4 RJ 55/69
Gründe I.
Der Rechtsstreit wird darüber geführt, ob dem Kläger die Zeit vom 15. Juli 1946 bis 15. Februar 1957 - in dieser Zeit war er in den unter polnischer Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten beschäftigt - als Beitrags- oder Ersatzzeit gutzubringen ist.
Der - am 9. Juli 1927 geborene - Kläger verzog im März 1946 aus dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland nach Stettin. Er wohnte dort bis zum Jahre 1957. Einem von ihm im März 1957 gestellten Ausreiseantrag wurde stattgegeben; er kehrte daraufhin mit seiner Familie - er hatte Anfang 1950 geheiratet - in die Bundesrepublik Deutschland zurück. Hier ist er seither versicherungspflichtig beschäftigt. Im Rahmen eines Verfahrens nach § 1413 der Reichsversicherungsordnung (RVO) lehnte die Beklagte es ab, die Beschäftigungszeit in Stettin als Beitrags- oder Ersatzzeit anzuerkennen (Widerspruchsbescheid vom 28. September 1965).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 5. März 1968), die Berufung des Klägers ist zurückgewiesen worden (Urteil vom 21. November 1968). In den Gründen des Berufungsurteils ist u.a. ausgeführt: Der Kläger habe keinen Anspruch darauf, daß ihm die Beschäftigungszeit in Stettin als Beitragszeit anerkannt werden. Zwar könne unterstellt werden, daß er in dieser Zeit der polnischen Rentenversicherung angehört und für ihn Beiträge geleistet worden seien. Die Anrechnung dieser Beiträge in Anwendung des § 1250 Abs. 1 Buchst. a RVO komme jedoch nicht in Betracht, weil es an einem zwischenstaatlichen Abkommen fehle. Auch aus dem Fremdrentenrecht ergebe sich kein Anspruch. Der Kläger gehöre nicht zum Personenkreis des § 1 des Fremdrentengesetzes (FRG). Ebenso scheide § 17 FRG als Anspruchsgrundlage aus.
Die in Rede stehende Zeit könne dem Kläger auch nicht als Ersatzzeit gutgebracht werden. Insbesondere seien die Voraussetzungen des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 .RVO nicht erfüllt. Der Kläger sei erst nach Kriegsende und freiwillig nach Stettin gezogen; er habe damit rechnen müssen, daß ihm die Ausreise verwehrt würde. Er gehöre daher nicht zu den Personengruppen, auf die die Ersatzzeitenregelung des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO anzuwenden sei.
Mit der Revision macht der Kläger in erster Linie geltend, daß seine Beschäftigungszeit in Stettin als Beitragszeit berücksichtigt werden müsse. Falls dies rechtlich nicht möglich sei, so sei ihm diese Zeit jedenfalls als Ersatzzeit gutzubringen. Er weist darauf hin, daß er Westdeutschland nur deshalb verlassen habe, um ein in Stettin lebendes Mädchen zu heiraten. Seine wiederholt gestellten Ausreiseanträge seien bis zum Jahre 1957 ohne Erfolg geblieben.
Er beantragt sinngemäß,
- die Beklagte zur Anrechnung seiner Beschäftigungszeit in Stettin als Beitragszeit oder als Ersatzzeit zu verurteilen,
hilfsweise,
- den Rechtsstreit an das Landessozialgericht (LSG) zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
- die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Gründe II.
Die Revision hat zum Teil Erfolg.
