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10 RV 12/68

Aus den Gründen

Die Auffassung des LSG, vor dem SG sei die Gewährung der Grundrente nicht mehr im Streit gewesen, so daß es sich um einen reinen Gradstreit zwischen 30 % und 40 % gehandelt habe (vgl. § 148 Nr. 3 SGG), hält einer Nachprüfung nicht stand; sie beruht auf einer unrichtigen Anwendung des § 101 SGG und einer fehlerhaften Auslegung der von dem Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem SG abgegebenen Erklärung. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung unterliegt die Auslegung von prozeßrechtlichen Erklärungen in der Vorinstanz der freien Nachprüfung durch das Revisionsgericht (vgl. BVerwG in Samml. BVerwG Nr. 5 zu 310; § 86 Abs. 3 VerwGO; RGZ 86, 380; 107, 344; 134, 132; 136, 207). Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung an, da nur auf diesem Wege die Einhaltung der verfahrensrechtlichen Vorschriften, soweit sie von Prozeßerklärungen der Beteiligten abhängen, durch das Revisionsgericht überprüft werden kann.

Im vorliegenden Fall ist die Auslegung der Prozeßerklärungen des Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 18. November 1965 streitig, nämlich ob darin ein Vergleichsangebot liegt, wie der Beklagte meint, oder ein Anerkenntnis, wie es anscheinend das LSG angenommen hat. Gemäß § 101 Abs. 1 SGG können die Beteiligten zur Niederschrift des Gerichts einen Vergleich schließen, soweit sie über den Gegenstand der Klage verfügen können („Gerichtlicher Vergleich“). Ein derartiger Vergleich hat nach der herrschenden Meinung eine Doppelnatur: er ist einmal ein öffentlich-rechtlicher Vertrag (vgl. Peters / Sautter / Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 101 Anm. 1a S. II/61 - 44; Wannagat in NJW 1961 S. 1191; Krebs in „Die Ortskrankenkasse“ 1962 S. 73; Haueisen in NJW S. 1329, 1332), andererseits eine Prozeßhandlung, welche die Beendigung des Rechtsstreits bewirkt (vgl. BSG in SozR SGG § 101 Nr. 6). Die Beteiligten können aber auch außerhalb des gerichtlichen Verfahrens einen Vergleich schließen(„Außergerichtlicher Vergleich“). Dieser Vergleich hat unmittelbar keine prozessualen Wirkungen (vgl. BGH in MDR S. 313); der Rechtsstreit ist dann insoweit erledigt, wie die Beteiligten hierüber einig sind und übereinstimmend die Erledigung der Sache erklären (vgl. Peters / Sautter / Wolff a.a.O. Anm. 2 S. II/61 - 53).

Der Rechtsstreit kann aber auch dadurch beendet werden, daß die Versorgungsverwaltung im Prozeß ein Anerkenntnis abgibt, d.h. eine einseitige Erklärung, die eine prozeß- und materiell-rechtliche Verfügung über den Streitgegenstand enthält. Das Anerkenntnis kann in der mündlichen Verhandlung, in einem Schriftsatz (vgl. BSG in SozR SGG § 101 Nr. 5; Rohwer-Kahlmann SGG § 101 Anm. 19) oder zu Protokoll des Gerichts erfolgen. Nach der ausdrücklichen Vorschrift des § 101 Abs. 2 SGG erledigt nur das angenommene Anerkenntnis „den Rechtsstreit in der Hauptsache“ (BSG in SozR SGG § 101 Nr. 10). Ein nicht angenommenes Anerkenntnis bleibt zwar gleichfalls eine Prozeßerklärung, hat jedoch keine unmittelbare prozessuale Wirkung, d.h. es erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache nicht. Da es sich jedoch bei dem Anerkenntnis um eine einseitige, nicht zustimmungsbedürftige Erklärung handelt, bleibt ungeachtet einer Annahme durch den Prozeßgegner die materiell-rechtliche Wirkung dieser Erklärung bestehen, d.h. der Beteiligte, der die Erklärung abgegeben hat, bleibt an ihrem materiell-rechtlichen Inhalt gebunden (vgl. BSG in SozR SGG § 101 Nr. 3; Peters/ Sautter/ Wolff a.a.O. § 101 Anm. 3 S. II/61 - 58; Rohwei-Kahlmann SGG § 101 Anm. 19). Auch das Gericht hat diese Wirkung einer einseitigen Annahmeerklärung bei seiner Entscheidung zu beachten, sofern das Anerkenntnis im Zeitpunkt der Entscheidung noch Bestand hat.

