes Handeln hätten ausgeglichen werden können, dies aber in einer dem Rechtsmittelkläger nicht zurechenbaren Weise unterblieben ist (vgl. BGH Lindenmaier / Möhring a.a.O., ZPO, Nr. 84 und 42 zu § 233; Nr. 2 zu § 233 (D); Nr. 34 zu § 232 (Ca) = NJW 1972, 684). Das ist nach der Rechtspr. des BGH der Fall, wenn die Partei alle erforderlichen Schritte unternommen hatte, die bei einem normalen Ablauf der Dinge mit Sicherheit dazu führen würden, daß die Frist gewahrt werden kann, die Versäumnis aber auf anderen, von der Partei nicht zu vertretenden und für sie unabwendbaren Ereignissen beruht (vgl. BGH, Lindenmaier / Möhring a.a.O., ZPO, Nr. 10 zu § 233 (Gc); Nr. 84 zu § 233; ferner auch BGH VersR 1974, 1001 und 1974, 1164; RG in Warneyer, Die Rechtsprechung des Reichsgerichts, 1940 S. 188 Nr. 90).

Nach der Rechtspr. des BGH ist die Wiedereinsetzung allerdings zu versagen, wenn das Verschulden der Partei oder ihres Vertreters weiterhin mitursächlich dafür war, daß die Frist versäumt worden ist (vgl. BGH, Lindenmaier / Möhring a.a.O., ZPO, Nr. 34 zu § 232 (Ca); Nr. 2 zu § 233 (D); Nr. 84 zu § 233 ZPO). Dabei ist der BGH davon ausgegangen, daß der Rechtsanwalt zwar die Weiterleitung einer falsch adressierten Berufungsschrift vom LG an das OLG erwarten, aber nicht damit rechnen könne, dies werde „noch am Eingangstag“ (vgl. BGH, Lindenmaier / Möhring a.a.O., ZPO, Nr. 4 zu § 233 = NJW 1951,153) geschehen. Die Ursächlichkeit eines Anwaltsverschuldens entfalle auch nicht deshalb, weil der für die Bearbeitung zuständige Richter bei sofortiger gründlicher Bearbeitung die Möglichkeit gehabt hätte, die nachteiligen Folgen abzuwenden; andernfalls würde der Verantwortungsbereich der verschiedenen Organe der Rechtspflege „allzu sehr verschoben werden“ (BGH, Lindenmaier / Möhring a.a.O., Nr. 34 zu § 232 (Ca) = NJW 1972, 684).

b. Die vielfältigen Verweisungen im ArbGG auf die entsprechende Anwendung der Vorschriften der ZPO (vgl. z.B. für das Berufungsverfahren § 64 Abs. 2 ArbGG, für das Revisionsverfahren § 72 Abs. 3 ArbGG) legen es nahe, daß in der Arbeitsgerichtsbarkeit weitgehend die gleichen Grundsätze angewandt werden. Das BAG hat in Übereinstimmung mit dem BGH ausgesprochen, daß die Anforderungen an die Mithilfe der Gerichte nicht überspannt werden dürften und das Rechtsmittelgericht regelmäßig nicht verpflichtet sei, die Rechtsmittelschrift „sofort nach Eingang“ auf ihre Richtigkeit und Vollständigkeit hin zu überprüfen und mögliche Zweifelspunkte durch eine Rückfrage zu klären (vgl. Urt. vom 15.2.1973, AP Nr.18 zu § 518 ZPO; Urt. vom 5.11.1974 - 5 AZR 44/74). Andererseits hat das BAG aber entschieden (Urt. vom 16.12.1971, AP Nr. 59 zu § 233 ZPO), daß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, wenn eine unvollständig an das LAG adressierte, aber durch eine Fehlleitung der Post an das ArbG gelangte Berufungsschrift so frühzeitig abgesandt war, daß sie normalerweise rechtzeitig beim Berufungsgericht eingegangen wäre (vgl. auch BAG, AP Nr. 44,48 und 54 zu § 233 ZPO).