Soweit sie die Anrechnung der Beschäftigungszeiten in den von Polen verwalteten deutschen Ostgebieten als Beitragszeit zum Gegenstand hat, ist sie unbegründet. Zwar ist die Klage insoweit zulässig. Der Kläger ist durch die von der Beklagten durch Verwaltungsakt ausgesprochene Ablehnung der Anrechnung einer Beschäftigungszeit beschwert. Die hiernach zulässige Aufhebungsklage (§ 54 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) ist mit einer auf „Verurteilung zur Anerkennung einer Beitragszeit“ gerichteten Klage kombiniert. Hierzu bedarf es keiner Entscheidung, ob es sich um eine Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 SGG oder um eine Verpflichtungsklage handelt. In dem vorbezeichneten Umfang hat das LSG der Klage zu Recht den Erfolg versagt. - Die in Rede stehende Beschäftigungszeit ist keine Beitragszeit im Sinne der deutschen Rentenversicherung. Für diese Zeit liegen keine Beiträge vor, die nach Bundesrecht oder früheren Vorschriften der reichsgesetzlichen Invalidenversicherung wirksam entrichtet sind oder als entrichtet gelten (§ 1250 Abs. 1 Buchst. a RVO). Dem Berufungsgericht ist auch darin zuzustimmen, daß dem Klagebegehren nicht über das Fremdrentenrecht stattgegeben werden kann. Der Kläger gehört nicht zum Personenkreis des § 1 FRG. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG ist er nicht als Vertriebener anerkannt (§ 1 Buchst. a FRG). Auch § 1 Buchst. b FRG kommt nicht in Betracht. Die hier geforderte Voraussetzung, daß infolge der Kriegsauswirkungen ein früher für den Kläger zuständiger Versicherungsträger eines auswärtigen Staates nicht mehr in Anspruch genommen werden kann, ist nicht erfüllt. Die Ursache einer - zwar möglichen, aber nicht sicheren - späteren Verweigerung der Rentenzahlung durch den polnischen Versicherungsträger würde nicht auf Kriegsereignissen beruhen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, daß eine Leistungspflicht eines polnischen Versicherungsträgers, die früher einmal bestanden hat, später infolge von Kriegsereignissen erloschen ist. Läge eine den Vorstellungen des Klägers entsprechende Auslegung der Vorschrift im Willen des Gesetzgebers, so hätte es der in § 1 Buchst. c FRG getroffenen Regelung nicht bedurft. Dieser Tatbestand - Deutsche im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) und frühere deutsche Staatsangehörige im Sinne des Artikels 116 Abs. 2 Satz 1 GG, die nach dem 8. Mai 1945 in ausländisches Staatsgebiet zur Arbeitsleistung verbracht wurden - wäre ebenfalls von § 1 Buchst. b FRG erfaßt. Schließlich scheidet die Anwendung des § 15 FRG Über § 17 FRG aus. Beiträge sind an einen nichtdeutschen Träger der Rentenversicherung entrichtet worden, ohne daß ein deutscher Rentenversicherungsträger hieraus verpflichtet werden konnte (vgl. § 17 Abs. 1 FRG), sie liegen nicht vor dem 9. Mai 1945 (vgl. § 17 Abs. 2 FRG). - Eine zwischenstaatliche Vereinbarung, die die Berücksichtigung der in Rede stehenden Zeit als Beitragszeit gebieten könnte, besteht nicht. - Die Berufung des Klägers auf das GG vermag an diesem Ergebnis nichts zu ändern. Der Gleichheitsgrundsatz ist dadurch, daß dem Kläger Beschäftigungszeiten in den unter polnischer Verwaltung stehenden Gebieten nicht als Beitragszeiten angerechnet werden können, nicht verletzt. Dies gilt auch dann, wenn seine Ehefrau in den Genuß solcher Beitragszeiten gekommen ist. Sie ist nach dem Vorbringen des Klägers als Vertriebene anerkannt, so daß sie - die Richtigkeit dieses Vorbringens unterstellt - von § 1 Buchst. a FRG erfaßt wird.
Die Anrechnung der streitigen Beschäftigungszeiten als Ersatzzeiten ist jedoch nicht ohne weiteres ausgeschlossen. Die Klage ist auch auf Eintragung einer Ersatzzeit in die Versicherungskarte (§ 1412 Abs. 3 RVO) gerichtet. In diesem Umfang muß das angefochtene Urteil aufgehoben werden. Nach § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO sind Ersatzzeiten auch solche Zeiten, in denen der Versicherte während oder nach Beendigung eines Krieges, ohne Kriegsteilnehmer zu sein, durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr aus dem Ausland oder aus den unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten verhindert gewesen oder dort festgehalten worden ist. Die Tatsache, daß die hier in Betracht kommenden Zeiten ausschließlich in der Nachkriegszeit liegen, steht einer Anrechnung nicht im Wege. Nach dem Wortlaut des Gesetzes, der insoweit dessen Sinngehalt eindeutig zum Ausdruck bringt, kommt in diesem Zusammenhang nicht nur die Kriegszeit in Betracht. Es ist - neben der Kriegszeit - mit der Neufassung