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4 RJ 43/67

Gründe

Die Klägerin hatte die erhöhte Witwenrente bezogen, weil sie ein waisenrentenberechtigtes Kind erzog (§ 1268 Abs. 2 Nr. 2 RVO). Der Sohn der Klägerin befand sich in Schulausbildung. Vom 01.10.1965 an setzte die Beklagte die Witwenrente auf den Satz von sechs Zehntel der Berufsunfähigkeitsrente herab (§ 1268 Abs. 1 RVO), weil der Sohn volljährig geworden war, die Klägerin also nicht mehr erziehungsberechtigt sei. Erst von Juli 1966 an, dem Monat, in dem die Klägerin das 45. Lebensjahr beendet hatte, gestand ihr die Beklagte die erhöhte Witwenrente wieder zu.

Mit der Klage hat die Klägerin die Verurteilung der Beklagten zur Leistung der höheren Rente auch für die Zwischenzeit begehrt. Das SG hat der Klage stattgegeben. Seines Erachtens beruht die Gesetzesfassung, „solange der Berechtigte ein waisenrentenberechtigtes Kind erzieht“, auf einem Redaktionsversehen. Der Ausdruck „erzieht“ sei aus älteren Vorschriften übernommen worden. Dort habe dieses Wort nicht den Sinn gehabt, das Recht auf Rente in seiner Dauer zu beschränken. Vielmehr sei Waisenrente früher überhaupt nur bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres gewährt worden. Infolgedessen sei auch dem Bezug der Witwenrente eine Zeitgrenze gesetzt gewesen; diese habe vor dem Ablauf des Erziehungsrechts gelegen. An eine Zeitschranke habe aber der Gesetzgeber nicht gedacht, als er den Begriff „erzieht“ in § 1268 RVO aufgenommen habe.

Die Beklagte hat Sprungrevision eingelegt.

Das Rechtsmittel ist begründet.

Nach § 1268 Abs. 2 Nr. 2 RVO hatte die Klägerin einen Anspruch auf die erhöhte Witwenrente nur, „solange“ sie ihren waisenrentenberechtigten Sohn „erzog“. Was das bedeutet, wird durch die gedankliche Verbindung mit dem Lebens- und Rechtsverhältnis zwischen der Witwe und ihrem Kinde verdeutlicht. Der in erster Linie im Familienrecht verwendete Begriff der Erziehung ist - wenigstens in seinen Grundzügen - auch für das Recht der RentVen zu beachten. Ob dieser Begriff hier ohne jede Abwandlung den gleichen Inhalt wie im bürgerlichen Recht hat, kann auf sich beruhen. Es besteht aber kein Anlaß für die Annahme, daß hier von Erziehung noch die Rede sein soll, wenn nach der bürgerlich-rechtlichen Ordnung davon nicht mehr zu sprechen wäre. Infolgedessen ist davon auszugehen, daß das Recht und die Pflicht der Klägerin zur Erziehung ihres Sohnes mit dem Eintritt seiner Volljährigkeit endeten (§§ 2, 1626, 1631 Abs. 1 BGB).