c. In diesem Zusammenhang ist auch auf die sehr umfangreiche Rechtspr. des RG und der obersten Gerichtshöfe des Bundes zur Frage der rechtzeitigen Aufgabe der Rechtsmittelschrift zur Post hinzuweisen. Danach beruht der verspätete Eingang eines fristwahrenden Schriftsatzes auf unabwendbarem Zufall i.S. des § 233 ZKO, wenn glaubhaft gemacht ist, daß der Schriftsatz so rechtzeitig zur Post gegeben wurde, daß er bei normaler Bearbeitung der Postsendungen fristgerecht bei Gericht eingegangen wäre (vgl. BGHZ 2, 31, 33; BGH, VersR 1974, 435; BSG, SozR Nr. 17 zu § 67 SGG; BAG 2, 116; BAG AP Nr. 63 zu § 233 ZPO; OLG Hamburg, NJW 1974, 68; Wieczorek, a.a.O., § 233 Anm. B II k). Das BVerwG und die anderen obersten Gerichtshöfe haben weiter entschieden, daß der Rechtsmittelkläger die Frist bis 24 Uhr ausnutzen darf (BVerwG NJW 1974, 73; vgl. auch BGHZ 2, 31, 33; BVerwG 18, 51; BAG 9, 215). Entsprechend trifft die Justizverwaltung die Verpflichtung, geeignete Vorkehrungen zu treffen, daß Schriftstücke auch nach Dienstschluß bei Gericht fristgerecht eingereicht werden können (vgl. Stein / Jonas, Komm. zur Zivilprozeßordnung, 19. Aufl., § 233 Anm. II 1 a; Auffarth / Schönherr, a.a.O., § 66 Anm. 16/5). Unterläßt die Justizverwaltung derartige Vorkehrungen, so darf dies nicht zu Lasten des Rechtsuchenden gehen (vgl. BGHZ 2, 31; BAG AP Nr. 15 zu § 233 ZPO). Die Rechtspr. geht also übereinstimmend davon aus, daß das verzögerliche oder fehlerhafte Verhalten eines Dritten - hier der Post oder des Gerichts -, das zunächst dazu geführt hatte, daß die Rechtsmittelfrist versäumt worden war, dem Rechtsmittelkläger nicht zugerechnet werden kann.

d. Die Instanzgerichte der Zivilgerichtsbarkeit sind der Rechtspr. des BGH zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand weitgehend gefolgt (vgl. OLG Köln, RzW 1969, 91). Auch im Schrifttum hat diese Rechtspr., soweit ersichtlich, nur Zustimmung erfahren. So erklären Stein / Jonas a.a.O. (ZPO, § 233 Anm. II 1 b S. 906), daß zwischen dem unabwendbaren Ereignis und der Versäumung der Prozeßhandlung ein ursächlicher Zusammenhang bestehen muß (vgl. auch Baumbach / Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 32. Aufl., § 233 Anm. 2 C; Henckel, a.a.O. S. 106). Ein Verschulden der Partei oder ihres Vertreters schließt daher die Wiedereinsetzung nicht aus, wenn auch bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt die Fristversäumnis nicht vermieden worden wäre oder wenn zwar eine schuldhafte Säumnis vorliegt, aber bei normalem Ablauf der Dinge deren Folgen durch ein von anderer Seite zu erwartendes pflichtgemäßes Handeln ausgeschaltet worden wären, dies aber infolge eines für den Kläger unabwendbaren Zufalls unterblieben ist (vgl. auch Peters / Sautter / Wolff a.a.O., § 67 Anm. 7a S. 214 und 218).

4. Von diesen Grundsätzen ist auch die bisherige Rechtsprechung des BSG ausgegangen. Dabei ist insbesondere auf die unterschiedliche - strengere“ - Regelung des § 233 ZPO gegenüber § 67 SGG, die grundsätzlichen Unterschiede zwischen dem zivilgerichtlichen Verfahren (Anwaltsprozeß) und dem sozialgerichtlichen Verfahren (Parteiprozeß), den betroffenen Personenkreis und die billigerweise an ihn zu stellenden Anforderungen hingewiesen worden. Auch bei einer schuldhaft fehlerhaften Adressierung der Rechtsmittelschrift ist die Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand nicht grundsätzlich abgelehnt, sondern jeweils unter Berücksichtigung der Verhältnisse des Einzelfalles auch ein späteres fehlerhaftes Verhalten anderer Stellen als geeignet angesehen worden, das einmal gesetzte Verschulden des Rechtsmittelklägers so weit in den Hintergrund treten zu lassen, daß die Wiedereinsetzung gewährt werden kann (vgl. BSG, SozR Nr. 41 zu § 67 SGG; BSG, SGb 1971, 477; Urt. vom 22.9.1971 - 10 RV 210/71 -). Nach Auffassung des 2. Senats (Urt. vom 28.8.1968, SozR Nr. 41 zu § 67 SGG) folgte die Verpflichtung zur Weiterleitung schon aus der allgemeinen Fürsorgepflicht einer BG gegenüber den bei ihr Versicherten; mit einem Verstoß gegen die Sorgfalts- und Fürsorgepflicht brauche ein Versicherter nicht zu rechnen, auch wenn er selbst schuldhaft seine Rechtsmittelschrift nicht auf den richtigen Weg gebracht, sondern sie dem Versicherungsträger überantwortet habe. Der 10. Senat hat in seinem Urt. vom 22.9.1971 ausgesprochen, mit der hier vorliegenden außergewöhnlich verzögerten Behandlung ihrer Berufung durch das Landesversorgungsamt - dieses hatte 13 Tage Zeit - habe die Klägerin nicht zu rechnen brauchen. Auch nach der Auffassung des 11. Senats (Urt. vom 21.10.1971, SGb 1971, 477) muß, wer fehlerhaft handelt, den weiteren Geschehensablauf nur insoweit vertreten, als dieser voraussehbar und mit ihm zu rechnen gewesen ist. Mit dieser Rechtsprechung stimmt auch der Beschluß des 1. Senats vom 28.1.1955 (SozR Nr. 3 zu § 151 SGG) überein. In den Gründen ist ausgesprochen, das SG sei nicht verpflichtet, jede Postsache „unmittelbar nach Eingang“ daraufhin zu prüfen, ob seine Zuständigkeit gegeben ist oder ob die Sache an eine andere zuständige Stelle weiterzuleiten ist (vgl. den nahezu gleichliegenden, vom BGH entschiedenen Fall NJW 1951, 153; ferner BVerwG, Buchholz a.a.O., 310, Nr. 67 zu § 60 VwGO unter Hinweis auf die Rechtspr. des BGH, NJW 1972,684).

