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4 RJ 155/73

Aus den Gründen

In diesem Verfahren mußte der erkennende 4. Senat des BSG darüber entscheiden, ob das Ruhen der Witwenrente der Klägerin wegen Auslandsaufenthaltes zu Recht im Rentenbescheid für die Zeit von Juli 1965 bis Januar 1971 ausgesprochen worden war. Der Senat hat es bejaht.

Die Klägerin und ihr verstorbener Ehemann waren als Juden der nationalsozialistischen Verfolgung ausgesetzt. Nach ihrer Verhaftung (1942) in Königsberg kamen sie in das Konzentrationslager (KZ) in Theresienstadt, das im damaligen Protektorat Böhmen und Mähren lag. Hier blieben sie bis Juli 1945 und wanderten im Juni 1946 in die USA aus. Dort erwarben sie später die US-Staatsangehörigkeit.

Hierzu hatte das LSG ausgeführt, daß sich zugunsten der Klägerin keine Ausnahme von den in den §§ 1315 ff. RVO aufgeführten Ruhensregelungen ergebe, auch nicht aus § 1321 Abs. 5 RVO. Ihre Deportation in das KZ Theresienstadt bedeute nicht, daß sie das Deutsche Reich „verlassen“ habe; denn die Deportation sei gegen ihren Willen erfolgt. Der 4. Senat des BSG hat die Ansicht der Beklagten und des LSG bestätigt und im einzelnen ausgeführt, daß die Witwenrente für die streitige Zeit nach § 1315 Abs. 1 Ziff. 1 RVO, § 1317 RVO i.V.m. Art. IV Ziff. 2 des Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika v. 29.10.1954 - BGBI. 1956 II S. 487) ruhe. Das LSG habe zutreffend ausgeführt, daß sich aus den §§ 1318, 1319, 1321 RVO zugunsten der Klägerin keine Ausnahme ergebe.

Auch auf § 1321 Abs. 5 RVO könne sich die Klägerin nicht mit Erfolg berufen. Hiernach stünden früheren deutschen Staatsangehörigen im Sinne des Art. 116 Abs. 2 Satz 1 des GG solche Personen gleich, die zwischen dem 30.11.1933 und dem 8.5.1945 das Gebiet des Deutschen Reichs verlassen hätten, um sich einer von ihnen nicht zu vertretenen und durch die politischen Verhältnisse bedingten besonderen Zwangslage zu entziehen, oder aus den gleichen Gründen nicht in die vorbezeichneten Gebiete hätten zurückkehren können. Die Klägerin habe bis zum 8.5.1945 das Deutsche Reich nicht „verlassen“.

Ihre Deportation in das Konzentrationslager Theresienstadt werde durch diese Vorschrift nicht erfaßt. Es möge zweifelhaft sein, ob das Wort „verlassen“ schon von seinem Sprachgebrauch her stets nur ein aktives, freiwilliges Geschehen bezeichne, wie das LSG annimmt. Im Rahmen des § 1321 Abs. 5 RVO sei jedenfalls dieser Auslegung beizutreten.

Der Gesetzgeber habe sich nicht damit begnügt, die Rechtsfolgen dieser Vorschrift an eine bloße Ortsveränderung zu knüpfen. Diejenigen Personen, die durch die Regelung des § 1321 Abs. 5 RVO begünstigt werden sollten, müßten Deutschland aus dem dort bestimmten Grund und zur Erreichung des dort bezeichneten Zieles verlassen haben. Deshalb könne das Wort „verlassen“ im Sinnzusammenhang des § 1321 Abs. 5 RVO nur als ein die Ortsveränderung erstrebendes freiwilliges Verhalten verstanden werden. Abgesehen davon sei die Klägerin im Zusammenhang mit ihrer Deportation im Jahre 1942 nicht in das „Ausland“ gebracht worden.

