4 RJ 131/72
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 8. Februar 1972 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Klägerin verlangt als geschiedene Frau des Versicherten die Hinterbliebenenrente nach § 1265 der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Die Ehe war 1953 wegen Verschuldens des Mannes geschieden worden. Schon vorher - 1951 - war der Ehemann verurteilt worden, an die Klägerin und jeden der drei aus der Ehe stammenden Söhne Unterhalt von monatlich je 50,- DM zu zahlen. Am 5. Juni 1967 starb der Versicherte. Seit 1965 hatte er kein Arbeitseinkommen mehr. Er war krank und erwerbsunfähig; zuletzt bezog er Sozialhilfe. Unterhalt zahlte er im letzten Jahr vor seinem Tode weder für die Klägerin noch für die Kinder. Die Klägerin selbst hatte noch während der Ehe eine Lohnarbeit aufgenommen.
Der Versicherungsträger hat die Rentenforderung der Klägerin abgelehnt, weil sie ihren Unterhalt aus eigenem Arbeitsverdienst habe bestreiten können und weil deshalb eine Voraussetzung für den geltend gemachten Rentenanspruch entfalle (Bescheid vom 5. September 1968).
Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben; das Landessozialgericht (LSG) hat sie abgewiesen. Für die Unterhaltsverhältnisse, nach denen sich die Rentenberechtigung richte, hat das Berufungsgericht es auf die Zeitspanne von Januar bis Juni 1967 abgestellt. Damals ging die Klägerin einer Ganztagsarbeit nach. Auch ihre beiden älteren Söhne waren bereits im erlernten Beruf beschäftigt. Der jüngste, 16 Jahre alte Sohn stand im zweiten Lehrjahr. Er erhielt eine monatliche Erziehungsbeihilfe von 65,- DM. Die Unterhaltungsbedürftigkeit der Klägerin verneinte das LSG aus der Erwägung heraus, daß ihr "angemessener Unterhalt" durch die Erträgnisse ihrer Erwerbstätigkeit sichergestellt gewesen sei. Den Betrag des angemessenen Unterhalts bezifferte das Berufungsgericht mit monatlich 240,- DM. Dabei ging es von dem Gesamt-Nettoeinkommen beider Ehegatten zur Zeit der Scheidung aus, setzte hiervon den Bedarf der Kinder ab und sprach der Klägerin von dem Resultat einen Anteil von drei Siebentel zu. Diesen Anteil erhöhte es mit Rücksicht auf die von 1953 bis 1967 gestiegenen Lebenshaltungskosten. Dem Betrag von 240,- standen nach den Feststellungen des Berufungsgerichts Einkünfte der Klägerin von 440,- DM gegenüber. Von diesen hätten - so das LSG - für die Klägerin, wenn man für das jüngste Kind noch 100,- DM monatlich abzöge, 340,- DM zur Verfügung gestanden. Es sei auch nicht unbillig, die Klägerin auf ihren Arbeitsverdienst als Unterhaltsquelle zu verweisen. Sie habe vor und während ihrer Ehe sowie nachher eine Lohnarbeit ausgeübt; beim Tode des Versicherten sei sie 46 Jahre alt gewesen, ihre Kinder hätten nicht mehr der Schulpflicht unterlegen und hätten zur Mitarbeit im Haushalt beitragen können.