5.a Der Gr. S. hält im Ergebnis an der bisherigen Rechtspr. fest. Schon der Wortlaut des § 67 Abs. 1 SGG spricht nicht so eindeutig für die Auffassung des 12. Senats, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Das Ges. fordert nämlich nicht, daß jemand bei der Fristversäumung „ohne Verschulden“ gewesen sein muß, sondern das Ges. schreibt lediglich vor, daß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, wenn jemand ohne Verschulden „verhindert“ war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Das aber ist nicht nur dann der Fall, wenn ein Verschulden des Rechtsmittelklägers gar nicht vorlag (z.B. infolge Krankheit), sondern auch dann, wenn ein Verschulden des Rechtsmittelklägers zwar vorgelegen hat, dieses aber für die Fristversäumnis nicht ursächlich gewesen ist, bzw. wenn die Fristversäumnis dem Rechtsmittelkläger nicht zugerechnet werden kann.

Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 Abs. 1 SGG kann auch nicht völlig losgelöst davon betrachtet werden, daß nach der bereits dargelegten allgemeinen Rechtsauffassung die Regelung des § 67 SGG für den Betroffenen günstiger ist als die der ZPO und daß an die Sorgfaltspflichten der Partei oder ihres Anwaltes nach § 233 ZPO höhere Anforderungen zu stellen sind als nach § 67 SGG oder nach § 60 VwGO (vgl. BGH, NJW 1972, 684; BVerwG, Buchholz, a.a.O., 310, Nr. 53 zu § 60; BSG 1, 227, 232). Dieser Grundsatz würde im Ergebnis in sein Gegenteil verkehrt werden, wenn - entgegen den vom BGH herausgearbeiteten und in der Zivilgerichtsbarkeit maßgebenden Grundsätzen - ein einmal gesetztes Verschulden des Rechtsmittelklägers in der SGb die Wiedereinsetzung auch dann ausschließt, wenn ein vorwerfbar fehlerhaftes Verhalten anderer Personen oder Stellen die Fristwahrung weiterhin vereitelt hat. Vollends unverständlich wäre das Ergebnis, wenn der Rechtsmittelkläger gerade durch das arglistige Verhalten seines Gegners an der rechtzeitigen Einlegung des Rechtsmittels gehindert worden wäre (vgl. Rosenberg / Schwab, ZPO, § 70 Anm. II 1; Stein / Jonas, a.a.O., § 233 Anm. II 1 a; RG Warneyer 1938 S. 250 Nr. 110; Bayerischer VerwGH, VerwRspr 10, 632).

Weiter ist zu berücksichtigen, daß der betroffene Personenkreis, der vor den SGen klagt, im Regelfall als besonders schutzbedürftig anzusehen ist. Das gilt nicht nur für das materielle Recht, sondern auch für das prozessuale Verfahren. Letzteres ergibt sich schon daraus, daß das gesamte Zivilprozeßrecht vom Anwaltsprozeß als Regelfall beherrscht wird (§§ 78, 253 ZPO), während im Gegensatz dazu die Rechtsuchenden im sozialgerichtlichen Verfahren selbständig vor Gericht auftreten können und für sie - mit Ausnahme des Revisionsverfahrens (vgl. § 166 SGG) - keine Vertretung durch Rechtsanwälte oder andere Prozeßbevollmächtigte vorgeschrieben ist. Da es außerdem auf die persönlichen Verhältnisse des Betroffenen, insbesondere seinen Bildungsgrad und seine Rechtserfahrung ankommt, darf weiterhin nicht übersehen werden, daß mangelnde Geschäftsgewandtheit und fehlende Rechtskunde fast ausschließlich auf der Klägerseite des sozialgerichtlichen Prozesses zu finden sein werden (vgl. Rohwer-Kahlmann a.a.O. § 67 Anm. 6). Gerade diesem Personenkreis soll aber durch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand geholfen werden. Der Sinn und Zweck dieser Regelung liegt allgemein in der Rechtswohltat, daß ein durch eine Fristversäumung, also durch einen formalen Fehler, im jeweiligen Verfahren entstandener Rechtsnachteil beseitigt werden kann.

