12 RJ 130/70
Aus den Gründen
Der Kläger, seit 1929 Mitglied der NSDAP, war Ortsgruppenleiter. Im Januar 1945 wurde er zur Waffen-SS eingezogen. Am 2.5.1945 geriet er in britische Kriegsgefangenschaft. Am 2.1.1946 wurde er in Fallingbostel mit Entlassungsschein entlassen. Wegen seiner früheren Funktion in der NSDAP wurde er von der britischen Besatzungsmacht weiter in Haft gehalten (sog. „automatischer Arrest“). Im Sommer 1947 wurde er der amerikanischen Besatzungsmacht übergeben. Diese wies ihn in das Lager Moosburg ein. Dort wurde er am 29.4.1948 mit „Überweisungsschein für Zivilinternierte zur Heimatspruchkammer“ entlassen.
Der Kläger beantragte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die beklagte LVA lehnte den Antrag ab. Sie sah die Wartezeit nicht als erfüllt an; die Zeit des sog. automatischen Arrests könne nicht als Fortsetzung der Kriegsgefangenschaft oder als Ersatzzeit einer Internierung im Sinne des § 1251 Abs. 1 Nr. 2 RVO angesehen werden.
Das SG hat die Beklagte zur Rentengewährung unter Anrechnung der Zeit vom 3.1.1946 bis 30. 4.1948 als Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO verurteilt. Das LSG hat das Urt. des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.
Wie der Kläger richtig erkannt hat, kann die Zeit des automatischen Arrests nicht als Zeit der Internierung nach § 1251 Abs. 1 Nr. 2 RVO angerechnet werden; denn danach ist eine Internierungszeit nur dann eine anrechenbare Ersatzzeit, wenn der Versicherte Heimkehrer im Sinne des § 1 HkG ist. Aus dieser Voraussetzung folgt, daß zwischen der Internierung und der Heimkehrereigenschaft ein Zusammenhang bestehen muß, das heißt der Versicherte muß außerhalb des Bundesgebietes und des Landes Berlin interniert gewesen sein. Der Kläger wurde hingegen innerhalb der Bundesrepublik in Lagern festgehalten.
Der Kläger hat in der Zeit seit der Entlassung mit Entlassungsschein vom 2.1.1946 auch keine Ersatzzeit wegen „Kriegsgefangenschaft“ zurückgelegt. Der Begriff der Kriegsgefangenschaft ist in § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO nicht näher beschrieben. Deshalb ist er im Sinne des Völkerrechts zu verstehen. Er ist in dem Genfer Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen v. 27.7.1929 (RGBl II 1934, 227), ersetzt durch das Abk. v. 12.8.1949 (BGBl II 1954, 838), bestimmt (vgl. auch BSG 13, 16, 17 = SozR Nr. 49 zu § 1 BVG; SozR Nr. 25 zu § 1251 RVO). Daß der Kläger Kriegsgefangener war, weil er wegen militärischen Dienstes (Waffen-SS) festgenommen wurde, ist unzweifelhaft. Nach den Best.en der Abk. endet die Kriegsgefangenschaft durch Freilassung und Heimschaffung (IV. Teil, 2. Absch., Art. 75 Abs. 1 und 2 des Abk. von 1929 und Teil IV, Abschn. II, Art. 118 Abs. 1 des Abk. von 1949). Eine besondere Heimschaffung entfällt, wenn die Freilassung im Heimatland erfolgt. Zur „Beendigung“ der Kriegsgefangenschaft wird in der Rechtspr. der VGe davon ausgegangen, daß die Kriegsgefangenschaft grundsätzlich nicht endet, wenn sich der Grund des Gefangenhaltens ändert; für die Beurteilung als Kriegsgefangener komme es nur auf den Grund der Gefangennahme, nicht auf den Grund des Gefangenhaltens an (z.B. VerwG in NJW 1957, 1451 und BABl 1958, 420). Dieser Auffassung ist zuzustimmen, wenn noch eine innere Beziehung zwischen der Festnahme als Kriegsgefangener und dem späteren Grund des Gefangenhaltens besteht (vgl. BSG 21, 41 = SozR Nr. 2 zu § 2 UBG v. 30.4.1952). Es ist dabei aber nicht außer acht zu lassen, daß nach den Genfer Abk. die Heimschaffung der Kriegsgefangenen „binnen kürzester Frist nach Friedensschluß zu erfolgen hat“ beziehungsweise daß die Kriegsgefangenen „nach Beendigung der aktiven Feindseligkeiten ohne Verzug freigelassen und heimgeschafft“ werden (Art. 75 Abs. 1 Satz 3 des Abk. von 1929, Art. 118 Abs. 1 des Abk von 1949). Die Abk. enthalten nichts über die Überführung eines nach Beendigung der aktiven Feindseligkeiten formell mit Entlassungsschein aus der Kriegsgefangenschaft Entlassenen - wie der Kläger am 2.1.1946 - in ein Zivilinternierungslager aus Gründen, die in der früheren, politisch betrachteten Tätigkeit des Festgehaltenen in seinem Heimatstaat liegen. Nach den Abk. konnten lediglich Kriegsgefangene, die ein „Verbrechen oder Vergehen des gemeinen Rechts“ begangen hatten, über den „Friedensschluß“ hinaus zur Strafverfolgung und Strafverbüßung zurückgehalten werden (Art. 75 Abs. 2 des Abk. von 1929, ähnlich Art. 99 und 119 Abs. 5 des Abk. von 1949). Die Eigenschaft