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4/5 RJ 77/70

Gründe

Die Klägerin beantragte im Januar 1967 die Gewährung der Witwenrente aus der Arbeiterrentenversicherung ihres verstorbenen Ehemanns. Die Beklagte bewilligte diese Rente für eine Bezugszeit vom 1. Januar 1963 an. Sie lehnte es jedoch ab, die Leistung für einen früheren Zeitabschnitt zu erbringen. Insoweit hielt sie den Anspruch für verwirkt und verjährt (Bescheide vom 1. Juni 1967 und 26. Januar 1969; Widerspruchsbescheid vom 15. Juli 1969).

Das Sozialgericht (SG) ging von einer Verwirkung der bis Ende 1962 angefallenen Renteneinzelforderungen aus (Urteil des SG Düsseldorf vom 13. September 1967). Das Landessozialgericht (LSG) hat die erstinstanzliche Entscheidung abgeändert und die Beklagte zur Erteilung eines neuen Bescheids verurteilt (Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 26. November 1969). Nach Ansicht des Berufungsgerichts ist die Forderung auf den streitigen Rentenrückstand nicht verwirkt. Die Klägerin habe aus Rechtsunkenntnis den Rentenantrag nicht eher gestellt. Ihr Untätigbleiben und der Zeitablauf allein hätten nicht die Folge der Verwirkung. Die Ansprüche, die sich bei der Antragstellung auf eine länger als vier Jahre zurückliegende Zeit bezögen, seien aber verjährt (§ 29 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Die Beklagte sei deshalb befugt, aber nicht verpflichtet, die Einrede der Verjährung zu erheben. Das ihr in dieser Beziehung eingeräumte Verwaltungsermessen sei vom Gericht darauf zu prüfen, ob von ihm ein zweckentsprechender Gebrauch gemacht und ob die der Verwaltung gesetzten Grenzen eingehalten worden seien. Die Erwägungen, die von der Beklagten für die Verjährungseinrede angeführt worden seien, entsprächen nicht dem Zweck dieses Rechtsinstituts in der Rentenversicherung. Die Rechtsunkenntnis der im Ausland lebenden Klägerin sei zu wenig beachtet, andererseits die finanzielle Belastung des Versicherungsträgers mit der Verpflichtung zur Rentennachzahlung für mehr als ein Jahrzehnt überbewertet worden. Der Beklagten müsse es allerdings unbenommen bleiben, in einem neuen Verwaltungsakt weitere im konkreten Falle zu berücksichtigende Gesichtspunkte geltend zu machen.

Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,

  • das Berufungsurteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Sie meint, das LSG habe den Ermessensspielraum, der ihr im Zusammenhang mit der Verjährungseinrede eingeräumt sei, über Gebühr eingeengt.

Die Revision hat keinen Erfolg.

Dem Berufungsgericht ist darin zu folgen, daß bei einem Anspruch auf Leistungen aus der sozialen Rentenversicherung regelmäßig die Fälligkeit mit der Entstehung des Anspruchs zusammenfällt. Gleichzeitig beginnt die Verjährungsfrist (§ 29 Abs. 3 RVO). Der Große Senat (GS) des Bundessozialgerichts (BSG) hat mit Beschluß vom 21. Dezember 1971 (SozR Nr. 24 zu § 29 RVO) entschieden, daß diese Frist nicht - wie bisher angenommen worden war (BSG 21, 162; 23, 62) - erst mit der Antragstellung in Gang kommt. Von dieser Rechtsauffassung her ist die Forderung der Klägerin, soweit sie sich auf Rentenabschnitte bezieht, die länger als vier Jahre vor der Antragstellung liegen, nicht zu erfüllen.

Der Beklagten wäre es jedoch nicht erlaubt, sich auf die Verjährung des erhobenen Anspruchs zu berufen, wenn dem der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung entgegenstünde. Dies setzte voraus, daß die Beklagte sich in dieser Beziehung zu eigenem vorangegangenem Tun oder pflichtwidrigem Unterlassen in Widerspruch setzte. Indessen ist dafür, daß die Beklagte durch ihr Verhalten die Klägerin gehindert hätte, den Rentenanspruch früher anzumelden, nichts zu erkennen.

Ob bei dieser Rechtslage die Rentennachzahlung an der Verjährung scheitert, ist dem pflichtgemäßen Ermessen des Versicherungsträgers überlassen. Darauf, daß dieses Ermessen fehlerfrei ausgeübt wird, steht der Klägerin ein subjektiv-öffentliches Recht zu. Die Entschließung des Versicherungsträgers hierzu ist im Rechtsweg darauf zu prüfen, daß von dem Ermessen nicht ein grenzüberschreitender oder ein fehlerhafter Gebrauch gemacht worden ist (§ 54 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Diese Prüfung hat sich an den Überlegungen zu orientieren, von denen sich der GS in dem angeführten Beschluß hat leiten lassen. Durch die aus diesem Beschluß zu entnehmenden Richtlinien werden die Bedenken, die das LSG gegen die Ermessensentscheidung der Beklagten gehabt hat, zerstreut. Nach der Auffassung des GS greift der Gedanke, daß ein Berechtigter von dem Bestehen eines Anspruchs nichts wisse, gerade bei der Frage der Verjährung in aller Regel nicht durch. Daran ändert nach der Auffassung des GS nichts die Tatsache, daß das moderne Rentenrecht wenig überschaubar ist und von den im Ausland lebenden Berechtigten nicht oder nur sehr schlecht überblickt werden kann. Das gesetzgeberische Motiv für die vierjährige Verjährungsfrist hat der GS in der Absicht erblickt, die Versicherungsträger vor unvorhergesehener Belastung ihres Haushalts mit Nachzahlungen für weit zurückliegende Zeiten zu bewahren. Es kommt also nicht nur darauf an, die Versicherungsträger vor Forderungen zu schützen, die in ihren tatsächlichen Grundlagen zweifelhaft sind und nachträglich mühevolle Ermittlungen nötig machen könnten (vgl. auch: BSG, Urteil vom 17. Mai 1972 - 12 RJ 62/70 -).

Insoweit hat die Beklagte nicht den Zweck des Verjährungsinstituts oder des Verwaltungsermessens verfehlte. Das mit dieser Auffassung nicht übereinstimmende Berufungsurteil ist gleichwohl nicht aufzuheben. Denn es ist nicht ohne weiteres auszuschließen; daß weitere Umstände, welche die Beklagte im Rahmen ihres Entscheidungsspielraums zu beachten hätte, noch zu erörtern sind. Dazu hat das Berufungsgericht durch die Verurteilung der Beklagten zur Bescheiderteilung zu Recht den Weg eröffnet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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