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4 RJ 287/67

Gründe:

Die Kläger - geboren am 16. Juni 1948 und 12. Januar 1956 - erhalten aus der Rentenversicherung ihrer - am 15. September 1965 - verstorbenen Mutter Waisenrenten nach dem für Halbwaisen geltenden Satz. Die Beklagte hat es abgelehnt (Bescheid vom 13. Februar 1964), den für Vollwaisen maßgeblichen Rentenbetrag zu gewähren, und zwar mit der Begründung, die Kläger seien unehelich geboren, ihre Väter unbekannt, möglicherweise lebten sie noch. Für jeden der Kläger hatte die Mutter einen Soldaten der amerikanischen Armee als Vater bezeichnet. Von diesen beiden Soldaten wird angenommen, daß sie vor längerer Zeit Deutschland verlassen haben.

Den Klagen hat das Sozialgericht (SG) Bayreuth mit Urteil vom 5. November 1965 stattgegeben. Es ist der Rechtsprechung des 3. Senats des Bundessozialgerichts - BSG - (Urteil vom Juli 1959, BSG 10, 189) gefolgt, wonach ein uneheliches Kind nach dem Tode seiner versicherten Mutter denn Anspruch auf die Rente einer Vollwaise hat, wenn der Vater nicht festgestellt ist. So - dies ist die Meinung des SG - sei hier; ob die Väter der Kläger tatsächlich Träger der von Mutter angegebenen Namen seien oder gewesen seien, lasse sich nicht mehr klären; es sei nicht zu ermitteln, wo sie diese Personen aufhielten, ja, ob sie noch lebten. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat dagegen durch Ur teil vom 14. Februar 1967 die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klagen abgewiesen. Es stützt sich für seine Auffassung auf ein Urteil des 10. Senats des BSG (vom 25. Juni 1959, BSG 10, 108). Seines Erachtens läßt das Gesetz allein die Auslegung zu, daß ein uneheliches Kind Vollwaise nur sei, wenn sowohl die Mutter als auch der außereheliche Vater nachweisbar tot seien. Die gegenteilige Auffassung berücksichtige zu sehr das ihr erwünscht erscheint wirtschaftliche Ergebnis. Etwas anderes gelte auch nicht unter der Herrschaft des Art. 6 Abs. 5 des Grundgesetzes (GG). Die mit dieser Verfassungsnorm angeordnete Gleichstellung der unehelichen mit den ehelichen Kindern sei dem Gesetzgeber und nicht der Rechtsprechung übertragen; im Bereich der Rentenversicherung sei zudem diese Gleichstellung vollzogen, denn uneheliche Kinder seien von der Vollwaisenrente grundsätzlich nicht ausgenommen.

