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4 RJ 363/73

Gründe

Der Kläger - 1927 geboren - erlitt Mitte 1969 einen Herzinfarkt. Wegen der Folgen dieses Geschehens, vor allem wegen eingeschränkter Herzleistungsbreite, mußte er den Beruf eines Ofenmaurers, den er erlernt und in dem er zuletzt als Vorarbeiter und Kolonnenführer tätig gewesen war, aufgeben. Nach ärztlicher Auffassung waren ihm nur noch Arbeiten bei wechselnder Körperhaltung ohne körperliche Anstrengung und ohne Zeitdruck, wenn auch ganztags, zuträglich. Damit fiel er als Maurer und auch als Vorarbeiter aus. Von seinem Arbeitgeber wurde er zunächst mit leichten Büroarbeiten beschäftigt, später in das Angestelltenverhältnis übernommen und nach der Tarifgruppe K 2 des Manteltarifvertrags für Angestellte der H. Metallindustrie sowie seit dem 01.08.1972 nach Tarifgruppe K 3 entgolten.

Den Antrag auf Bewilligung der Rente wegen Berufsunfähigkeit lehnte die beklagte LVA ab. Der Klage hat das SG stattgegeben; das LSG hat das erstinstanzliche Urteil insoweit aufgehoben, als die Beklagte zur Gewährung der Rente wegen Berufsunfähigkeit über den 31.07.1972 hinaus verurteilt worden war. Die Revision der Beklagten hat Erfolg. Das Berufungsgericht hat sich bei Beantwortung der Frage, welche Berufsarbeit dem Kläger nach seiner Herzerkrankung noch angesonnen werden kann, zu eng an den Maßstab lohn- und gehaltstariflicher Eingruppierungen gehalten; es hat zuwenig nach den Einzelfallumständen geforscht. Im besonderen hat es nicht untersucht, ob sich die Lohn- und Gehaltsgruppendefinitionen der Tarifverträge mit den vom Kläger tatsächlich wahrgenommenen Aufgaben decken. Es hat sich keine hinreichende Rechenschaft darüber gegeben, daß die Tätigkeitsbezeichnungen und -schilderungen in den Tarifverträgen Richtlinien für Eingruppierungen von Arbeitsfunktionen sind.

Die erwähnten Bezeichnungen sind generalisierende Vorlagen in bezug auf vielfältige Erscheinungen, spiegeln deshalb die in der Realität des Einzelbetriebs anzutreffenden Wirkungsbereiche und Arbeitsplätze - von Ausnahmen, wie vielleicht im Bergbau und im öffentlichen Dienst, abgesehen - nur anhaltsweise wieder. Dies liegt an den von Betrieb zu Betrieb variierenden Organisations- und Produktionsbedingungen. Gleichartig beschriebene Arbeitsvollzüge und -gebiete wechseln in den Betrieben im Grad ihrer Selbständigkeit und in ihrem Gewicht für die Gesamtheit des Produktionsprozesses (Ernst Zander, Lohn- und Gehaltsfestsetzung in Klein- und Mittelbetrieben 1973, 51). Infolgedessen weichen in der Bewertung und Bezahlung auch die Abstände zwischen den einzelnen Berufspositionen voneinander ab. Die von Tarifbestimmungen vermittelte Anschauung ist des weiteren - außer von betriebsinternen Lohn-Zwischenstufen - auch ungenau infolge von Zulagen, Erfolgsbeteiligungen und Nebenleistungen, wie freiwilligen Sozialleistungen. Die Berechtigung zu solchen Vorteilen besitzen jedoch gerade ältere Arbeitnehmer wie der Kläger, namentlich nach längerer Betriebszugehörigkeit (dazu Friedrich Weltz, Bestimmungsgrößen des Verhaltens von Arbeitnehmern auf dem Arbeitsmarkt, Zusammenfassung der Ergebnisse einer Untersuchung des Instituts für sozial-wissenschaftliche Forschung e.V., München 1971, 36 f.). Damit wird einerseits dem Verlangen des Arbeitnehmers nach einem sicheren Arbeitsplatz und einem festen Einkommen genügt und andererseits dem Interesse des Arbeitgebers gedient, dem jeder Personalwechsel oder Personalausfall Kosten verursacht und der sich das betriebsbezogene Erfahrungsgut des einzelnen erhalten will (hierüber Zander, a.a.O., 17). Daraus entspringt ein Autarkiebestreben der Betriebe, die auf diese Weise ihre Abhängigkeit von Störungen und Ungewißheiten der jeweiligen Arbeitsmarktsituation vermindern wollen. Auch die innerbetrieblichen Umsetzungen und Funktionsänderungen sind typische Erscheinungen des Arbeitsmarkts (Friedrich Fürstenberg, Arbeitsmarktprobleme in soziologischer Sicht, in: Soziologie, herausgegeben von Albrecht / Daheim / Sack, 1973, 479, 481). Sie können bei der rechtlichen Bewertung um so weniger außer acht gelassen werden, als mit ihnen aus sozialen und ökonomischen Gründen immer häufiger zu rechnen ist. Finden Wissen und Fertigkeiten, die in langjähriger Bewährung in einem Unternehmen erworben worden sind, ihre Anerkennung, so ruft dies die Arbeitszufriedenheit des Arbeitnehmers hervor. Diese kann sich bis zu dem Grade steigern, daß der einzelne sich mit „seinem“ Unternehmen weitgehend identifiziert (Otto Neuloh, Arbeits- und Berufssoziologie, 1973, 39). Aus längerer Betriebszugehörigkeit kann eine gefestigte und autoritative Position erwachsen, die sich zwar in tariflichen Zuordnungen nicht direkt niederschlägt, indessen nicht bloß einer Fachkraft, sondern auch einem „Ungelernten“ oder demjenigen Inhaber eines Arbeitsplatzes zugute kommen kann, der nicht notwendig einen herkömmlichen Ausbildungsnachweis zu besitzen braucht (Weltz, a.a.O.; Neuloh, a.a.O., 94 f.).

