4 RJ 439/69
Aus den Gründen
Die Klägerin beanstandet die Höhe der ihr bewilligten Witwenrente. Bei der Berechnung dieser Leistung sind Beschäftigungszeiten, die ihr Ehemann zwischen 1932 und 1946 in der Mandschurei (Mandschukuo) zurückgelegt hat, unterbrochen durch eine Internierung von wenigen Monaten in der Sowjetunion, nicht berücksichtigt worden. Der Versicherte, der deutscher Staatsangehöriger war und 1951 nach Deutschland umgesiedelt wurde, wird als Vertriebener angesehen. 1954 ist er verstorben.
Die Beklagte lehnte die Bewertung jener Beschäftigungszeiten als Versicherungszeiten gemäß § 16 FRG ab, weil Mandschukuo nicht zu den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG aufgeführten Vertreibungsgebieten gehöre. SG und LSG haben der Klage stattgegeben. Für das Berufungsgericht war maßgebend, daß zur Zeit der Entscheidung über den Rentenantrag die Mandschurei zu China gehörte und daß im Ges. China als „Vertreibungsland“ genannt ist.
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Die Zeiten, in denen der Versicherte vor seiner Vertreibung in Mandschukuo beschäftigt war, stehen Beitragszeiten gleich.
Das ergibt sich aus § 16 FRG. Diese Vorschrift ist anzuwenden, obgleich sie beim Eintritt des VersFalls - 1954 - noch nicht galt (Art. 6 §§ 5, 8 FANG vom 25.2.1960). Für die Berechnung der - nach früherem Recht festzusetzenden und umzustellenden - Rente schreibt Art. 6 § 6 Abs. 2 FANG vor, daß der Ermittlung des Steigerungsbetrages die nach § 16 FRG gutzubringenden Zeiten zugrunde zu legen sind.
Der Tatbestand dieser Vorschrift ist erfüllt. Dafür reicht es hinsichtlich der in diesem Verfahren streitigen Frage aus, daß die Mandschurei, als der Versicherte seinen Wohnsitz dort aufgeben mußte, zu China gehörte und daß sich an dieser staatsrechtlichen Gegebenheit seitdem nichts geändert hat. Allerdings war die Mandschurei in den Jahren, in welchen der Versicherte dort arbeitete, zeitweilig von Japan besetzt, zu einem unabhängigen Kaiserreich Mandschukuo erklärt und später von der Sowjetunion okkupiert worden. Das ist indessen nach § 16 FRG nicht erheblich. Bei der Anwendung dieser Vorschrift ist nicht zu fordern, daß das betreffende Land bereits in der Beschäftigungszeit zu den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG aufgezählten Gebieten gehörte. Dieses Ergebnis folgt aus dem Zweck des Gesetzes, nämlich die Folgen der Vertreibung auszugleichen. Personen, die in Ländern „hinter dem eisernen Vorhang“ ihre wirtschaftliche Existenzbasis haben zurücklassen müssen, soll die Eingliederung in das hiesige System der Sozialen Sicherheit eröffnet werden (vgl. BT-Drucks. I/4080 - Bericht des 22. Ausschusses -; BT-Drucks. 111/1109, Besonderer Teil, Begr. zu § 16 FRG). Von dieser Zielsetzung her ist es verständlich, daß es für die territoriale Zuordnung der jeweiligen Beschäftigung nicht auf ethnographische, politische oder wirtschaftliche Gesichtspunkte ankommt. Vielmehr folgt aus der gesetzgeberischen Absicht, daß die im BVFG bezeichneten Gebiete Staatsterritorien des heutigen kommunistischen Herrschaftsbereichs sind.
Dieser Deutung kann nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, daß in § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG neben der Sowjetunion und Polen auch Danzig, Estland, Lettland und Litauen aufgeführt sind, welche faktisch ihre Selbständigkeit verloren haben. Diese Gesetzesfassung zwingt nicht zu der Annahme, daß die territoriale Bezeichnung auf einen weiter in der Vergangenheit liegenden staatsrechtlichen Zustand verweist. Sie erklärt sich aus der Vorstellung heraus, daß die Annexion Danzigs und der baltischen Staaten durch Sowjetrußland weder von der Bundesrepublik Deutschland noch von den Westmächten völkerrechtlich anerkannt worden ist. Das galt insbesondere beim Erlaß des BVFG im Jahre 1953. Im übrigen entspricht die Verweisung, die in § 16 FRG ausgesprochen worden ist, der engen Verflechtung zwischen dem durch diese Vorschrift verwirklichten Gedanken, Vertriebene in das Rechts-, Wirtschafts- und Sozialsystem der BRD einzugliedern, und der Ordnung des Vertriebenenrechts. Damit stimmt § 1 Buchst. a FRG überein, wo schlechthin von den „Vertriebenen im Sinne des § 1 BVFG“ die Rede ist.
Daß § 16 FRG wie § 1 BVFG auf den Gebietsstand zur Zeit der Vertreibung oder der Entsch. über den Rentenantrag abhebt, wird durch einen Vergleich dieser Rechtsnormen mit § 17 Abs. 2 und § 18 Abs. 2 FRG bestätigt. Beide Best.en sind mit § 16 FRG verknüpft. So gilt beispielsweise nach § 17 Abs. 2 FRG unter bestimmten Umständen die Regelung des § 16 auch für Beschäftigungen „vor dem 9.5.1945 im Gebiet der sowjetischen Besatzungszone oder im sowjetischen Sektor von Berlin oder in den unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten“. Hiernach wird die Bewertung früherer Beschäftigungsverhältnisse als Fremdrentenzeiten allein davon abhängig gemacht, daß sie in Bereichen lokalisiert waren, die gegenwärtig nicht zur BRD gehören. Daß die betreffenden Gebiete zur Zeit der Beschäftigung Teile des Deutschen Reiches waren, ist hingegen nicht Merkmal des hier anzuwendenden gesetzlichen Tatbestandes.
Somit ist für den Gebietsstand, der nach § 16 FRG relevant ist, der Zeitpunkt der Vertreibung, des Rentenantrags oder der Entscheidung über diesen Antrag maßgebend. Welcher von diesen Zeitbestimmungen der Vorzug zu geben ist, kann im vorliegenden Streitfalle offen bleiben. Für die Mandschurei ist zwischen diesen Zeitpunkten keine Änderung eingetreten. Die Mandschurei gehört spätestens seit dem Abzug der sowjetischen Truppen im Jahre 1946, wie von den Westmächten und der BRD anerkannt worden ist, zum chinesischen Hoheitsgebiet.