b. Der Gr. S. verkennt dabei nicht, daß auch das Prinzip der Rechtssicherheit zu den wesentlichen Bestandteilen des Rechtsstaates gehört. Aus ihm folgt die grundsätzliche Rechtsbeständigkeit rechtskräftiger Entscheidungen und sonstiger in Rechtskraft (Bindung) erwachsener Akte der öffentlichen Gewalt. Tritt dieser Grundsatz mit dem Gebot der Gerechtigkeit im Einzelfall (vgl. BVerfG 7, 89, 92; 7, 194,196; 15, 313, 319; 22, 322, 329; 25, 269, 290 ff.) in Widerstreit - weil eine formale Rechtsposition durch bloßen Fristablauf unangreifbar geworden ist -, so erlaubt die Wiedereinsetzung eine individualisierende Rechtsfindung, wobei die schutzwürdigen Interessen beider Parteien gegeneinander abzuwägen sind (vgl. Henckel a.a.O., 106). Durch die für Fälle der vorliegenden Art typische kurzfristige Verspätung wird auch die Verwirklichung des Gesetzeszweckes, in angemessener Zeit Rechtssicherheit durch Eintritt der Unanfechtbarkeit herbeizuführen, nicht erheblich beeinträchtigt oder gefährdet (vgl. BVerwG, Buchholz, a.a.O., 310, Nr. 73 zu § 60 VwGO). Insbesondere zeigt auch die andersartige Ausgestaltung der Wiedereinsetzung gegenüber der Wiederaufnahme des Verfahrens (§§ 578 ff. ZPO; §§ 179 ff. SGG), daß der Gesetzgeber die bloße Fristversäumnis im formal-rechtlich abgeschlossenen, aber noch laufenden Verfahren weniger schwer bewertet und demgemäß die Beseitigung dieser Fristversäumnis an weniger strenge Voraussetzungen knüpft als die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens. Nach einer Entsch. des BVerfG (vgl. BVerfG 4, 309, 314) neigen die Rechtspr. sowie die späteren Verfahrensgesetze, insbesondere diejenigen über die Verwaltungsgerichtsbarkeit, dahin, die Wiedereinsetzung zu einem allgemeinen Rechtsinstitut des instanzgerichtlichen Verfahrens zu machen. Das BVerfG hat ferner wiederholt entschieden, daß die Anforderungen zur Erlangung der Wiedereinsetzung und damit zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht überspannt werden dürfen (vgl. BVerfG 25, 158, 166; 26, 315, 318; 31, 388, 390; 34, 154, 156; BVerfG NJW 1974, 25). Verfahrensvorschriften sind nicht Selbstzweck; sie dienen letztlich der Wahrung der materiellen Rechte der Prozeßbeteiligten. In Zweifelsfällen sind sie daher - wenn irgend vertretbar - so auszulegen, daß sie eine Entscheidung über die materielle Rechtslage ermöglichen und nicht verhindern (vgl. BFH - Gr. S. - 111, 278, 285).

Auch im Schrifttum wird überwiegend die Meinung vertreten, daß bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Nachsicht am Platze ist, weil die Verletzung von Förmlichkeiten nicht unnötig zu einem Rechtsverlust führen soll (vgl. Eyermann / Fröhler, a.a.O. §.60 Anm. 11; Peters / Sautter / Wolff a.a.O., § 67 Anm. 7 a - S. 213; Dietz / Nikisch, a.a.O. § 66 Anm. 22). Für die verwaltungsgerichtlichen Verfahrensordnungen wird ferner darauf hingewiesen, daß es in diesen Verfahrensarten häufig der Staat oder eine öffentliche Körperschaft ist, deren Interessen an der Rechtskraft durch die Wiedereinsetzung (§ 60 VwGO; § 56 FGO; § 67 SGG) berührt werden, und daß es dem Staat wie den öffentlichen Körperschaften „wohl anstehe“, gegenüber Fristversäumungen milde zu sein (vgl. Henckel a.a.O., 106) und sich nicht auf eine formale, aber materiell falsche oder ungeklärte Rechtsposition zu berufen.