Das LSG hat keine klare Stellung zu der Frage bezogen, ob es sich nach seiner Auffassung bei der Erklärung des Vertreters des Beklagten vor dem SG um ein Vergleichsangebot oder ein Anerkenntnis gehandelt hat, im Ergebnis aber wohl ein Anerkenntnis, das von dem Kläger nicht angenommen worden ist, unterstellt. Erläuternd ist zunächst darauf hinzuweisen, daß ein gerichtlicher Vergleich (§ 101 Abs. 1 SGG) mangels Protokollierung keinesfalls vorliegen kann und auch ein außergerichtlicher Vergleich - als öffentlich-rechtlicher Vertrag - übereinstimmende Erklärungen der Beteiligten voraussetzt. Dazu ist es aber nach dem klaren Wortlaut des Sitzungsprotokolls nicht gekommen.

Aber auch ein Anerkenntnis kann den Erklärungen des Vertreters des Beklagten nicht entnommen werden. Nach dem Gesamtinhalt und der Wortgebung der protokollierten Erklärungen der Beteiligten spricht alles dafür, daß die Parteien vor dem SG Vergleichsverhandlungen geführt haben. Der Vertreter des Beklagten hat nach dem Protokollinhalt zunächst Rente nach einer MdE um 25 % - nicht 30 %, wie das LSG schreibt - „angeboten“. Der Vertreter des Klägers hat das „Vergleichsangebot“ nicht angenommen. Diese von dem Vorsitzenden des SG gewählte Formulierung läßt nur den Schluß zu, daß auch nach seiner Auffassung Vergleichsverhandlungen geführt worden sind, die allerdings nicht zum erfolgreichen Abschluß gekommen sind. Der Vertreter des Beklagten hat dann „dann - offenbar weil die Vergleichsverhandlungen gescheitert waren - beantragt, die Klage als unbegründet abzuweisen. Ein derartiges Vergleichsangebot stellt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) kein Anerkenntnis dar, wenn es nicht angenommen wird (vgl. BSG in ZfS 1956, S. 280; Rohwer-Kahlmann a.a.O.). Wenn das LSG davon ausgegangen ist, daß die Verwaltung nach dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit der Verwaltung nur das zugestehen darf, worauf nach Recht und Gesetz ein Anspruch besteht, so ist diese Auffassung im Ansatz richtig, sie läßt jedoch keine Rückschlüsse auf die verbindliche, unwiderrufliche Wirkung von Erklärungen innerhalb der Vergleichsverhandlungen zu. Das BSG hat bereits entschieden, daß die Versicherungs- bzw. Versorgungsträger wie beim Erlaß eines Verwaltungsaktes auch beim Abschluß eines Prozeßvergleichs den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns zu beachten haben, also nicht Leistungen gewähren dürfen, für welche die gesetzlichen Voraussetzungen nicht gegeben sind, daß aber trotzdem ein materiell-rechtlich unrichtiger Prozeßvergleich nicht ohne weiteres unwirksam ist, da sich das „Verfügen-Können“ im Sinne des § 101 Abs. 1 SGG nicht mit dem „Verfügen-Dürfen“ deckt (vgl. BSG 26, 210; SozR SGG § 101 Nr. 8, 9 und 10). Das bedeutet im Ergebnis, daß der Versorgungsverwaltung bei einem Vergleichsabschluß - und mehr noch bei Vergleichsverhandlungen - ein gewisser Beurteilungsspielraum eingeräumt ist, sofern durch den Vergleich nicht eine dem objektiven Recht widersprechende Leistung zuerkannt werden soll. Ein Vergleich als zweiseitiger Vertrag besteht gemäß § 779 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) im „gegenseitigen Nachgeben“. Der Beklagte kann demnach - da es eine absolute Wahrheit nicht gibt und insbesondere MdE-Bewertungen stets umstritten sind und einen Unsicherheitsfaktor enthalten - bei Vergleichsverhandlungen von seinem in dem Verwaltungsakt eingenommenen Standpunkt zu Gunsten des Beschädigten abrücken, während umgekehrt auch der Beschädigte seine Maximalforderung reduzieren kann. Dabei abgegebene Erklärungen halten sich im Rahmen des „Verfügen-Könnens“, ohne daß jede einzelne Erklärung des Beklagten oder des Klägers sofort mit Bindungswirkung ausgestattet wäre.

