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10 RV 930/64

Gründe

Auf seinen Antrag auf Anerkennung eines Leberschadens wurde der Kläger am 27.10.1959 von 13.30 bis 14.20 Uhr versorgungsärztlich untersucht. Am 03.11.1959 fand eine weitere Untersuchung in der Zeit von 8.30 bis 11.40 Uhr statt. Für die Hin- und Rückfahrt von je 45 Minuten und die Dauer der Untersuchungen von 240 Minuten, insgesamt 5½ Stunden, forderte der Kläger von der Beklagten Ersatz von Verdienstausfall; er berechnete 5½ Stunden à 15 DM = 82,50 DM. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit der Begr. ab, daß der Kläger, der ein selbständige Tätigkeit als Helfer in Steuersachen - jetzt Steuerbevollmächtigter - ausübe, einen tatsächlichen Ausfall an Arbeitsverdienst im Sinne des § 32 VerwVG nicht überzeugend dargetan habe. Es handle sich bei ihm um eine Tätigkeit, die nicht an bestimmte Arbeitszeiten gebunden und nicht von Einzelaufträgen, die am gleichen Tage zu erledigen sind, abhängig sei. Der Widerspruch des Klägers hatte keinen Erfolg.

Das SG hat die angefochtenen Besch.e aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger eine Entschädigung für entgangenen Arbeitsverdienst in Höhe von 82,50 DM zu zahlen; es hat die Berufung zugelassen. Das LSG hat die BRD beigeladen und die Berufungen der Beklagten und der Beigeladenen gegen das Urt. des SG als unbegründet zurückgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Auffassung vertreten, daß das Einkommen, das der Kläger durch seinen Beruf als Steuerbevollmächtigter erziele, vor allem auf seiner höchstpersönlichen Arbeitsleistung beruhe, die naturgemäß mit Zeitaufwand verbunden sei. Daraus ergebe sich zwangsläufig, daß der Kläger auch einen Einkommensausfall erleide, wenn er durch versorgungsärztliche Untersuchungen Arbeitszeit versäume. Dem könne nicht entgegengehalten werden, daß er die versäumte Arbeitszeit abends oder auch sonntags nachholen könne; denn er müsse dann zusätzlich Freizeit für seine Berufsarbeit verwenden. Dem Grunde nach könne der Verdienstausfall nicht zweifelhaft sein; aber auch der Höhe nach könne er auf Grund allgemeiner Erfahrungssätze errechnet werden. Im Hinblick auf die in der allgemeinen Gebührenordnung für steuer- und wirtschaftsberatende Berufe vorgesehene Mindestgebühr pro Stunde in Höhe von 15 DM und bei Berücksichtigung des Netto-Einkommens des Klägers in Höhe von 36.000 DM sei der Verdienstausfall bei einer Zeitversäumnis von 5½ Stunden mit 82,50 DM angemessen berechnet.

Die vom LSG zugelassenen Revisionen der Beklagten und der Beigeladenen hatten Erfolg.

Wer einer Anordnung nach § 17 VerwVG - hier der Aufforderung, zu versorgungsärztlichen Untersuchungen zu erscheinen - Folge leistet, erhält nach § 32 VerwVG auf Antrag Ersatz der baren Auslagen und Entschädigung für entgangenen Arbeitsverdienst in angemessenem Umfange. Nach der VerwV Nr. 5 zu § 32 VerwVG aF, die auf die VerwV Nr. 2 Abschn. II Buchst. b zu § 24 BVG verweist, liegt bei Angehörigen freier Berufe ein erstattungsfähiger Ausfall an Arbeitsverdienst in der Regel dann nicht vor, wenn ein Betrieb kaufmännischer, gewerblicher, landwirtschaftlicher oder sonstiger Art trotz Abwesenheit des Inhabers weiterläuft, ohne daß die Annahme eines bezahlten Vertreters notwendig wird. Seit dem Ersten Neuordnungsgesetz zum BVG - 1. NOG - liegt nach der VerwV Nr. 2 Satz 5 zu § 32 VerwVG ein erstattungsfähiger Ausfall an Arbeitsverdienst in der Regel dann nicht vor, wenn ein Betrieb kaufmännischer, gewerblicher, landwirtschaftlicher oder sonstiger Art - zum Beispiel Kleinhandwerker, Heimarbeiter - trotz Abwesenheit des Inhabers weiterläuft, ohne daß die Aufnahme eines bezahlten Vertreters notwendig wird. Ihrem Inhalt nach sind die VerwVen zu § 32 VerwVG in der alten und neuen Fassung völlig gleich, soweit es sich um die Frage handelt, in welchen Fällen bei Angehörigen freier Berufe ein erstattungsfähiger Ausfall an Arbeitsverdienst in der Regel nicht angenommen werden kann. Wie das Berufungsgericht in dem angefochtenen Urt. allerdings zutreffend ausgeführt hat, sind die VerwVen zu Ges.en oder RechtsVOen für die Gerichte nicht bindend; sie enthalten auch keine „authentische Auslegung“ gesetzlicher Vorschriften. Ihnen ist vielmehr nur zu entnehmen, wie nach Ansicht der Verwaltung das Ges. auszulegen ist. Gegenstand der Auslegung ist allein der „objektivierte Wille“ des Gesetzgebers, wie er sich aus dem Wortlaut der gesetzlichen Vorschriften und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den die Vorschriften hineingestellt sind (BSG 1, 272, 274; 4, 165, 167; 6, 175, 177; 6, 252, 254; 10, 202, 204; vergleiche auch BVerfG 1, 299, 312). Es kommt somit für die Entsch. des vorliegenden Rechtsstreits allein darauf an, wie die gesetzliche Vorschrift des § 32 VerwVG selbst nach ihrem Wortlaut und dem Sinnzusammenhang auszulegen ist.

