12 RJ 376/72
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin eine Versichertenrente unter zusätzlicher Berücksichtigung einer Beschäftigungszeit im Sinne des § 16 des Fremdrentengesetzes (FRG) zu gewähren ist.
Die im Jahre 1903 geborene Klägerin ist anerkannte Vertriebene im Sinne von § 1 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG). Durch die Bescheide des Oberfinanzpräsidenten W, Sachgebiet für Pensionen, vom 6. Juni 1941 und 11. Dezember 1943 erhielt sie für ihre vom 19. Mai 1921 bis 30. September 1938 verrichtete Tätigkeit als Tabakarbeiterin bei der damaligen tschechoslowakischen Tabakregie eine "Abfertigung" von insgesamt 2.795,31 RM.
Die Beklagte bewilligte der Klägerin die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. Dezember 1968 an. In einem Zusatz zum Rentenbescheid vom 3. Juni 1969 wurde festgestellt, daß die für den Anspruch auf Altersruhegeld erforderliche Wartezeit von 180 Kalendermonaten Versicherungszeit nicht erfüllt sei. Die von der Klägerin angegebene Beschäftigung als Arbeiterin bei der Staatlichen Tabakindustrie in St. J könne im Hinblick auf § 18 Abs. 3 FRG nicht als Versicherungszeit berücksichtigt werden, weil die Klägerin für die Zeit von 1921 bis März 1939 anstelle der Altersversorgung eine Abfindung nach dem tschechoslowakischen Pensionsnormale erhalten habe. Die Abfindung von Pensionsansprüchen sei der (im Vorgriff) gewährten Versorgung gleichzustellen.
Im März 1970 beantragte die Klägerin die Neufeststellung der Rente nach § 1300 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unter Einbeziehung der Beschäftigungszeit von 1921 bis März 1939. Diesen Antrag lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 18. März 1970, Widerspruchsbescheid vom 8. Oktober 1971).
Im Klageverfahren bezog das Sozialgericht (SG) den Rentenbescheid vom 3. Juni 1969, welcher der Klägerin nicht förmlich zugestellt worden war, uneingeschränkt in seine sachliche Prüfung mit ein. Es verpflichtete die Beklagte, der Klägerin - in Änderung des Rentenbescheides vom 3. Juni 1969 - die Rente unter Anrechnung einer Beschäftigungszeit vom 19. Mai 1921 bis 30. September 1938 in Leistungsgruppe 1 der Anlage 1, Buchstabe A zu § 22 FRG zu gewähren (Urteil vom 22. März 1972). Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) die Entscheidung des SG auf und wies die Klage ab: Zwar erfülle die Klägerin grundsätzlich die Voraussetzungen zur Anwendung des FRG. Gleichwohl könne die genannte Zeit nicht nach § 16 FRG als Beschäftigungszeit berücksichtigt werden, weil dies durch § 18 Abs. 3 FRG ausgeschlossen sei. Dieser Ausschluß ergebe sich aus der von der Klägerin erhaltenen Abfindung, die als eine Versorgung nach einer dem Bundesbeamtengesetz entsprechenden Vorschrift im Sinne der gemäß § 18 Abs. 4 FRG erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschrift - VV - vom 29. August 1966 anzusehen sei (Urteil vom 24. August 1972).
Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des materiellen Rechts durch das LSG.
Die Klägerin beantragt,
- das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 24. August 1972 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 21. März 1972 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
- die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision ist sachlich begründet.
Das LSG ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, daß die Prüfung des Begehrens der Klägerin nicht den einschränkenden Voraussetzungen des § 1300 RVO unterliegt. Der Rentenbescheid vom 3. Juni 1969 ist nach den Feststellungen des LSG der Klägerin nicht zugestellt worden. Da der Bescheid gemäß § 1631 RVO zuzustellen war (vgl. BSG in SozR Nr. 6 zu § 87 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) und die Zustellung sich nach den Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) richtete (§ 1 Abs. 2 VwZG in Verbindung mit §§ 1 Abs. 1, 2 und 3 Hess. VwZG vom 14.2.1957 - GVBl S. 9), ist bezüglich des der Klägerin unter Verletzung der Zustellungsvorschriften der §§ 2 bis 5 VwZG zugegangenen Bescheides vom 3. Juni 1969 keine Klagefrist in Lauf gesetzt worden (§ 9 Abs. 2 VwZG). Das LSG hat daher ohne Rechtsfehler entschieden, daß der Bescheid vom 3. Juni 1969 mit der im anhängigen Verfahren erhobenen Klage noch angefochten werden konnte.