Theresienstadt habe zum Protektorat Böhmen und Mähren gehört und habe damit nach der damaligen tatsächlichen Ordnung, auf die im vorliegenden Zusammenhang abzustellen sei (BSG Bd. 10, S. 118) nicht außerhalb des unmittelbaren Herrschaftsbereiches des Deutschen Reiches gelegen. Aus diesem Grunde sei auch die zweite Alternative des § 1321 Abs. 5 RVO zugunsten der Klägerin nicht anwendbar. Die Besetzung einzelner Protektoratsgebiete unmittelbar vor Kriegsende durch russische oder andere Truppen habe die im Protektorat bestehende tatsächliche Ordnung bis zum 8.5.1945 nicht aufzuheben vermocht. Auch die Auswanderung der Klägerin in die Vereinigten Staaten von Amerika erfülle die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des § 1321 Abs. 5 RVO nicht. Sie sei erst im Jahre 1946 erfolgt. Eine analoge Anwendung dieser Vorschrift auf Fallgestaltungen, in denen das Reichsgebiet erst nach dem 8.5.1945 verlassen wurde, sei nicht möglich. Die unterschiedliche Behandlung derjenigen Personen, die Deutschland vor dem 8.5.1945 verlassen hätten, gegenüber denjenigen, für die sich erst nach diesem Stichtag eine Möglichkeit dazu bot, sei vom Gesetzgeber beabsichtigt worden. Diese Regelung beruhe auf der Überlegung, daß in den von § 1321 Abs. 5 RVO gemeinten Fällen das Verlassen Deutschlands für die Betroffenen regelmäßig die einzige Möglichkeit gewesen sei, einer besonderen Zwangslage zu entgehen, während nach dem 8.5.1945, also nach der Einstellung nationalsozialistischer Verfolgungsmaßnahmen, das Verlassen Deutschlands auf dem freien Willen der Betroffenen, jedenfalls aber nicht mehr auf Verfolgungsmaßnahmen beruht habe (Jantz / Zweng / Eicher, Das neue Fremdrenten- und Auslandsrentenrecht, 2. Aufl. § 1321 RVO Anm. 17). Mittelbar ergebe sich auch aus § 18 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22.12.1970 (WGSVG - BGBI. I 1846), daß der Gesetzgeber die zeitliche Differenzierung, die mit der Regelung des § 1321 Abs. 5 RVO verbunden sei, bewußt habe vornehmen wollen. Mit dieser Vorschrift werde für bestimmte Personengruppen die in § 1321 Abs. 5 RVO gesetzte Frist (8.5.1945) bis zum 31.12.1949 verlängert. In der Begründung der Regierungsvorlage heiße es dazu, nach dem bisher geltenden Recht, also nach § 1321 Abs. 5 RVO, ruhe die Rente eines Verfolgten, der Deutschland erst nach Kriegsende verlassen habe, sei es, daß er vorher nicht habe auswandern können, sei es, daß er erst nach dem Zusammenbruch den Entschluß zur Auswanderung gefaßt habe. Dies führe zu Härten, zumal diese Verfolgten häufig weit Schlimmeres erduldet hätten als diejenigen, die rechtzeitig hätten auswandern können (BR-Drucks. 73/70 Begründung zu den §§ 5 und 6 des Reg.Entw.) Der Gesetzgeber habe sich jedoch nicht dazu entschließen können, die erkannten Härten vollständig zu beseitigen. Er habe der Neuregelung des § 18 WGSVG keine rückwirkende Kraft beigelegt, sondern als Zeitpunkt ihres Wirksamwerdens das Inkrafttreten des WGSVG bestimmt (Art. 4 § 2 Abs. 2 des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung der Vorschriften über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22.12.1970 - BGBI. I 1846). Für die zurückliegende Zeit sollte es also bei der Regelung des § 1321 Abs. 5 RVO bleiben.

Darüber, ob bei der Gewährung von Rentenzahlungen in das Ausland an die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung nicht großzügiger hätte verfahren werden sollen, sei nicht vom Senat zu entscheiden. Dies sei eine Frage gesetzgeberischen Ermessens, das nur bei willkürlicher Ausübung gerichtlicher Nachprüfung zugängig sei (BSG Urteil vom 15.3.1974 - 11 RA 9/73 - mit Nachweisen).

Willkürlich in diesem Sinne und damit eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes wäre die Regelung des § 1321 Abs. 5 RVO dann, wenn sich für sie ein vernünftiger, aus der Natur der Sache sich ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund nicht finden ließe. Die unterschiedliche Behandlung von Personengruppen, die unter dem Druck nationalsozialistischer Verfolgung Deutschland verlassen mußten, gegenüber denjenigen, die den gleichen Schritt erst nach der Einstellung dieser Verfolgungsmaßnahmen vollzogen hätten, könne aus den bereits genannten Gründen als eine sachgemäße Differenzierung gelten. Es dürfe nicht übersehen werden, daß nach 1945 - jedenfalls im heutigen Bereich der Bundesrepublik Deutschland - umfassende Wiedergutmachungsmaßnahmen eingeleitet worden seien, um den Opfern nationalsozialistischer Verfolgung den Aufbau einer neuen Existenz in Deutschland zu ermöglichen (BSG Bd. 28, S. 99).

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