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5 RKn 45/72

Gründe I.

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Bergmannsrente nach § 45 Abs. 1 Nr. 1 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit zusteht.

Der im Jahre … geborene Kläger hat die in einem knappschaftlichen Betrieb durchlaufene dreijährige Lehre als Betriebsschlosser im Jahre 1941 mit der Facharbeiterprüfung abgeschlossen, wurde aber unmittelbar danach zum Kriegsdienst einberufen, ohne als Facharbeiter tätig gewesen zu sein. Durch Verwundung verlor er den linken Oberarm. Nach dem Kriege verrichtete er im Gebiet der jetzigen DDR verschiedene Tätigkeiten in einem knappschaftlichen Betrieb, und zwar nacheinander die eines Materialausgebers, Büroboten, Kalkulators, TAN-Sachbearbeiters und Pumpenwärters. In der Bundesrepublik arbeitete er ausschließlich außerhalb des Bergbaus als Heizer, Magazinverwalter und Wachmann.

Die Beklagte lehnte den am 31. Oktober 1967 gestellten Rentenantrag des Klägers mit Bescheid vom 29. April 1969 ab; der Kläger sei nach den eingeholten medizinischen Gutachten noch in der Lage, als Kalkulator zu arbeiten. Daher sei er weder vermindert bergmännisch berufsfähig noch berufsunfähig oder erwerbsunfähig. Der Widerspruch des Klägers hatte keinen Erfolg.

Das Sozialgericht (SG) hat - nach Einholung weiterer medizinischer Gutachten - die Klage mit Urteil vom 13. September 1971 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG geändert und die Beklagte unter teilweiser Aufhebung der Bescheide vom 29. April 1969 und vom 8. Juni 1970 verurteilt, dem Kläger Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit ab Antragstellung (31. Oktober 1967) nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Im übrigen - der Kläger hat noch den Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit geltend gemacht - hat es dessen Berufung zurückgewiesen. Das LSG hat die Ansicht vertreten, es könne nicht von der erlernten Facharbeitertätigkeit, sondern nur von der Tätigkeit eines angelernten Handwerkers ausgegangen werden, weil der Kläger nach Erwerb des Facharbeiterbriefes nicht als Betriebsschlosser gearbeitet habe. Gleichwohl sei der Kläger vermindert bergmännisch berufsfähig. Von den im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertigen Tätigkeiten kämen allenfalls die Tätigkeiten eines Tafelführers, Magazinarbeiters, Markenausgebers, Telefonisten sowie Hilfsarbeiters im Büro für eine Verweisung in Betracht. Die Tätigkeit eines Tafelführers komme in der Art, wie sie der Kläger noch verrichten könne, so selten vor, daß sie ausschließlich nicht mehr voll arbeitsfähigen Arbeitern des jeweiligen Betriebes vorbehalten sei. Die Tätigkeit eines Magazinarbeiters könne der Kläger - abgesehen von Arbeiten im Formblatt- und Schreibwarenlager - wegen seiner Einarmigkeit nicht verrichten. Die Tätigkeit eines Telefonisten könne er nur dann ausüben, wenn der Arbeitsplatz der Einarmigkeit angepaßt werde. Im übrigen handele es sich um eine typische Invalidenarbeit, die fast nur Schwerbeschädigten zugänglich sei. Auf die Tätigkeiten eines Markenausgebers und Hilfsarbeiters im Büro könne der Kläger nicht verwiesen werden, weil sie keine der handwerklichen Ausbildung des Klägers auch nur annähernd gleichwertigen Kenntnisse und Wertigkeiten erforderten. Der Kläger sei jedoch nicht berufsunfähig im Sinne des § 46 Abs. 2 RKG, denn er könne noch die ihm sozial zumutbaren Tätigkeiten eines Markenausgebers und Hilfsarbeiters im Büro verrichten. Hinzu kämen vergleichbare Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auch als Wieger auf ebenerdigen Waagen, Werkstattschreiber, Prüfer oder Kontrolleur.

Die Beklagte hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist mit dem LSG der Ansicht, daß von der Tätigkeit eines angelernten Handwerkers auszugehen sei. Im Gegensatz zum LSG meint sie jedoch, der Kläger könne auf die Tätigkeiten eines Markenausgebers und Hilfsarbeiters in Büro verwiesen werden, denn insbesondere die geringe Lohndifferenz spreche dafür, daß es sich auch um Tätigkeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten handele.

Die Beklagte beantragt,

  • das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit es die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit zu gewähren, und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts D. vom 13. September 1971 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt hilfsweise,

  • den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

  • die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Beklagten sei unbegründet.

Gründe II.

Die zulässige Revision der Beklagten hat insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil - soweit es die Bergmannsrente betrifft - aufgehoben und der Rechtsstreit insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen wird. Die festgestellten Tatsachen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.