Der Auffassung des LSG, bei der der Klägerin zustehenden Versichertenrente scheide eine Berücksichtigung der Beschäftigungszeit vom Mai 1921 bis September 1938 nach § 16 FRG im Hinblick auf die Ausnahmevorschrift des § 18 Abs. 3 Satz 1 FRG aus, kann indes nicht gefolgt werden. Das LSG hat seine Entscheidung ausschließlich damit begründet, daß die der Klägerin im Jahre 1941 vom Oberfinanzpräsidenten in Wien gewährte "Abfertigung" als Versorgung nach beamtenrechtlichen Vorschriften, und zwar als Abfindung im Sinne der Nr. 6 Abs. 2 Buchst. g der nach § 18 Abs. 4 FRG erlassenen Allgemeinen VV vom 29. August 1966 (BAnz Nr. 170, S. 1) anzusehen sei. Dabei wird außer acht gelassen, daß § 18 Abs. 3 Satz 1 FRG die Anwendung des § 16 - u.a. - lediglich für eine Zeit ausschließt, die im Geltungsbereich dieses Gesetzes bei der Gewährung einer Versorgung nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen als ruhegehaltsfähig berücksichtigt ist oder bei Eintritt des Versorgungsfalles als ruhegehaltsfähig berücksichtigt wird. Die gesetzliche Einschränkung "im Geltungsbereich dieses Gesetzes" bedeutet, daß die Ausnahmevorschrift (Nichtanwendung des § 16 FRG) nur dann eingreift, wenn am 1. Januar 1959 (Inkrafttreten des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes - FANG -) oder im Zeitpunkt einer erstmaligen Bescheiderteilung über Regelleistungen der Rentenversicherung (§ 1235 RVO) oder einer Entscheidung über das Recht der freiwilligen Weiterversicherung (§ 1233 RVO) nach dem 31. Dezember 1958 die Ausschlußtatbestände vorliegen, das heißt eine Anwartschaft oder ein Anspruch auf eine Versorgung nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen besteht (so allgemeine Meinung: vergleiche Merkle/Michel, FANG, Anm. 5 zu § 18 FRG, S. 311 3; Lackermeier in SozVers 1964, 15; Marten in SozVers 1972, 90, 91; ebenso Nr. 1 Abs. 2 VV). Damit im Einklang bestimmt Nr. 6 Abs. 1 VV, daß es sich bei den in Abs. 2 im einzelnen aufgeführten Versorgungsbezügen um eine Versorgung handeln muß, die in Anwendung eines im Geltungsbereich des FRG geltenden Beamtenrechts zu gewähren ist oder auf Grund einer Soll- oder Kannvorschrift in diesem Recht auf Lebenszeit oder auf die Dauer des gesetzlichen Waisengeldes bewilligt wird. Diese Voraussetzung für die Anwendung des § 18 Abs. 3 Satz 1 FRG ist indes bezüglich der Abfindung, welche der Klägerin bereits im Jahre 1941 nach den damals geltenden Rechtsvorschriften gewährt wurde, nicht erfüllt (ebenso ausdrücklich und unter Berufung auf den Wortlaut der Vorschrift: RVO-Gesamtkommentar, Anm. 7 zu § 18 FRG, S. 121). Die Klägerin hat in der Bundesrepublik keinen Anspruch auf Versorgung nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen erlangt, bei dem eine Anrechnung der "Abfertigung" hätte in Frage kommen können.
Die vom Schrifttum und von der VV aus dem einschränkenden gesetzlichen Wortlaut "... im Geltungsbereich dieses Gesetzes ..." hergeleitete Auslegung des § 18 Abs. 3 Satz 1 FRG wird auch durch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift bestätigt. Im Regierungsentwurf des FANG (BT-Drucks. 1109/3. Wahlperiode) hatte § 18 Abs. 3 Satz 1 FRG folgenden Wortlaut:
"§§ 15 und 16 finden keine Anwendung auf eine Zeit, die im Bundesgebiet oder im Land Berlin einer Versorgung nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen zugrundegelegt ist oder bei Eintritt des Versorgungsfalles zugrundegelegt wird oder für die die Nachversicherung als durchgeführt gilt."
Durch den Ausschuß für Sozialpolitik des Deutschen Bundestages wurden sodann die Worte "... Bundesgebiet oder im Land Berlin ..." durch die Fassung "... Geltungsbereich dieses Gesetzes ..." ersetzt (BT-Drucks. 1532/3. Wahlperiode). Im Schriftlichen Bericht des Ausschusses (zu Drucks. 1532) wurde für diese Änderung keine Begründung angegeben. Es dürfte sich daher lediglich um eine redaktionelle Änderung handeln, welche die inhaltliche Bedeutung der ursprünglichen Fassung unberührt gelassen hat. So hält zB Eicher auch die Neufassung des § 18 Abs. 3 Satz 1 FRG durch Art. 1 § 4 des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes - RVÄndG - vom 9. Juni 1965 (BGBl I 476) nur dann für anwendbar, wenn Beschäftigungszeiten mit Zeiten zusammentreffen, die im Bundesgebiet bei der Gewährung einer Versorgung nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen als ruhegehaltsfähig berücksichtigt sind oder bei Eintritt des Versorgungsfalles berücksichtigt werden (vgl. Eicher in BABl 1965, 606, 611). Danach will die Vorschrift lediglich eine gleichzeitige oder künftige Anrechnung von Beschäftigungszeiten nach versicherungsrechtlichen und versorgungsrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen vermeiden. Dies ergibt sich - jedenfalls mittelbar - auch aus der Begründung des Regierungsentwurfs des FANG zu § 18 FRG (BT-Drucks. 1109/3. Wahlperiode, S. 42). Dort heißt es am Schluß:
"Voraussetzung für den Ausschluß der Anwendung der §§ 15 und 16 ist nicht, daß mit dem Ergebnis, durch das der Anspruch auf Rente aus der Rentenversicherung begründet wird, zugleich ein Anspruch auf Versorgung für diese Zeiten entsteht. Es genügt, wenn bei später eintretender Dienstunfähigkeit oder einem anderen die Versorgungsleistung auslösenden Grund ein Anspruch erwächst."