Der Überlegung des SG, daß der Ausdruck „erzieht“ versehentlich in die Fassung des § 1268 RVO eingegangen sei, kann man nicht zustimmen. Ein Redaktionsversehen müßte, um den Richter zur Gesetzeskorrektur zu ermächtigen, offensichtlich und aus dem Werdegang des Gesetzes zu erklären sein. Das trifft nicht zu. Die Entwicklungsgeschichte der Normen über Witwenrenten in den RentVen im allgemeinen und die Entstehungsgeschichte des § 1268 Abs. 2 RVO im besonderen lassen den Gedanken an einen redaktionellen Gesetzesfehler nicht aufkommen. Vielmehr wurde in der Vergangenheit dem Merkmal der Erziehung für die Gestaltung und Anwendung dieser Vorschrift eine besondere Tragweite beigemessen. Die Idee der „Erziehungswitwenrente“ wurde in der ArV 1938 durch das sogenannte Ausbaugesetz verwirklicht. Schon bald nach dieser ersten Regelung wurde gefragt, ob „Erziehung“ gleichzusetzen sei mit Besitz und Ausübung der elterlichen Gewalt, unabhängig davon, ob das Kind im Haushalt der Witwe lebe und von dieser betreut werde (dazu: RVA in AN 1939, 454), oder ob und in welcher Weise „Erziehung“ zu unterscheiden sei von der „Pflicht zur Sorge“ oder von der „tatsächlichen Sorge“ für das Kind, von „Unterhalten“ oder (Beisich-)“Haben“ des Kindes (vgl. Bothe, Deutsche Rentenversicherung 1939, 20, 21). Dieser verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten war sich der Gesetzgeber der Rentenversicherungsreform des Jahres 1957 bewußt. Er bediente sich beispielsweise nicht der Formel des § 41 Abs. 1 Buchst. c BVG, wonach Ausgleichsrente die Witwen erhalten, die für mindestens ein Kind „zu sorgen haben“ (in der Neufassung vom 20.01.1967 heißt es einfach „sorgen”; zur Änderung: BR-Drucks. 370/66, Begr. zu Nr. 36 [§ 41]; ferner BSG, SozR Nr. 3 zu § 40 BVG). Zur Neuregelung des ArV hatte die SPD-Fraktion im § 29 ihres Entwurfs (BT-Drucks. II/2314) vorgeschlagen, gegenüber anderen Witwen diejenige durch eine gesteigerte Leistung besser zu stellen, die „beim Tode des Versicherten Kinder unter 18 Jahren zu versorgen hat“. Zum Unterschied davon sah die Regierungsvorlage eine Lösung vor, welche die Mitte hielt zwischen der Forderung, daß die Witwe für das Kind wirklich und ständig betreuend tätig sein müsse, und dem Gedanken, daß es genüge, wenn sie bloß geistig-seelisch für die Entwicklung des Kindes wirke. Nach § 1272 des Regierungsentwurfs (BT-Drucks. II/2437) sollte die Leistungssteigerung davon abhängig sein, daß die Witwe ein waisenrentenberechtigtes Kind „im eigenen Haushalt erzieht“. Die Worte „im eigenen Haushalt“ wurden vom Ausschuß für Sozialpolitik gestrichen, weil nicht unterschieden werden sollte, ob das Kind im Haushalt der Witwe oder mit dieser beim Großvater aufgenommen sei. Damit wurde eine Fassung gewählt, die einer Verweisung auf die bürgerlich- und familienrechtliche Ordnung nahekommt (vgl. auch § 590 Abs. 2 Satz l RVO).

Schon früher ist mit Rücksicht auf das Tatbestandsmerkmal „erzieht“ das Bedenken erhoben worden, daß eine wortgetreue Gesetzesauslegung über den Zweck des Witwenrentenanspruchs hinausgehen könnte, nämlich dann, wenn die Witwe für ihr Kind tatsächlich nicht sorgt. War doch für die gesetzliche Regelung mit bestimmend, daß eine Witwe sich ohne Existenzsorgen ihren Aufgaben als Mutter solle widmen können; daran sollte sie möglichst nicht durch Lohnarbeit und Beschaffung der Unterhaltsmittel gehindert werden (vgl. RVA in AN 1939, 454). Daß auch die Zielsetzung des § 1268 Abs. 2 RVO auf solche und ähnliche wirtschaftliche Belange der Witwe abgestimmt ist, wird durch die übrigen Tatbestände dieser Vorschrift verdeutlicht. Von diesem Zweck her muß es um so mehr gerechtfertigt erscheinen, daß die wegen Erziehung eines Kindes gewährte Leistungszulage jedenfalls dann entfällt, wenn der gesetzliche Erziehungsauftrag der Witwe wegen Volljährigkeit des Kindes überhaupt erloschen und daher von ihr eine Verwertung der freigewordenen Arbeitskraft zu erwarten ist.

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