der Vorschrift durch das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 ausdrücklich auch auf Zeiten nach Beendigung eines Krieges abgestellt. Der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, daß die Beendigung des Kriegszustandes feindliche Maßnahmen und ihre Auswirkungen nicht ausschließt. Er hat damit den tatsächlichen Gegebenheiten - insbesondere denjenigen nach Beendigung des zweiten Weltkrieges - Rechnung getragen. Diese Überlegung macht deutlich, daß eine unterschiedliche Behandlung im Rahmen der Ersatzzeitenregelung - je nachdem, ob ein Versicherter durch feindliche Maßnahmen nur während des Krieges, während der Kriegs- und der Nachkriegszeit oder allein während der Nachkriegszeit daran gehindert worden ist, seinen Wohnsitz in die Bundesrepublik Deutschland zu verlegen - nicht gebilligt werden kann. Dem LSG ist zwar darin zuzustimmen, daß die Erweiterung des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO durch das RVÄndG in erster Linie den Sinn hatte, die während des zweiten Weltkrieges im Wege der Evakuierung in die deutschen Ostgebiete verbrachten Personen zu erfassen sowie auch diejenigen, die zuvor zu keiner Zeit im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ihren Wohnsitz hatten und deshalb - nach Meinung des Gesetzgebers - nicht „zurückkehren“ konnten. Diese Erwägung vermag den Kläger nicht aus dem Kreis der nach § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO berechtigten Personen auszuschließen. Sie hat im Gesetz keinen Niederschlag dahingehend gefunden, daß nur die vorbezeichneten Personengruppen durch die neue Ersatzzeitenregelung begünstigt werden sollten. - Das freiwillige Verlassen des Gebietes der heutigen Bundesrepublik durch den Kläger kurze Zeit nach Beendigung des Kriegszustandes vermag für sich allein die Anwendung des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO ebenfalls nicht auszuschließen. Dieser Umstand zwingt nicht zu der Annahme, daß der weitere Aufenthalt außerhalb der Grenzen des Bundesgebietes ohne Einschränkung als freiwillig gelten muß. Es mag sein, daß der Kläger beim Verlassen der westlichen Besatzungszonen Deutschlands den Willen hatte, nach seiner Eheschließung in Stettin dort auf Dauer seinen Wohnsitz zu begründen. Gleichwohl kann aus dem ursprünglich freiwilligen Aufenthalt ein unfreiwilliger geworden sein. Es ist denkbar, daß eine Änderung in der Willensbildung des Klägers eingetreten ist. Dieser Änderung kann nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), von der abzuweichen kein Anlaß besteht, Bedeutung zukommen (vgl. hierzu insbesondere BSG in SozR Nr. 55 zu § 1251 RVO sowie das zu § 1315 RVO ergangene, zur Veröffentlichung vorgesehene Urteil des erkennenden Senats vom 18. August 1971, Az.: - 4 RJ 25/71 -). Hiernach hängt die Entscheidung davon ab, ob - gegebenenfalls von welchem Zeitpunkt an - ein ernsthafter Rückkehrwille des Klägers bestanden hat und ob er an der Verwirklichung dieses Willens durch feindliche Maßnahmen gehindert worden ist. Diese Erfordernisse - die 2. Alternative des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO „festgehalten“ scheint nach dem bisherigen Vorbringen des Klägers nicht in Betracht zu kommen - bedürfen des Nachweises. Die bisher vom LSG getroffenen Tatsachenfeststellungen lassen eine abschließende Entscheidung nicht zu. Der Rechtsstreit muß daher in dem vorbezeichneten Umfang zur Nachholung der erforderlichen Ermittlungen an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Bei der neuen Entscheidung werden die in Betracht kommenden Umstände sorgsam abgewogen werden müssen. Ein ursprünglich auf ein dauerndes Verbleiben in Stettin gerichteter Wille sollte im Hinblick darauf, daß im Jahre 1946 noch nicht abgesehen werden konnte, welche Wege die einzelnen, von den Siegermächten besetzten Teile Deutschlands gehen würden, nicht überbewertet werden. Allein die unterschiedliche politische und wirtschaftliche Entwicklung in diesen Gebieten während der späteren Jahre könnte eine ernsthafte Änderung in der Willensbildung des Klägers bewirkt haben. Für den Fall, daß das LSG den Rückkehrwillen des Klägers als erwiesen ansehen sollte, wird zu prüfen sein, ob es tatsächlich feindliche Maßnahmen - zu denen möglicherweise schon die Aufteilung Deutschlands durch die Siegermächte gehört - waren, die den Kläger an der Ausreise gehindert haben und nicht etwa solche, die sich unterschiedslos gegen die gesamte, damals unter polnischer Verwaltung lebende Bevölkerung richteten.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem LSG vorbehalten.