Wenn die Auffassung des LSG über die von dem Beklagten abgegebene Erklärung richtig wäre, dann würden Vergleichsverhandlungen zwischen den Beteiligten in einem Sozialrechtsstreit nahezu unmöglich gemacht, da der Versicherungs- oder Versorgungsträger befürchten müßte, daß jede einzelne, von ihm abgegebene Erklärung zu seinen Ungunsten ausgelegt und er unwandelbar daran festgehalten wird. Im Interesse des Rechtsfriedens und mit Rücksicht auf die Belange des Rentenbewerbers kann es aber durchaus geboten sein, daß eine vergleichsweise Lösung angestrebt und dabei größeres Entgegenkommen gezeigt wird, als es bei bescheidmäßigem Verwaltungshandeln möglich ist. Ein Vergleich mit Widerrufsvorbehalt - wie er im Gerichtsverfahren allgemein anerkannt ist (vgl. Baumbach/Lauterbach ZPO, Anhang nach § 307 Anm. 3 B; Peters / Sautter / Wolff a.a.O. § 101 Anm. 1b S. II/61 - 48; BSG in SozR SGG § 101 Nr. 7) - wäre vollends unmöglich gemacht. Da üblicherweise zunächst die materiell-rechtlichen Erklärungen abgegeben und protokolliert werden - die nach Auffassung des LSG für den Versorgungsträger sofort bindend werden -, und danach erst über den Widerruf verhandelt wird, würde weder der Widerrufsvorbehalt noch der spätere Widerruf die materiell-rechtliche Wirkung der einmal abgegebenen Erklärung beseitigen können. Ein derartiges Ergebnis, das die Verständigungsmöglichkeiten vor Gericht allzu sehr einschränken und die Bereitschaft des Versorgungsträgers zu Vergleichsverhandlungen lähmen müßte, kann nicht richtig sein. Vielmehr können vorbereitende Vergleichsverhandlungen, Vergleichsabschluß und etwaige Widerrufsvorbehalte nur als einheitlicher Vorgang angesehen werden, d.h. nicht jede einzelne Erklärung darf aus dem Zusammenhang gerissen und isoliert betrachtet, sondern sie muß im Zusammenhang mit dem Gesamtablauf gesehen werden. Im vorliegenden Fall hat der Vertreter des Klägers das „Vergleichsangebot“ abgelehnt. Sofort im Anschluß daran hat der Vertreter des Beklagten auf die Ausgangsposition, nämlich den Umanerkennungsbescheid und die darin enthaltene Rentenentziehung, zurückgegriffen und beantragt, die Klage abzuweisen. Damit war die frühere Erklärung - das „Anbieten“ der Rente nach einer MdE um 25 % - hinfällig geworden. Das SG hatte daher über den Rentenanspruch als solchen zu entscheiden und hat dies zutreffend auch getan.