Die Klägerin hat Revision eingelegt. Sie beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen, hilfsweise: das erstinstanzliche Urteil wieder herzustellen. Sie meint, der für die Beurteilung der maßgeblichen Unterhaltsverhältnisse in Betracht zu ziehende Zeitraum könne nicht auf ein halbes Jahr begrenzt, sondern müsse mindestens auf ein Jahr vor dem Tode des Versicherten ausgedehnt werden. In dieser Zeit habe sie aber zeitweilig zwei heranwachsende Söhne betreuen und erziehen müssen. Diese Aufgabe sei allein schon als solche gleichwertig mit dem für die Versorgung der Kinder erforderlichen finanziellen Aufwand. Die Betreuung der Kinder hätte sie voll ausgelastet. Deshalb habe von ihr daneben nicht auch noch eine Erwerbsarbeit und schon gar nicht eine solche während des vollen Arbeitstages erwartet werden können. Gehe man aber von der Zumutbarkeit einer Halbtagsbeschäftigung aus, dann hätte sie mit Einkünften von 220,- DM monatlich rechnen müssen. Ziehe man hiervon noch die für den jüngsten Sohn benötigten 100,- DM ab, seien für sie nur noch 120,- DM monatlich verblieben. Der gleiche Monatsbetrag habe an dem Satz des angemessenen Unterhalts gefehlt.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist unbegründet.
Für den von der Klägerin erhobenen Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO ist wichtig, ob ihre wirtschaftliche Lage es gerechtfertigt hätte, von ihrem geschiedenen Manne "zur Zeit seines Todes" Unterhaltsleistungen zu verlangen. Die Fähigkeit des Mannes zu entsprechenden Zuwendungen an die Klägerin ist zu unterstellen. Dies folgt aus § 1265 Satz 2 RVO in der bis zum 31. Dezember 1972 geltenden Fassung (Art. 2 § 19 Abs. 1 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG - iVm Art. 2 § 1 Nr. 5 des Rentenreformgesetzes - RRG - vom 16. Oktober 1972, BGBl I, 1965). Dafür ist einmal erheblich, daß der Ehemann der Klägerin nicht wieder verheiratet war, und zum anderen bedeutsam, daß er vor dem 1. Januar 1973 gestorben, der Versicherungsfall also vor diesem Stichtag eingetreten ist.
Für die Unterhaltsberechtigung der Klägerin hat es das LSG zutreffend auf die Verhältnisse während des letzten halben Jahres vor dem Tode des Versicherten abgehoben. Der maßgebliche Zeitabschnitt beginnt mit der letzten wesentlichen Änderung der Vermögens- und Einkommenssituation vor dem Tode des Versicherten. Davon ist jedenfalls dann auszugehen, wenn dieser Zustand - wie hier - nicht unbeträchtlich lange angedauert hat und die Annahme erlaubt, daß er, wenn der Versicherte nicht gestorben wäre, fortbestanden hätte (BSG SozR Nr. 67 zu § 1265 RVO).
In der danach maßgeblichen Zeit hätte einer Unterhaltsforderung der Klägerin gegen ihren geschiedenen Mann entgegengestanden, daß die Erträgnisse ihrer Erwerbstätigkeit zu ihrem angemessenen Lebensbedarf ausreichten (§ 58 Abs. 1 des Ehegesetzes - EheG -). Das Einkommen der Klägerin wäre allerdings nicht in Rechnung zu stellen, wenn von ihr eine Lohnarbeit billigerweise nicht hätte erwartet werden können. Die Vorteile besonderer Anstrengungen durch Erfüllung doppelter Aufgaben - als Hausfrau und Mutter einerseits und im Beruf andererseits - dienen allein dem eigenen Nutzen der Frau. Die Unterhaltspflicht des Mannes muß dadurch nicht geschmälert sein (BSG 26, 293, 298; SozR Nr. 52 zu § 1265 RVO; Gernhuber, Lehrbuch des Familienrechts, 2. Aufl., 1971, 306). Die Berücksichtigung einer Sachlage dieser Art ist auch nicht einfach deshalb ausgeschlossen, weil die Klägerin die Erwerbstätigkeit noch während der Ehe mit dem Versicherten aufgenommen und diese möglicherweise nicht als eine ungebührliche Belastung empfunden hatte (in dieser Beziehung strengere Anforderungen stellend: BSG SozR Nr. 45 zu § 1265 RVO). Indessen fallen diese Erwägungen im gegenwärtigen Streitfalle nicht ins Gewicht.