Auch in der Begründung wird also ein bereits im Herkunftsland und damit vor Inkrafttreten des FANG abgeschlossener Versorgungsfall nicht in den Geltungsbereich des § 18 Abs. 3 Satz 1 FRG einbezogen. Die Vorschrift hindert demnach nicht die Anrechnung von Beschäftigungszeiten, welche Personen zurückgelegt haben, die - wie hier die Klägerin - bereits vor dem 9. Mai 1945 aus dem öffentlichen Dienst ausgeschieden sind (so ausdrücklich Jantz/Zweng/Eicher, Das neue Fremdrenten- und Auslandsrentenrecht, 2. Aufl., Anm. 7 zu § 18 FRG, S. 63; vergleiche auch Hoernigk/Jahn/Wickenhagen, Fremdrentengesetz, Kommentar, Anm. 5 und 8 zu § 18 Abs. 3 FRG, S. 195). Die der Klägerin im Herkunftsland bereits im Jahre 1941 und somit nicht nach geltendem Bundes- oder Landesrecht gewährte versorgungsrechtliche Abfindung ist nach alledem nicht geeignet, die Berücksichtigung der zusätzlich geltend gemachten Versicherungszeit nach § 16 FRG auszuschließen.
Ein anderes Ergebnis ist - entgegen der Annahme der Beklagten in der Revisionserwiderung - auch nicht unter Beachtung des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. April 1972 - 1 RA 11/71 (BSG 34, 153) gerechtfertigt. Nach dieser nicht zu § 18 Abs. 3 Satz 1 FRG, sondern zu § 17 Abs. 2 FRG ergangenen Entscheidung werden die vor dem 9. Mai 1945 aus dem deutschen öffentlichen Dienst ausgeschiedenen Personen zwar grundsätzlich von der fiktiven Nachversicherung des Art. 6 § 18 FANG erfaßt. Es kann offen bleiben, ob im Hinblick auf den Erlaß des Reichsarbeitsministers und des Reichsministers der Finanzen vom 6. September 1939 (AN 1939, 449) auch im Falle der Klägerin ein Ausscheiden aus dem deutschen öffentlichen Dienst im Sinne des Art. 6 § 18 FANG bejaht werden kann. Jedenfalls gilt für den hier streitigen Zeitraum von Mai 1921 bis September 1938 insoweit auch nach dieser Vorschrift in Verbindung mit der letzten Alternative des § 18 Abs. 3 Satz 1 FRG die Nachversicherung nicht als durchgeführt, weil bei einer solchen diejenigen Zeiten nicht zu berücksichtigen sind, für die anstelle einer Versorgung - wie hier - eine Abfindung gewährt worden ist (vgl. Nr. 7 Abs. 2 Buchst. d der allgemeinen Verwaltungsvorschriften zur Durchführung der sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 des Grundgesetzes fallenden Personen vom 20. Februar 1968 - Beilage zum BAnz Nr. 42 -, welche über Art. 6 § 18 Abs. 4 FANG entsprechend anzuwenden sind; so übereinstimmend Merkle/Michel aaO Anm. 9, S. 957 und Jantz/Zweng/Eicher aaO Anm. 14, S. 256, jeweils zu Art. 6 § 18 FANG).
Da im übrigen das LSG ohne Rechtsfehler davon ausgegangen ist, daß die Klägerin grundsätzlich die Voraussetzungen zur Anwendung des Fremdrentengesetzes erfüllt, und - wie dargelegt - die Ausnahmevorschrift des § 18 Abs. 3 Satz 1 FRG hier nicht eingreift, hat das SG zutreffend die Voraussetzungen für eine zusätzliche Anrechnung der Beschäftigungszeit vom 19. Mai 1921 bis 30. September 1938 gemäß § 16 FRG auf die Versichertenrente der Klägerin bejaht. Die zum gegenteiligen Ergebnis kommende Entscheidung des LSG kann daher keinen Bestand haben. Unter Berücksichtigung der von der Klägerin vor dem SG gemachten und von der Beklagten nicht bestrittenen Angaben über die Art der Tätigkeit im streitigen Zeitraum bestehen auch hinsichtlich der vom SG vorgenommenen Einstufung der Beschäftigung in die Leistungsgruppe 1 der Anlage 1, Buchst. A zu § 22 FRG keine Bedenken.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.