An diesem Ergebnis ändert sich auch dann nichts, wenn die Erklärung des Vertreters des Beklagten nicht als Vergleichsangebot, sondern als „Anerkenntnis“ gewertet wird. Dabei kann dahinstehen, ob ein Anerkenntnis, bevor es von dem Prozeßgegner angenommen wird, frei widerruflich ist (so offenbar BSG in SozR SGG § 101 Nr. 3); denn jedenfalls kann das Anerkenntnis als einseitige (Willens-) Erklärung widerrufen werden, wenn der Widerruf dem Empfänger gleichzeitig mit der Anerkenntniserklärung zugeht (vgl. § 130 Abs. 1 Satz 2 BGB; Peters / Sautter / Wolff, a.a.O. § 101 Anm. 3 S. II/61 - 56). Gleichzeitigkeit im Sinne dieser Vorschrift ist nach der Rechtsprechung auch dann gegeben, wenn der Widerruf erst in einem späteren Abschnitt der schriftlichen Erklärung enthalten ist, oder wenn dem Empfänger mit der gleichen Post zwei gesonderte Schreiben mit der Willenserklärung und dem Widerruf zugehen, wobei es nicht darauf ankommt, welches Schreiben der Empfänger zuerst öffnet und zur Kenntnis nimmt (vgl. RGZ 60. 334; 91, 60; 150, 392; Soergel / Siebert BGB § 130 Anm. 26; Staudinger BGB, 11. Aufl., § 130 Anm. 17). Im vorliegenden Fall hat es sich um eine einheitliche Verhandlung vor dem SG gehandelt. Bereits die Formulierung der Erklärung des Vertreters des Beklagten läßt erkennen, daß er kein unbedingtes Anerkenntnis abgeben wollte. Seine Erklärung ist von dem Vertreter des Klägers auch in diesem Sinne verstanden und als unzureichend abgelehnt worden. Wenn der Vertreter des Beklagten im sofortigen Anschluß die Klageabweisung beantragt hat, so kam damit eindeutig zum Ausdruck, daß er an die vorherige Erklärung nicht mehr gebunden sein wollte. Dieser „Widerruf“ - sofern ein solcher überhaupt notwendig war - muß als gleichzeitig im Sinne des § 130 Abs. 1 BGB und damit als rechtzeitig angesehen werden, um die Verbindlichkeit einer etwaigen Rentenzusage zu beseitigen. Ein verbindliches Anerkenntnis der Verpflichtung zur Gewährung der Rente nach einer MdE um 25 % lag somit nicht vor. Im Streit vor dem SG war die Gewährung der Versorgungsrente überhaupt. Das LSG hätte daher eine Sachentscheidung fällen müssen.

Soweit das LSG seine Entscheidung weiter darauf stützt, daß der Beklagte das Angebot, dem Kläger die Grundrente zu gewähren, „auch gegenüber dem erkennenden Senat aufrechterhalten hat“, ist eine solche Erklärung den Prozeßakten nicht zu entnehmen. In seiner Berufungsschrift vom 27. Dezember 1965 hat der Beklagte beantragt, das Urteil des SG vom 18. November 1965 aufzuheben und die Klage abzuweisen. In seinem Schriftsatz vom 21. Februar 1966 weist der Beklagte auf die nach seiner Auffassung eingetretene wesentliche Besserung hin, während er in seinem Schriftsatz vom 21. September 1967 ausdrücklich betont, daß er in der mündlichen Verhandlung vor dem SG ein Vergleichsangebot unterbreitet hat und daß dieses Angebot von dem Kläger nicht angenommen worden ist, worauf der Beklagte wörtlich fortfährt: „Es wird daher die Auffassung vertreten, daß durch die Nichtannahme des Vergleichs über den Streitgegenstand in vollem Umfang zu entscheiden ist.“ In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG hat der Beklagte den Antrag auf Aufhebung des Urteils des SG und auf Klagabweisung aufrechterhalten. Dieser Klagantrag, der auch in das Urteil des LSG aufgenommen ist, kann im Zusammenhang mit dem gesamten Berufungsverfahren nur dahin verstanden werden, daß der Beklagte sein Angebot gerade nicht aufrechterhalten, sondern im Gegenteil sein ursprüngliches prozessuales Begehren auf Klagabweisung weiterverfolgt hat.

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