Unter Abwägung der gesamten Gesichtspunkte ist der Gr. S. der Auffassung, daß bei der Wiedereinsetzung nach § 67 SGG die verfahrensrechtlichen und persönlichen Gegebenheiten (Parteiprozeß, Rechtsunkunde, Fürsorge- und Betreuungspflicht) nicht außer acht gelassen werden dürfen. Nachsicht ist jedenfalls am Platze, wenn der Rechtsmittelkläger zu dem Personenkreis gehört, der üblicherweise vor den SGen als Kläger erscheint; das sind versicherte und versorgungsberechtigte Personen. Der Gr. S. brauchte im vorliegenden Verfahren nicht darüber zu entscheiden, ob die gleichen Erwägungen auch dann maßgebend sind, wenn Rechtsmittelkläger ein VersTr. oder VersorgTr. oder eine sonstige Institution des öffentlichen Rechts ist.

Rechtsmittelkläger des beim 12. Senat anhängigen Ausgangsverfahrens ist eine natürliche Person und auch die Rechtsmittelkläger der vom 2., 10. und 11. Senat entschiedenen Verfahren gehörten zu diesem Personenkreis. Eine weitergehende Fragestellung, die unterschiedslos alle Rechtsmittelkläger umfassen würde, ist dem Vorlagebeschluß des 12. Senats nicht zu entnehmen.

c. Ein Rechtsmittelkläger kann allerdings nicht erwarten, daß ein einmal von ihm - durch die falsche Adressierung der Rechtsmittelschrift (vgl. BSG, SozR Nr. 33 zu § 67 SGG) - gesetztes Verschulden in jedem Falle durch das Gericht oder sonstige Stellen, z.B. den VersTr. oder die Versorgungsverwaltung, wieder beseitigt wird. Diese Stellen sind nicht verpflichtet, jedes Schriftstück sofort, d.h. unmittelbar nach seinem Eingang, daraufhin zu überprüfen, ob darin etwa eine Rechtsmittelschrift enthalten ist, die an das zuständige Gericht weitergeleitet werden muß (vgl. BSG, SozR Nr. 3 zu § 151 SGG; BGH, Lindenmaier / Möhring a.a.O., ZPO, Nr. 34 zu § 232 (Ca) = NJW 1972, 684). Sie sind insbesondere auch nicht verpflichtet, ggf. außerordentliche Maßnahmen zu ergreifen, um den rechtzeitigen Eingang der Rechtsmittelschrift bei dem zuständigen Gericht zu gewährleisten. Eine solche Verpflichtung würde die Anforderungen, die an die Sorgfalts- und Fürsorgepflicht der Gerichte, Behörden oder öffentlich-rechtlichen Körperschaften zu stellen sind, erheblich überspannen und den innerbetrieblichen Geschäftsgang in ungebührlicher Weise belasten. Geht eine Rechtsmittelschrift am letzten oder vorletzten Tag bei der unzuständigen Stelle (Gericht oder Behörde) ein, so wird schon aus zeitlichen Gründen eine - sachgemäße - Durchsicht und rechtzeitige Weiterleitung an das zuständige Gericht nicht in Betracht kommen (vgl. BGH, Lindenmaier / Möhring a.a.O., ZPO Nr. 4 zu § 233 = NJW 1951, 153). Eine telefonische Durchsage oder auch die Weiterleitung durch Telegramm würde in jedem Falle nicht genügen. Darin könnte allenfalls eine Mitteilung über die - bei dem unzuständigen Gericht erfolgte - Rechtsmitteleinlegung erblickt werden; sie könnte jedoch die ordnungsgemäße Rechtsmitteleinlegung bei dem zuständigen Gericht nicht ersetzen (vgl. BVerwG, JR 1973, 76; BVerwG, Buchholz, a.a.O., 310, Nr. 67 zu § 60).

Welcher Zeitraum vor dem Ablauf der Rechtsmittelfrist noch als ausreichend angesehen werden kann, um die rechtzeitige Weiterleitung an das zuständige Gericht erwarten zu können, wird weitgehend von den Verhältnissen des Einzelfalles abhängig sein. Dabei wird u.a. zu berücksichtigen sein, ob zur ordnungsgemäßen Bearbeitung des Schriftstückes noch Akten anzufordern sind oder ob das Ziel einer Rechtsmitteleinlegung aus dem fehlgeleiteten Schreiben nur bei eingehender Durcharbeitung - durch den Richter - zu erkennen ist. Außergewöhnliche Verzögerungen in der Bearbeitung der Sache (vgl. Urt. des 10. Senats vom 22.9.1971 - 10 RV 210171 -) oder fehlerhafte Maßnahmen bei der postalischen Weiterleitung an die zuständige Stelle (vgl. Urt. des 11. Senats vom 21.10.1971, SGb 1971, 477) können dem Rechtsmittelkläger jedoch nicht zugerechnet werden.