Das LSG ist mit Recht davon ausgegangen, daß „bisher verrichtete knappschaftliche Arbeit“ des Klägers im Sinne des § 45 Abs. 2 RKG („Hauptberuf“) nicht die Tätigkeit eines gelernten Betriebsschlossers ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) kann „Hauptberuf“ nur eine Tätigkeit sein, die der Versicherte tatsächlich ausgeübt hat (vgl. BSG 6, 38; 17, 31, 33 = SozR Nr. 20 zu § 35 RKG a.F.; SozR Nrn. 17 und 20 zu § 45 RKG; BSG 31, 103, 104 = SozR Nr. 33 zu § 45 RKG); aus versicherungsrechtlichen Gründen kann nur von einer Tätigkeit ausgegangen werden, die Grundlage des Versicherungsverhältnisses war, während welcher also Versicherungsbeiträge entrichtet worden sind (vgl. BSG 6, 38; SozR Nr. 17 zu § 45 RKG). Deshalb kann die vom Kläger nach Ablegung der Facharbeiterprüfung niemals ausgeübte Tätigkeit eines gelernten Betriebsschlossers nicht Ausgangspunkt für die Prüfung der verminderten bergmännischen Berufsfähigkeit sein (vgl. hierzu SozR Nr. 20 zu § 45 RKG). Aber auch die Tätigkeit eines Betriebsschlosserlehrlings ist - wie das LSG zutreffend angenommen hat - nicht der „Hauptberuf“ des Klägers. Zwar hat der Kläger vor seiner Verwundung nur diese Tätigkeit tatsächlich ausgeübt. Die Tätigkeit eines Lehrlings ist aber keine echte Berufstätigkeit, sondern ihrem Wesen nach eine vorübergehende berufliche Station, die erst im Wege der Ausbildung zu einer echten Berufstätigkeit führen soll. Die Lehrlingsvergütung ist kein Entgelt für geleistete Arbeit, sondern eine Erziehungsbeihilfe (vgl. Komm. zum BGB herausgegeben von Reichsgerichtsräten und Bundesrichtern, 11. Auflage 1959, Anm. 34 vor § 611), so daß sie nicht Grundlage der nach § 45 Abs. 2 RKG anzustellenden Prüfung der wirtschaftlichen Gleichwertigkeit sein kann. Hinzu kommt, daß die Kenntnisse und Fertigkeiten der Lehrlinge nicht einheitlich sind, sondern sich nach dem jeweiligen Ausbildungsstand erheblich unterscheiden. Bei dem nach § 45 Abs. 2 RKG anzustellenden Qualitätsvergleich der Kenntnisse und Fertigkeiten kann daher nicht einheitlich von der Tätigkeit eines Lehrlings ausgegangen werden. Vielmehr ist von der echten Berufstätigkeit auszugehen, die der Tätigkeit des Lehrlings - je nach dem jeweiligen Ausbildungsstand - qualitativ am nächsten steht; denn das ist die Berufstätigkeit, die der Lehrling nach seinen Kenntnissen und Fertigkeiten ausüben könnte. Den Kenntnissen und Fertigkeiten eines Lehrlings mit abgeschlossener oder zumindest fortgeschrittener Lehre entspricht nach Auffassung des Senats die Berufstätigkeit eines angelernten Handwerkers (vgl. hierzu BSG in SozR Nr. 14 zu § 1254 RVO a.F.), von der deshalb im vorliegenden Fall auszugehen ist.

Dem LSG kann zwar auch darin gefolgt werden, daß der Kläger nicht auf die allereinfachsten knappschaftlichen Arbeiten verwiesen werden kann, auch wenn diese im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig sind. Dazu gehört aber nicht die vom LSG in Erwägung gezogene Tätigkeit eines Telefonisten. Sie scheidet für eine Verweisung auch nicht etwa deshalb aus, weil der Arbeitsplatz der Einarmigkeit des Klägers angepaßt werden müßte. Zwar kann ein Versicherter nicht auf eine Tätigkeit verwiesen werden, die er deshalb nicht vollwertig ausüben kann, weil er zu ihrer Verrichtung einer nicht üblichen persönlichen oder sachlichen Hilfe bedarf. Da aber - wie das LSG selbst hervorhebt - gerade die Tätigkeit eines Telefonisten häufig von Schwerbeschädigten und auch von Einarmigen ausgeübt wird, liegt die Annahme sehr nahe, daß die Anpassung des Arbeitsplatzes an die Einarmigkeit mit geringfügigen und üblichen Mitteln geschehen kann. Auch der Umstand, daß die Tätigkeit eines Telefonisten im allgemeinen Schwerbeschädigten vorbehalten ist, schließt die Verweisung des Klägers auf diese Tätigkeit nicht aus, zumal der Kläger als Oberarmamputierter Schwerbeschädigter ist (vgl. BSG in SozR Nr. 5 zu § 1246 RVO).