Die Vorinstanzen haben bei der Anwendung dieser Vorschrift im vorliegenden Falle verkannt, daß nicht schon allein deswegen eine Entschädigung zu gewähren ist, weil der Kläger Zeit versäumt hat, sondern nur dann, wenn ihm ein „Arbeitsverdienst entgangen ist“. Es geht daher entgegen der Auffassung des LSG schon nach dem Wortlaut des § 32 VerwG nicht an, bei einem freiberuflich Tätigen ohne weiteres einen entgangenen Arbeitsverdienst anzunehmen, weil er durch eine versorgungsärztliche Untersuchung Zeit versäumt hat, in der er sonst regelmäßig gearbeitet hätte. Das Gesetz verlangt vielmehr eindeutig, daß ihm durch die Zeitversäumnis auch tatsächlich ein Arbeitsverdienst entgangen ist, den er ebenso wie ein unselbständig Tätiger in geeigneter Form nachzuweisen hat. Auch der Sinn des § 32 VerwVG gebietet eine entsprechende Auslegung. Bei versorgungsärztlichen Untersuchungen, die  -gerade wie beim Kläger - häufig allein im Interesse des Beschädigten erfolgen, der eine Versorgung begehrt, muß dem Betreffenden zugemutet werden, die für die Untersuchungen benötigte Zeit grundsätzlich ohne Entschädigung aufzubringen, es sei denn, daß er tatsächlich im einzelnen nachweisen kann, daß ihm sein Arbeitsverdienst entgangen ist. Insoweit liegen die Verhältnisse bei der Entschädigung nach § 32 VerwVG anders als bei der Entschädigung der ehrenamtlichen Richter und der Zeugen oder Sachverständigen. Nach § 2 Abs. 1 des Ges. über die Entschädigung der ehrenamtlichen Richter vom 26.09.1963 - BGBl I 754 - werden die ehrenamtlichen Richter grundsätzlich schon für ihre Zeitversäumnis entschädigt; ihre Entschädigung kann jedoch höher werden, wenn ihnen besonderer Verdienstausfall entstanden ist. Bei ehrenamtlichen Richtern, die freiberuflich bei üblicherweise hohem Einkommen tätig sind, kann daher schon nach der Lebenserfahrung der höchstzulässige Stundensatz des Ges. über die Entschädigung der ehrenamtlichen Richter zugebilligt werden (vgl. hierzu auch LSG Rheinland-Pfalz in Breith. 1962, 266). Auch nach dem Gesetz über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen idF vom 26.09.1963 - BGBl I 758 - werden die Zeugen und Sachverständigen grundsätzlich für die versäumte Zeit entschädigt, wobei sich die Höhe der Entschädigung allerdings nach dem Verdienstausfall richtet (vgl. OLG Hamm, Just. VerwBl 1964, 18); für die Zeitversäumnis erhalten aber die Zeugen auf jeden Fall nach § 2 Abs. 3 des Gesetzes die nach dem geringsten Stundensatz bemessene Entschädigung, auch wenn ihnen kein Arbeitsverdienst entgangen ist. Diese Regelung beruht offensichtlich auf der Erwägung, daß die ehrenamtlichen Richter, die Zeugen und die Sachverständigen von den Gerichten zur Durchführung ihrer Aufgaben benötigt werden und der Staatsbürger durch die Ges.e gezwungen ist, als ehrenamtlicher Richter, Zeuge oder Sachverständiger den Anordnungen der Gerichte Folge zu leisten. In diesen Fällen hat das Ges. daher folgerichtig eine Entschädigung auch dann zugebilligt, wenn den betreffenden Personen kein Verdienstausfall entstanden ist. Während in all diesen Fällen der Staat von seinem Bürger etwas verlangt, das zur Versäumung von Arbeitszeit führt, ist es in den Fällen der §§ 17, 32 VerwVG umgekehrt, weil der Bürger vom Staat nach Maßgabe des BVG und seiner DurchführungsVOen Versorgung begehrt. Allerdings soll ihm nach der eindeutigen Vorschrift des § 32 VerwVG kein Schaden dadurch entstehen, daß er wegen versorgungsärztlicher Untersuchungen oder sonstiger für die Durchsetzung seiner Ansprüche erforderlichen Anordnungen der Versorgungsbehörden einen Ausfall an Arbeitsverdienst hat; dagegen soll ihm nicht allein schon eine Entschädigung für die Zeitversäumnis zugebilligt werden. Es muß also dem Kläger als freiberuflichem Steuerbevollmächtigten entgegen der Auffassung des LSG zugemutet werden, daß er ohne Entschädigung die Zeit für die durch seinen Versorgungsantrag erforderlichen Untersuchungen aufbringt und nur dann eine Entschädigung verlangen kann, wenn er nachweist, daß ihm tatsächlich ein Verdienstausfall = entgangener Arbeitsverdienst entstanden ist. Insoweit stehen die VerwVen zu § 32 VerwVG im Einklang mit dem Ges., wobei allerdings nicht nur durch Bestellung eines bezahlten Vertreters ein Verdienstausfall eintreten kann, sondern gegebenenfalls auch auf andere Weise, die aber jeweils von dem Antragsteller darzutun wäre. Die Erwägung des Berufungsgerichts, daß der Kläger durch die versorgungsärztlichen Untersuchungen die versäumte Zeit abends oder am Wochenende nacharbeiten müsse, kann gegenüber dem Wortlaut und Sinn des § 32 VerwVG keine rechtliche Bedeutung haben. Im übrigen würde zum Beispiel einem Beamten oder Angestellten, dem durch die versorgungsärztliche Untersuchung kein Arbeitsverdienst entgangen ist, ebenfalls keine Entschädigung gewährt werden können, obwohl er regelmäßig die durch die Untersuchung liegengebliebene Arbeit zu einer anderen Zeit nachholen muß.