Dabei kann es keinen Unterschied machen, ob es sich bei der zunächst - fehlerhaft - angeschriebenen Stelle um ein Gericht oder einen VersTr. oder VersorgTr. handelt. Denn neben der materiellen und verfahrensmäßigen Fürsorge- und Betreuungspflicht der Behörden und öffentlich-rechtlichen Körperschaften besteht gleichermaßen eine prozessuale Fürsorgepflicht der Gerichte, die es gebietet, offensichtliche Fehlhandlungen des Rechtsmittelklägers zu korrigieren, soweit das bei ordnungsgemäßem Geschäftsgang möglich ist.

d. Die dem Gr. S. vorgelegte Rechtsfrage ist somit dahin zu beantworten, daß einem Rechtsmittelkläger - jedenfalls wenn es sich um eine natürliche Person handelt - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 Abs. 1 SGG auch dann gewährt werden kann, wenn eine Rechtsmittelschrift trotz ordnungsgemäßer Rechtsmittelbelehrung nicht an das zuständige Gericht, sondern an eine unzuständige Stelle (z.B. Gericht, Behörde, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts) übersandt worden ist und die Rechtsmittelschrift infolge pflichtwidrigen Verhaltens dieser Stelle erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist beim zuständigen Gericht eingeht. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Folgen der Fehlleitung durch ein von der angegangenen Stelle zu erwartendes pflichtgemäßes Handeln hätten ausgeglichen werden können und die Einhaltung der Rechtsmittelfrist durch eine Weiterleitung im ordnungsgemäßen Geschäftsgang gewährleistet gewesen wäre. Zu einer sofortigen, d.h. unmittelbar nach Eingang erfolgenden Weiterleitung der Rechtsmittelschrift oder zu außergewöhnlichen Maßnahmen ist diese Stelle nicht verpflichtet.

IV

Diese Rechtsauffassung weicht nicht von der Rechtspr. der anderen obersten Gerichtshöfe des Bundes ab; eine Anrufung des GemS der obersten Gerichtshöfe des Bundes ist daher nicht erforderlich.

1. Nach § 2 Abs. 1 RsprEinhG entscheidet der GemS, wenn ein oberster Gerichtshof in einer Rechtsfrage von der Entsch. eines anderen obersten Gerichtshofs oder des GemS abweichen will. Eine Abweichung würde allerdings dann nicht in Betracht kommen, wenn die Vorschrift des § 67 Abs. 1 SGG als Spezialvorschrift für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand anzusehen wäre, die in einem anderen Ges. geregelt und mit Rücksicht auf ihren sachlichen Gehalt, den betroffenen Personenkreis und die der Sozialgerichtsbarkeit zugewiesenen Sachgebiete an andere Voraussetzungen geknüpft ist als § 56 FGO oder § 60 VwGO (vgl. BVerwG - Gr. S. - 36, 340, 346; BVerwG, Buchholz a.a.O., 232, Nr. 15 zu § 90 BBG - entgegen BGH, ZBR 1961, 317; BGHZ 9, 179, 181; 52, 287, 295; GemS-OGB BSG 35, Anh. S. 293; BFH 101, 247; BSG 34, 269, 271). Das ist jedoch nicht der Fall. Zwar ist nicht zu verkennen, daß insbesondere der Personenkreis, der vor den FGen klagt, sich weitgehend von den Beteiligten unterscheidet, die vor den SGen ihr Recht suchen. Das ergibt sich schon aus den unterschiedlichen Aufgabenbereichen und Sachgebieten, für die die FGe (vgl. § 33 FGO) und die Gerichte der SGb (vgl. §51 SGG) zuständig sind. Andererseits ist aber in allen drei Verwaltungsgerichtsbarkeiten ein Anwaltszwang vor den Instanzgerichten nicht vorgesehen; in der Finanzgerichtsbarkeit besteht sogar vor dem BFH kein Vertretungszwang (vgl. demgegenüber § 166 SGG und § 67 VwGO, aber auch § 78 ZPO und § 11 Abs. 2 ArbGG). Das bedeutet, daß in diesen Gerichtsbarkeiten auch der rechtsunkundige Laie sein Recht selbst suchen kann; auf seine Belange und Erkenntnismöglichkeiten muß bei der Wiedereinsetzung weitgehend Rücksicht genommen werden. Der Wortlaut der angeführten Vorschriften ist ohnehin nahezu übereinstimmend; auch ihr Regelungsinhalt (Vermeidung von endgültigen Rechtsnachteilen durch formelle Fehler bzw. Verzögerungen) stimmt weitgehend überein (vgl. GemS-OGB, BSG 35, Anh. S. 293). Die hier entscheidende Rechtsfrage tritt überdies in sämtlichen Gerichtsbarkeiten gleichermaßen auf und muß im Interesse der Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtspr. nach den gleichen Prinzipien ausgelegt und einheitlich beantwortet werden.