als Amtsträger der NSDAP - Ortsgruppenleiter - fällt nicht darunter. Die Festhaltung durch die seit der Einstellung der Feindseligkeiten und der Kapitulation zur „Besatzungsmacht“ gewordene feindliche Macht stützt sich von der förmlichen Entlassung des Kriegsgefangenen ab nur noch auf die Entnazifizierungsvorschriften, aber nicht mehr auf die völkerrechtlichen Vorschriften über die Behandlung von Kriegsgefangenen. Dies kommt in der Tatsache, daß der Kläger den Entlassungsschein vom 2.1.1946 erhielt, zum Ausdruck. Der Zweck des Festhaltens von „Kriegsgefangenen“, zu verhindern, daß Angehörige des Feindstaates weiterhin an Kampfmaßnahmen teilnehmen (vgl. Art. 74 des Abk. von 1929, Art. 117 des Abk. von 1949), fällt mit der Kapitulation des Feindstaates weg. Ein Ortsgruppenleiter wäre auch als Zivilperson auf Weisung der nunmehrigen „Besatzungsmacht“ in den automatischen Arrest in einem Internierungslager genommen und festgehalten worden (zum automatischen Arrest eines Ortsgruppenleiters vergleiche BSG 16, 261 = SozR Nr. 34 zu § 5 BVG; ferner BVerwG 6, 232; 9, 102). Zwischen der Gefangennahme des Klägers als Angehöriger der Waffen-SS und seiner Festhaltung als politisch Belasteter - Ortsgruppenleiter - besteht keine innere Beziehung. Diesem Umstand mißt der Sen. entscheidende Bedeutung bei. Deshalb kann auch nichts anderes gelten, wenn es zutrifft, daß der Kläger - wie er vorträgt - in der Zeit bis Mitte 1947 unter denselben äußeren Bedingungen festgehalten wurde wie zuvor als Kriegsgefangener.
Der „Verbleib“ eines entlassenen „Kriegsgefangenen“ in einem Lager aus politischen Gründen kann für die Frage der Anrechnung einer Ersatzzeit nicht anders behandelt werden, als wenn der ehemalige Kriegsgefangene nach der Entlassung, z.B. auf dem Weg vom Kriegsgefangenenlager zu seiner Wohnung, von der Besatzungsmacht festgenommen und in ein Internierungslager überführt wird. Es ist ein rein äußerlicher Unterschied, ob der Entlassene anschließend im Lager festgehalten wird oder nach einiger Zeit von der Besatzungsmacht wieder festgenommen wird. In beiden Fällen ist der Grund des Festhaltens oder Festnehmens allein die frühere politische Tätigkeit, und es besteht kein innerer Zusammenhang mit der gegen die frühere Feindmacht ausgeübten militärischen Tätigkeit, die Anlaß für die Festnahme und Entlassung als Kriegsgefangener war.
Von einem bloß äußerlich unterschiedlichen Handeln der Besatzungsmacht ohne sachliche innere Unterscheidungsmerkmale kann die Frage der Anrechnung oder Nichtanrechnung der Zeit des automatischen Arrests als Ersatzzeit der „Kriegsgefangenschaft“ bei vernünftiger Rechtsanwendung nicht abhängen.
Der automatische Arrest durch Internierung im Bundesgebiet als solcher erfüllt nicht die Merkmale eines der Ersatzzeittatbestände des § 1251 Abs. 1 RVO. Eine vom Gesetzgeber nicht gewollte Lücke im Ges. kann nicht angenommen werden; denn die Tatsache, daß Personen im Zuge der „Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“ in Internierungslagern innerhalb des Gebietes der späteren Bundesrepublik festgehalten wurden, war dem Gesetzgeber bei der großen Anzahl dieser Internierten bekannt. Es muß daher davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber die Zeit einer solchen Internierung vers.rechtlich nicht berücksichtigen wollte Die Anrechnung dieser Zeit bei einem Personenkreis, der - zufälligerweise - unmittelbar nach Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft festgehalten wurde, als „verlängerte“ Kriegsgefangenschaft würde dem vom Ges. Gewollten widersprechen und zu einer durch sachliche Unterscheidungsmerkmale nicht zu rechtfertigenden ungleichen Behandlung gleicher Tatbestände - Belastung im Sinne des Ges. zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus v. 3.1.1946 - führen.
Die verwaltungsgerichtliche Rechtspr. zu § 2 Abs. 1 Satz 3 des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes (KgfEG) idF vom 28.12.1956 (BGBl I 904; unverändert idF vom 1.9.1964 - BGBl I 696 - und v. 29.9.1969 - BGBl I 1800) steht nicht entgegen. In § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO ist zum Begriff der Kriegsgefangenschaft nicht auf andere bundesrechtliche Gesetzesvorschriften Bezug genommen, wie in Nr. 2 des § 1251 Abs. 1 RVO auf das HkG. § 2 Abs. 1 Satz 3 KgfEG ist daher für die Auslegung des § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO nicht verbindlich. Die Anrechnung einer Ersatzzeit für den automatischen Arrest ist somit nicht möglich.