Das Arbeitsverhältnis des Klägers kann - dies legt der Sachverhalt nahe - von solchen Beurteilungsfaktoren geprägt sein. Deshalb ist dem Berufungsgericht nicht ohne weiteres in der Annahme zu folgen, dem Kläger habe die Tätigkeit in der Tarifgruppe K 2 (Manteltarifvertrag für die Angestellten in der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie des Landes H. in der derzeit gelten Fassung) nicht zugemutet werden können. Die vorübergehende Verdienstminderung könnte als solche rechtserheblich sein, wenn der erzielte Entgelt nicht den halben Lohn einer gesunden Vergleichsperson erreicht hätte. So liegt der Fall jedoch nicht. Im übrigen ist die Entlohnung - auch nach Ansicht des Berufungsgerichts - nur in Verbindung mit anderen Indikatoren, also nicht allein ausschlaggebend für den sozialen Rang einer beruflichen Stellung. Zwar hat das LSG ausgeführt, die Arbeiten, die nach Tarifgruppe K 2 entgolten würden, könne ein Ungelernter schon nach kurzer innerbetrieblicher Zweckausbildung verrichten, die geistige und körperliche Beanspruchung sei gering, das Maß der zu übernehmenden Verantwortung eingeschränkt. Diese Feststellung ist jedoch von der Beklagten substantiiert angegriffen worden.

Die Beklagte weist dabei auf die in dem Manteltarifvertrag für die Angestellten der H. Metallindustrie aufgestellten Vorbedingungen für eine Einstufung nach der Tarifgruppe K 2 hin; danach werde entweder eine abgeschlossene Lehre oder eine Anlernausbildung mit mehrjähriger Berufserfahrung oder eine die kaufmännische Ausbildung ersetzende einschlägige kaufmännische Tätigkeit von mindestens fünf Jahren gefordert. Das Berufungsgericht hat festgehalten, daß der Kläger für die von ihm in der fraglichen Zeit übernommenen kaufmännischen Arbeiten die nötigen Grundkenntnisse und das Wissen um die betrieblichen Gegebenheiten mitgebracht habe. Hinzu kommt, daß der Kläger in jener Zeit den gleichen Posten bekleidet haben dürfte wie nachher, als er höher besoldet wurde. Etwas anderes ist jedenfalls dem Berufungsurteil nicht zu entnehmen. Wieso sich dennoch, obgleich das Arbeitseinkommen die durch § 1246 Abs. 2 RVO gezogene Mindestverdienstgrenze nicht unterschritt, die soziale Stellung des Klägers erst mit Erreichen der höheren Gehaltsstufe wesentlich verändert haben sollte, hat das Berufungsgericht nicht einleuchtend dargetan.

Hierfür genügt es nicht, wie das Berufungsgericht gemeint hat, daß der Kläger mit Obliegenheiten beschäftigt wurde, die einer Tarifgruppe zuzuordnen waren, welche drei Stufen niedriger lag als diejenige Tarifgruppe, welche der Arbeit des Klägers vor seiner Erkrankung entsprach. Ein Zurückfallen um mehrere Tarifgruppen kann, aber muß nicht einen wesentlichen sozialen Abstieg bedeuten. Solange es nicht offen zutage liegt, daß die Einbuße an Rang und Einkommen das Ausmaß des nicht Zumutbaren erreicht hat, läßt sich dies nicht allgemein und abstrakt der jeweiligen gehaltstariflichen Einstufung ablesen. Die tariflichen Lohn- und Gehaltsgruppen sind nicht zu dem Zweck geschaffen worden, den sozialen Standort der einzelnen Arbeits- und Berufspositionen festzustellen, sondern dienen der Arbeitsbewertung und Entgeltbestimmung. Für die soziale Orientierung kann die Skala der Lohn- und Gehaltsstufen lediglich bei gleichzeitiger Beachtung sonstiger Kriterien verwendet werden. Was als dem einzelnen zumutbare Erwerbsarbeit zu betrachten ist, muß mit Rücksicht auf die näheren Umstände des Einzelfalls konkret ermittelt werden (dazu: Ecker, DAngVers 1974, 238 f.).

Gewiß wird der geringere Arbeitsverdienst, mit dem sich der Kläger nach seiner innerbetrieblichen Umsetzung anfangs begnügen mußte, darin begründet gewesen sein, daß er sich auf dem neuen Arbeitsplatz erst zurechtfinden und einarbeiten mußte. Daß der Kläger die ihm sozial und gesundheitlich angemessenen Aufgaben vorübergehend nicht voll eigenverantwortlich zu erfüllen vermochte, bewirkte nicht ohne weiteres eine Herabsetzung seiner gesellschaftlichen Stellung. Dem stand vielmehr gegenüber, daß er das Privileg längerer Betriebszugehörigkeit und die Achtung wertvoller Spezialerfahrung genoß. Er war nicht schlechthin einer Hilfskraft ohne Vorbildung gleichgestellt. Aus vorstehenden Erwägungen erscheint der Sachverhalt noch nicht nach allen bedeutsamen Richtungen hin genügend aufgeklärt. Damit dies nachgeholt werden kann, ist das Berufungsurteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

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