2. Nach der übereinstimmenden Auffassung der obersten Gerichtshöfe des Bundes ist eine Anrufung des GemS jedoch nur dann erforderlich, wenn eine Abweichung von der Rechtsprechung eines anderen obersten Gerichtshofes deutlich erkennbar ist; die bloße Möglichkeit einer Abweichung genügt insoweit nicht (vgl. BAG, AP Nr. 19 zu § 72 BetrVG; BFH - Gr. S. - 111, 278, 280). Eine deutliche Abweichung der Rechtsauffassung des Gr. S. des BSG von der Rechtspr. des BVerwG und des BFH ist nicht festzustellen.

a. Die vom 12. Senat erwähnte Entsch. des BVerwG vom 29.1.1958 (BVerwG 6, 161), die auch im Schrifttum vielfach zitiert worden ist (vgl. Eyermann / Fröhler, a.a.O., J 60 Anm. 5; Peters / Sautter / Wolff, a.a.O. § 67 Anm. 7 a - S. 214), betraf einen ganz anders gelagerten Fall. Dem dortigen Kläger war das - für ihn nachteilige - Urteil der ersten Instanz durch seinen Prozeßbevollmächtigten nicht mitgeteilt worden. Mit seinem Wiedereinsetzungsantrag machte der Kläger geltend, daß er durch eine schwere Krankheit ohnehin verhindert gewesen wäre, rechtzeitig Berufung einzulegen. Das BVerwG hatte also nicht darüber zu entscheiden, ob ein einmal gesetztes Verschulden des Rechtsmittelklägers durch ein späteres fehlerhaftes Verhalten anderer Personen oder Stellen verdrängt werden kann, sondern allein darüber, ob ein eindeutiges Verschulden des Prozeßbevollmächtigten des Klägers durch andere, auf Seiten des Klägers vorliegende Ereignisse (Krankheit) wieder ausgeräumt werden kann.

In einer weiteren Entsch. (vgl. BVerwG 32, 357 = Buchholz, a.a.O. 310, Nr. 61 zu § 132) hat der VIII. Senat des BVerwG zwar entschieden, die falsche Adressierung der Beschwerdebegründung gegen die Nichtzulassung der Revision an das BVerwG - statt an das OVG - stelle sich als Verschulden des Prozeßbevollmächtigten dar (vgl. BVerwG, NJW 1962, 172; BVerwG 15, 316); ein Versehen der Geschäftsstelle des BVerwG bei der Weiterleitung könne nicht anerkannt werden. Rechtsmittelklägerin in diesem Falle war jedoch die beklagte Bundesrepublik Deutschland, also eine öffentlich-rechtliche Körperschaft und keine natürliche Person, deren Antrag auf Wiedereinsetzung abgelehnt wurde. Daher kann offenbleiben, ob das BSG in diesem Falle überhaupt eine andere Auffassung vertreten hätte und zu einer anderen Entsch. gekommen wäre.

Der III. Senat des BVerwG hat in zwei neueren Entscheidungen (vom 12.7.1972 - III C 5/72 - JR 1973, 76 und vom 14.7.1972 - III C 10/72 - Buchholz, a.a.O., 310, Nr. 67 zu § 60) ausgesprochen, ein Rechtsanwalt habe keinen Anspruch und könne auch nicht schlechthin darauf vertrauen, das BVerwG werde ihn so rechtzeitig, d.h. notfalls telefonisch oder telegrafisch, auf die Mängel der Revisionseinlegung hinweisen, daß es ihm ermöglicht werde, die Revision noch fristgerecht beim zuständigen VG einzulegen. Er könne ebensowenig damit rechnen, das BVerwG werde die Revisionsschrift so rechtzeitig an das VG weiterleiten, daß sie dort noch fristgerecht eingehe; denn der Umfang der prozessualen Fürsorgepflicht gehe nicht so weit.