Die Kläger haben die - von dem LSG zugelassene - Revision eingelegt. Sie beantragen, das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen. Sie meinen, das Berufungsgericht habe sich zu Unrecht an die Entscheidung des 10. Senats des BSG (BSG 10, 108) gehalten und nicht beachtet, daß dort von einer im vorliegenden Falle nicht anwendbaren Rechtsgrundlage, nämlich dem Recht der Kriegsopferversorgung ausgegangen worden sei. Auf jenem Rechtsgebiet sei die hier umstrittene Frage - wie auch der 2. Senat des BSG (BSG 10, 189, 194) bereits ausgeführt habe - anders geordnet. Der weiter von dem Berufungsgericht geäußerte Gedanke, die unehelichen Kinder würden gegenüber den ehelichen bevorzugt, weil auf die volle Erfüllung des gesetzlichen Tatbestandes verzichtet werde, greife nicht durch. Den unehelichen Kindern werde lediglich aus einer unüberwindlichen Beweisnot geholfen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie gibt zu bedenken, daß die Auffassung der Revision darauf hinauslaufe, allen Kindern, deren Eltern unbekannt seien, z.B. den Findelkindern, Vollwaisenrente zu gewähren. Man könne sogar fragen, ob es bei der von dem 3. Senat des BSG verfolgten wirtschaftlichen Betrachtungsweise überhaupt noch richtig sei, unterschiedlich zu entscheiden, je nachdem, ob der Erzeuger eines unehelichen Kindes bekannt oder unbekannt sei; denn wirtschaftlich sei es doch wesentlicher, ob der Lebensunterhalt des Kindes bestritten werde oder nicht, gleichgültig, ob man den Erzeuger kenne. Zudem entbehre es der Logik anzunehmen, daß der Tod der Mutter, also der Wegfall nur einer Unterhaltspflichtigen, die Leistung für Vollwaisenrente auslösen solle. Art. 6 Abs. 5 GG sei nicht berührt. Die Folge, daß die Vollwaisenrente - wie sie die Beklagte meine - zu versagen sei, finde ihren Grund nicht in der Unehelichkeit, sondern darin, daß die Verantwortlichen nicht rechtzeitig für die Feststellung des außerehelichen Vaters gesorgt hätten.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision ist zulässig und begründet. Den Klägern sieht nach dem Tode ihrer Mutter die Hinterbliebenenrente in der für Vollwaisen maßgeblichen Höhe zu (§ 1269 Abs. 1 der Reich Versicherungsordnung - RVO -). Dafür ist erheblich, daß die Kläger unehelich geboren, ihre Vater - nach den von der Revision nicht beanstandeten tatrichterlichen Feststellungen - nicht bekannt sind und der Nachweis, ob diese Väter noch leben oder schon gestorben sind, nicht erbracht werden kann. Daß diese Umstände ausschlaggebend sind, hat der 5. Senat des BSG in seinem bereits erwähnten Urteil aus dem Sinn und Zweck des § 1269 Abs. 1 RVO geschlossen. An dieser Rechtsprechung ist entgegen der daran von dem Berufungsgericht und der Beklagten geübten Kritik festzuhalten.

Dieses Ergebnis - das ist der Kritik einzuräumen - ist nicht aus dem Begriff „Vollwaise“ zu finden. Vollwaise ist nach dem üblichen Sprachgebrauch ein „Kind, das beide Eltern durch den Tod verloren hat oder ein „elternloses Kind“ (BSG 16, 110). An diesen Begriff „Vollwaise“ knüpft das Gesetz normalerweise an. Deshalb hat es das BSG abgelehnt, ein uneheliches Kind stets schon dann als Vollwaise anzusehen, wenn seine Mutter gestorben ist (BSG 10, 190). Ob die Kläger in diesem Sinne Vollwaisen sind, ist ungewiß. Jedoch zwingen die Lebensinteressen, um deren Berücksichtigung willen der Gesetzgeber sich dieses Begriffs bedient, ihn für bestimmte, immer wiederkehrende typische Fallerscheinungen der Zielsetzung des Gesetzes gemäß zu interpretieren. Daran ist zu denken, wenn nicht - wie im Regelfall - als „Eltern“ zwei, sondern in typischer Situation (z.B. nach einer Adoption) mehr Personen oder (so beim unehelichen Kind) nur eine Person in Betracht kommen (BSG 16, 111). - Über den Beweggrund, der zur Unterscheidung zwischen Halbwaisen und. Vollwaisen geführt hat, geben die Materialien des Gesetzes zur Rentenversicherungsreform des Jahres 1957 Auskunft (Begründung zu § 1273 des RegEntw. - BT-Drucks. II 2437 S. 77 -). Der Gesetzgeber ging davon aus, daß Halbwaisen noch einen Unterhaltsanspruch gegenüber dem überlebenden Elternteil haben, bei Vollwaisen dagegen jede Unterhaltsquelle versiegt ist-(vgl. § 1615 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -). Diese Vorstellung liefert zwar nur eine grobe Leitlinie; sie stimmt nicht in allem mit der differenzierten bürgerlichrechtlichen Unterhaltsregelung überein; so erlischt z.B. der Unterhaltsanspruch des unehelichen Kindes gegen seinen Erzeuger nicht mit dem Tod des Verpflichteten (§ 1712 Abs. 1 BGB). Die Äußerung der Materialien gibt aber einen Anhalt für die Gesetzesauslegung, und zwar in der Richtung, daß die höhere Rente dann geleistet v/erden soll, wenn die Verhältnisse so liegen, daß normalerweise niemand mehr vorhanden ist, der für den Unterhalt des Kindes aufzukommen hat. Dies ist der Fall, wenn die Mutter eines unehelichen Kindes gestorben ist und man von dem leiblichen Vater nicht mehr weiß und nicht mehr wissen kann, als daß es ihn einmal gegeben hat. In solcher Situation bleibt nicht nur das Bild des individuellen Falles hinter den Vorstellungen des Gesetzgebers zurück - das wäre hinzunehmen, ohne daß davon die Gesetzesinterpretation beeinflußt werden dürfte -, vielmehr wird von einer Sachlage wie der vorliegenden eine ganze - allgemein zu bestimmende -  Gruppe von nichtehelichen Kindern betroffen; diese bliebe von der Vollwaisenrente überhaupt ausgeschlossen, muß aber bei folgerichtiger Weiterentwicklung des gesetzgeberischen Gedankens in den Genuß dieser Rechtswohltat kommen.