Wie bereits ausgeführt, soll nach § 32 VerwVG nur der tatsächlich entstandene Verdienstausfall und nicht allein schon die Zeitveräumnis entschädigt werden. Eine ähnliche Rechtslage besteht bei zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen wegen eines Verkehrsunfalls. Auch hier wird nur der tatsächlich durch den Verkehrsunfall entstandene Verdienstausfall entschädigt, soweit er nachgewiesen ist. Der BGH hat zur Frage des Verdienstausfallschadens eines Steuerberaters bei nur kurzfristiger unfallbedingter Arbeitsunfähigkeit (vgl. VersR 1966, 957) ausgeführt, daß der Umstand allein, der Kläger sei zeitweise völlig oder beschränkt arbeitsunfähig gewesen, nicht zur Annahme ausreiche, daß ihm auch tatsächlich ein Verdienstausfall entstanden ist; vielmehr habe sich unfallbedingt allenfalls die Arbeitszeit verschoben. Entscheidend ist nach Ansicht des BGH, wie sich die Einkommensverhältnisse des im freien Beruf tätigen Klägers ohne den Unfall entwickelt haben würden. Ein Schaden könne deshalb entfallen, weil die Geschäfte und Tätigkeiten, an deren Vornahme der Verletzte durch seine kurzfristige Arbeitsunfähigkeit gehindert war, später nachgeholt werden konnten und nachgeholt worden sind (vgl. auch zur Berechnung des unfallbedingten Verdienstausfallschadens eines selbständigen Zahntechnikermeisters BGH in VersR 1966, 445). Mit diesem Hinweis auf die Rechtspr. des BGH zum Verkehrshaftpflichtrecht soll selbstverständlich nicht zum Ausdruck gebracht werden, daß Ansprüche aus einem Haftpflichtschaden etwa dem Anspruch des Klägers nach § 32 VerwVG gleichen. Jedenfalls aber sind auch nach dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift die Gesichtspunkte des BGH zum Verdienstausfall eines freiberuflich Tätigen von beachtlicher Bedeutung, weil insoweit der Ausgangspunkt der gleiche ist, nämlich daß nur tatsächlich entgangener Arbeitsverdienst entschädigt werden kann.

Das Berufungsgericht hat somit den § 32 VerwVG dadurch verletzt, daß es - ebenso wie das SG - dem Kläger eine Entschädigung in Höhe von 82,50 DM für die Zeitversäumnis von 5½ Stunden durch die versorgungsärztlichen Untersuchungen mit der Begründung zugesprochen hat, daß er durch die Untersuchungen einen Ausfall an normaler Bürozeit und damit im Ergebnis ohne weiteres einen Verdienstausfall gehabt hat. Auf Grund seiner Rechtsauffassung hat das LSG allerdings nicht nachgeprüft, ob der Kläger etwa tatsächlich durch die beiden versorgungsärztlichen Untersuchungen nachweisbar einen Verdienstausfall gehabt hat. Der Kläger ist von der Versorgungsverwaltung aufgefordert worden, einen solchen Nachweis zu erbringen, er hatte aber hierzu nach seinem Obsiegen in der ersten Instanz im Berufungsverfahren keinen Anlaß, zumal vom LSG eine entsprechende Auflage auch nicht erteilt worden ist. Es muß daher dem Kläger noch Gelegenheit gegeben werden, gegebenenfalls einen solchen Nachweis in der Tatsacheninstanz zu erbringen, damit das LSG die nach der Rechtsauffassung des erkennenden Senats notwendigen tatsächlichen Feststellungen treffen kann. Der Senat konnte daher in der Sache selbst nicht endgültig entscheiden; vielmehr mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen werden.

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