An diesen Entscheidungen des BVerwG ist zweierlei bedeutsam: Die Revisionsschriften waren erst am vorletzten Tage vor dem Ablauf der Revisionsfrist beim BVerwG eingegangen (entgegen § 139 Abs. 1 Satz 1 VwGO - vgl. BverwG - Gr. S. - 2, 159) und sind von dort binnen zwei Tagen an das zuständige VG weitergeleitet worden. Die Formulierung „schlechthin“ in dem Leitsatz dieser Entscheidungen (vgl. Buchholz, a.a.O. 310, Nr. 67 zu § 60) läßt daher nur den Schluß zu, daß das BVerwG die Entsch. über die Wiedereinsetzung jeweils von den Verhältnissen des Einzelfalles abhängig machen und keinesfalls eine sofortige Überprüfung jedes Eingangs bei Gericht auf seine Zuständigkeit und notfalls außerordentliche Maßnahmen (telefonische oder telegrafische Benachrichtigung) statuieren will, um den Rechtsmittelkläger auf sein formfehlerhaftes Rechtsmittel hinzuweisen. Außerdem aber hat das BVerwG ausdrücklich den Erwägungen des BGH im Beschl. vom 26.1.1972 (NJW 1972, 684) zugestimmt und sich diese für Fälle der vorliegenden Art zu eigen gemacht. In dieser Entsch. hat der BGH ausgesprochen, die Wiedereinsetzung könne nicht deswegen erteilt werden, weil das Gericht den Prozeßbevollmächtigten nicht noch am letzten Tag der Frist darauf aufmerksam gemacht habe, daß das Rechtsmittel bei einem unzuständigen Gericht eingelegt worden sei (vgl. auch BGH, Lindenmaier / Möhring a.a.O., ZPO, Nr. 84 zu § 233).

Die letztgenannten Entscheidungen des BVerwG lassen also eine Annäherung, wenn nicht gar eine Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BGH zur Frage der Wiedereinsetzung erkennen. Sie decken sich aber auch mit der Auffassung des Gr. S. des BSG, wie sie oben unter III 5. dargelegt ist. Danach geht die Verpflichtung des unzuständigen Gerichts bzw. der unzuständigen Stelle lediglich dahin, eine Rechtsmittelschrift „im ordnungsgemäßen Geschäftsgang“ an das zuständige Gericht weiterzuleiten (vgl. BGH, Lindemaier / Möhring a.a.O., ZPO, Nr. 42 zu § 233). In den genannten Fällen wäre auch nach der Rechtsauffassung des Gr. S. des BSG keine andere Entscheidung zu erwarten, als sie das BVerwG getroffen hat. Damit sind aber die Voraussetzungen für die Anrufung des GemS nach § 2 RsprEinhG nicht gegeben.

b. Der Entsch. des BFH vom 12.1.1968 (vgl. BFH 90, 395) lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Beschluß des BFH über die nachträgliche Zulassung der Revision wurde dem Finanzamt (FA) am 2.5.1967 zugestellt (vgl. § 115 Abs. 5 letzter Satz FGO). Die Revisionsschrift des FA vom 19.5. war an den BFH gerichtet und ging dort am 23.5. ein. Von der Geschäftsstelle des BFH wurde sie am 7.6. an das FG weitergeleitet, wo sie am 13.6. eintraf. In rein zeitlicher Hinsicht ist dieser Fall also vergleichbar mit dem Ausgangsverfahren des 12. Senats des BSG. Der entscheidende Unterschied besteht aber darin, daß Rechtsmittelkläger vor dem BFH das FA war, während sich die oben dargelegte Rechtsauffassung des Gr. S. ausdrücklich auf natürliche Personen als Rechtsmittelkläger beschränkt.

Der BFH hat zwar an demselben Tage (12.1.1968 - VI R 278/67 -) in einem Fall, in dem die Kläger (Steuerpflichtigen) auch Rechtsmittelkläger waren, entschieden (BFH 91, 341): „Wird die Revision trotz einwandfreier Rechtsmittelbelehrung innerhalb der Revisionsfrist beim BFH eingelegt, so war der Rechtsmittelkläger nicht .ohne Verschulden verhindert, die Revisionsfrist einzuhalten, wenn der BFH die Rechtsmittelschrift an das zuständige FG weiterleitet, sie dort aber erst nach dem Ablauf der Revisionsfrist eingeht.“ Nach dem Sachverhalt dieser Entscheidung ging die Revisionsschrift jedoch erst am 2.10. (vorletzter Tag) beim BFH und von dort bereits am 4.10. beim FG ein; das war um einen Tag verspätet. Ähnlich gelagerte Sachverhalte lagen dem Beschluß des 1. Senats des BFH vom 15.4.1970 (BFH 98, 536) und dem Beschl. des VIII. Senats vom 15.1.1973 (BFH 108, 18) zugrunde. In den drei letztgenannten Fällen hätten vom BFH „sofortige“ oder „außergewöhnliche“ Maßnahmen ergriffen werden müssen, um den - möglicherweise - rechtzeitigen Eingang der Rechtsmittelschrift bei dem zuständigen Gericht zu erreichen. Dazu aber ist das fälschlich angegangene Gericht auch nach Auffassung des Gr. S. des BSG nicht verpflichtet. Eine Abweichung von der Rechtspr. des BFH, die zur Anrufung des GemS nach dem RsprEinhG führen müßte, liegt daher gleichfalls nicht vor (vgl. BFH - Gr. S. - 111, 278, 286).

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