Dafür, daß es der Zweckbestimmung des Gesetzes entspricht, wenn es auf einen Sachverhalt wie den vorliegenden erstreck wird, ist ein Anhalt in der Entwicklung zu sehen, die das Recht der Kriegsopferversorgung genommen hat. Dort hatte der 10. Senat des BSG aus dem - inzwischen überholten - Wortlaut der §§ 45 und 46 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) gefolgert, daß ein Kind nur dann Vollwaise ist, wenn der leibliche Vater und die leibliche Mutter nicht mehr leben; eine versorgungsrechtliche Entschädigung scheide also aus, wenn der uneheliche Erzeuger immer unbekannt gewesen sei und das Kind insoweit keinen Unterhaltspflichtige verloren habe. In der Fassung, die § 46 BVG durch das Gesetz vom 27. Juni 1960 (BGBl I S. 453) erhalten hat, werden nunmehr die Begriffe „Halbwaise“ und „Vollwaise“ (statt bisher: „Waisen, deren Vater und Mutter nicht mehr leben“) verwendet, und zwar ebenso wie in § 1269 RVO ohne weitere Definition. Damit sollte der Überlegung Rechnung getragen werden, daß der den unehelichen Kindern durch Art. 6 Abs. 5 GG gewährte besondere Schutz eine „Vollwaisen-Versorgung auch für die Fälle“ gebiete, „in denen der Vater zwar möglicherweise noch lebt, aber nicht mehr feststellbar ist“ (Kurzprotokoll über die Sitzungen des BT-Ausschusses für Kriegsopfer- und Heimkehrerfragen III/Nr. 30/14 und Nrn. 31-33/44). Der Gesetzgeber ist also derjenigen Auffassung gefolgt, die dem Urteil des 3. Senats des BSG zugrunde liegt (Wilke, Bundesversorgungsgesetz § 45 Anm. III).

Mit der vom erkennenden Senat - in Übereinstimmung mit dem 3. Senat des BSG - vertretenen Lösung wird nicht die Beweislastverteilung umgekehrt. Die Beweisnot der uneheliche Kinder, deren Vater unbekannt und nicht zu ermitteln sind, ist allgemein, und der Nachweis daß die Unterhaltspflichtigen nicht mehr leben, ist typischerweise praktisch nicht möglich. Daran kann nicht vorbeigegangen werden. Wollte man gleichwohl an der vollen Erfüllung des wortgetreu verstandenen Tatbestands festhalten, so ging es dabei nicht um etwas, das in der Wirklichkeit noch Gegenstand richterlicher Überzeugungsbildung sein könnte. Die Vollwaisenrente für den fraglichen Kreis von Waisen wäre schlechthin in Frage gestellt. Das wäre mit dem gesetzgeberischen Vorhaben nicht zu vereinbaren. - Wenn auch in Fällen wie dem vorliegenden davon ausgegangen wird, daß der uneheliche Vater unbekannt und nicht zu ermitteln ist, so sollte der Versicherungsträger bei Bewilligung der Rente für Vollwaisen doch durch einen entsprechenden Widerrufsvorbehalt für die Möglichkeit Vorsorge treffen, daß der Vater später - wider alles Erwarten - bekannt wird.

Nach dem - zu Recht der Rentenversicherung - Ausgeführten ist das Berufungsurteil nicht aufrechtzuerhalten; das erstinstanzliche Urteil ist wieder herzustellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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