Ob es sich bei der Tätigkeit eines Telefonisten im Verhältnis zum angelernten Handwerker um eine Tätigkeit von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten handelt, läßt sich nach den Tatsachenfeststellungen des LSG nicht abschließend beurteilen. Der erkennende Senat hat in einer großen Anzahl von Entscheidungen zu der Frage Stellung genommen, welche Bedeutung das Tatbestandsmerkmal „Tätigkeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten“ im Sinne des § 45 Abs. 2 RKG hat (vgl. insbes. SozR Nr. 40 zu § 45 RKG und die dort zitierten Entscheidungen sowie SozR Nr. 42 zu § 45 RKG). Er ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, daß bei den in wesentlichen wirtschaftlich gleichwertigen Tätigkeiten im allgemeinen angenommen werden könne, daß es sich um Tätigkeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten handelt, es sei denn, daß Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß andere Umstände - z.B. Schwere, Schmutz, Nässe, Lärm- oder Geruchsbelästigung, Nachtarbeit, charakterliche Eigenschaften wie Zuverlässigkeit oder Verantwortungsbewußtsein oder Mangel an Arbeitskräften - für die Einstufung maßgeblich waren. Im vorliegenden Fall kann nicht schon allein aus dem Umstand, daß es sich um eine im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Tätigkeit handelt, darauf geschlossen werden, daß sie auch im übrigen die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 RKG erfüllt. Obwohl für den angelernten Handwerker stets alle knappschaftlichen Arbeiten im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig waren, müssen schon auf den ersten Blick die allereinfachsten ungelernten Arbeiten für eine Verweisung ausscheiden, denn der angelernte Handwerker hat immerhin nicht unerhebliche Kenntnisse und Fertigkeiten. Die Fähigkeit zur Verrichtung allereinfachster - wenn auch im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertiger - Tätigkeiten würde nicht einmal die Berufsunfähigkeit nach § 46 Abs. 2 RKG ausschließen (vgl. SozR Nrn. 16 und 17 zu § 46 RKG) und deshalb erst recht nicht zur Verneinung der verminderten, bergmännischen Berufsfähigkeit führen. Kann also im vorliegenden Fall aus der wesentlichen wirtschaftlichen Gleichwertigkeit einer Arbeit allein noch nicht darauf geschlossen werden, daß es sich auch um Tätigkeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten handelt, so besteht Anlaß, die einzelnen Verweisungstätigkeiten in ihrer Qualität mit der bisher verrichteten knappschaftlichen Arbeit zu vergleichen. Diese Bewertung ist nur dann möglich, wenn feststeht, welche Kenntnisse und Fertigkeiten für die einzelnen Tätigkeiten erforderlich sind, insbesondere welchen Wert sie haben, wie und in welcher Zeit sie erworben werden können. Der Senat hat aus den gleichen Gründen zur Frage der Verweisbarkeit eines Grubenlokomotivführers auf die Tätigkeit eines Telefonisten den Rechtsstreit zur Feststellung der erforderlichen Tatsachen an das LSG zurückverwiesen (vgl. SozR Nr. 42 zu § 45 RKG).

Das Gleiche gilt für die vom LSG in Betracht gezogenen Verweisungstätigkeiten eines Hilfsarbeiters im Büro, Markenausgebers, Tafelführers und Magazinarbeiters, soweit der Kläger sie gesundheitlich noch verrichten kann. Diese Tätigkeiten können jedenfalls dann nicht wegen der geringen Zahl der vorhandenen Stellen ausgeschieden werden, wenn sich im Zusammenhang mit anderen - in nicht geringer Zahl vorhandenen - Verweisungstätigkeiten ein ausreichendes Verweisungsfeld ergibt.

Sollte sich bei der erneuten Prüfung ergeben, daß die in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten nicht nur ganz geringfügige Kenntnisse und Fertigkeiten verlangen, so wird zu berücksichtigen sein, daß die erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten durch andere Merkmale wie erforderliches Verantwortungsbewußtsein und Zuverlässigkeit des Versicherten usw. erhöht werden können (vgl. SozR Nr. 42 zu § 45 RKG). Der Senat hat zwar in verschiedenen Entscheidungen betont, daß persönliche Eigenschaften wie Zuverlässigkeit, Verantwortungsbewußtsein usw. im Rahmen des § 45 RKG - anders als bei § 46 RKG - die Verweisung auf eine Tätigkeit nicht rechtfertigen können, die keinerlei Kenntnisse und Wertigkeiten voraussetzt. Wenn jedoch nicht unerhebliche Kenntnisse und Fertigkeiten bei der Verweisungstätigkeit erforderlich sind, so kann doch die Qualität der durch sie bestimmten Arbeit durch die zusätzlich erforderlichen Anforderungen an die Zuverlässigkeit, das Verantwortungsbewußtsein usw. verstärkt werden.

Da der Senat die fehlenden Feststellungen nicht selbst treffen kann, hat er das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur Nachholung der erforderlichen Feststellungen an das LSG zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

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