Die Klägerin war in der in Betracht kommenden Zeit durch ihre Pflichten als Mutter und Hausfrau nicht in einer solchen Weise beansprucht, daß die Übernahme einer entgeltlichen Beschäftigung als unangemessen erscheinen mußte. Ob und wann dies der Fall ist, läßt sich nicht ein für allemal vorher bestimmen. Immerhin gibt das positive Recht einige richtungsanzeigende Hinweise. Als ein solcher Fingerzeig kann die Vorschrift des § 1268 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 RVO verstanden werden, wonach eine Witwen- oder Witwerrente zu erhöhen ist, solange der oder die Berechtigte ein waisenrentenberechtigtes - also normalerweise noch nicht 18 Jahres altes - Kind erzieht. Beachtenswert sind ferner die Vorschriften über die Teilzeitbeschäftigung und Beurlaubung von Beamtinnen, die mit mindestens einem Kind unter 16 Jahren in häuslicher Gemeinschaft leben (§ 48 a Beamtenrechtsrahmengesetz). Diesen Rechtsnormen ist die Vorstellung zu entnehmen, daß eine Mutter von außerhäuslichen Obliegenheiten mehr oder weniger freigestellt sein soll, sofern sie sich der persönlichen Pflege und Leitung eines Kindes im vorschul- oder schulpflichtigen Alter widmet. Wenn keine einzelfallbedingten Umstände vorliegen, wird das 16. Lebensjahr des Kindes bei Berücksichtigung eines 9. Schuljahres und einer denkbaren Verzögerung bei der Einschulung als obere Grenze angesehen (Entwurf eines Gesetzes über Teilzeitbeschäftigung und Beurlaubung von Beamtinnen und Richterinnen, BT-Drucks. V/3087, Begründung S. 5). Jenseits dieser Grenze wird der Jugendliche normalerweise für seine Pflege weitgehend selbst sorgen können. Freilich wird die Mutter, solange das herangewachsene Kind noch nicht völlig die Selbständigkeit erlangt und sich noch nicht aus dem häuslichen Verband gelöst hat, Erziehungsaufgaben wahrzunehmen haben. Diese sind aber im allgemeinen kein Hindernis für eine volle Erwerbsarbeit oder wenigstens eine Teilzeitbeschäftigung.
Im konkreten Falle sind Anhaltspunkte für eine abweichende Beurteilung nicht festgestellt und auch nicht ersichtlich. Selbst wenn der Klägerin in den fraglichen Monaten nur eine Halbtagstätigkeit anzusinnen war, so hätte sie damit - nach der unangefochtenen Darstellung des LSG - Monatseinkünfte von 220,- DM erzielt. Dieser Verdienst wäre dem Betrag eines angemessenen Unterhalts von 240,- DM gegenüberzustellen. Sie hätte also von ihrem geschiedenen Ehemann einen Ausgleich von lediglich 20,- DM im Monat verlangen können. Ein Anspruch dieses Umfangs ist jedoch zu gering, um das Recht auf Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO auszulösen (BSG 22,44).
Der Unterhaltsbedarf der Klägerin erhöhte sich nicht deshalb, weil auch ihr Sohn noch auf finanzielle Unterstützung angewiesen war. Zwar hatte die Klägerin alle verfügbaren Mittel für ihren und ihres Kindes Bedarf gleichmäßig zu verwenden (§ 1603 Abs. 2 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -). Das Kind hatte aber gegen den Vater eine eigene Unterhaltsforderung, wohingegen sich der Anspruch der Klägerin allein nach ihren persönlichen Bedürfnissen bemaß (vgl. Staudinger/Gotthardt, Kommentar zum BGB, Bd. IV Teil 3 a, 10./11. Aufl. 1966, § 1603 Rdnr. 35 b).
Hiernach erweist sich das Berufungsurteil als richtig. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.