11 RA 288/64
Aus den Gründen
Die Klägerin, geboren 1911, begehrt von der Beklagten Hinterbliebenenrente nach ihrem früheren Ehemann H., der am 17.10.1960 verstorben ist. Ihre im Jahre 1935 geschlossene Ehe mit dem Versicherten H. wurde im Februar 1959 aus der Alleinschuld des Versicherten geschieden. Bereits vor der Scheidung hatte die Klägerin durch Vergleich auf Unterhaltsansprüche gegen H. mit Ausnahme des Notbedarfs verzichtet. H. bezog seit Februar 1955 Rente wegen Berufsunfähigkeit, die zuletzt 259 DM monatlich betrug; er erhielt davon seit 1.7.1960 189,20 DM ausgezahlt, im übrigen war die Rente teils wegen Unterhaltsansprüchen eines Sohnes der Eheleute gepfändet, teils von der AOK wegen einer Forderung gegen H. in Anspruch genommen. Die Klägerin war von September 1956 bis Januar 1961 bei der Firma S. gegen ein Entgelt von 230 bis 280 DM monatlich beschäftigt.
Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin ab. Das SG verurteilte die Beklagte zur Gewährung von Rente an die Klägerin vom 1.11.1960 an. Das LSG wies die Berufung der Beklagten zurück.
Die Revision der Beklagten ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1; 164 SGG); sie ist auch begründet. Das LSG hat zu Unrecht den Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente bejaht…
Es ist unstreitig, daß die beiden ersten Alternativen des § 42 Satz 1 AVG im vorliegenden Fall wegen des Unterhaltsverzichts der Klägerin nicht gegeben sind; der in dem Unterhaltsverzicht vorbehaltene Fall des Notbedarfs hat nicht vorgelegen. Entgegen der Ansicht des LSG sind jedoch auch die Voraussetzungen der letzten Alternative des § 42 Satz 1 AVG nicht erfüllt. H. hat der Klägerin nicht „im letzten Jahr vor seinem Tode“ Unterhalt geleistet.
Nach den Feststellungen des LSG, die von der Beklagten mit der Revision nicht angegriffen und deshalb für das BSG bindend sind (§ 163 SGG), hat H. von April oder Mai 1960 an bis zu seinem Tode - 17.10.1960 - monatlich 50 DM an die Klägerin gezahlt. Das LSG hat diese Zahlungen zu Recht als „Unterhalt“ für die Klägerin angesehen; … (wird ausgeführt).
Das LSG hat es aber zu Unrecht für den Rentenanspruch nach § 42 Satz 1 AVG, letzte Alternative, im vorliegenden Fall genügen lassen, daß H. Unterhalt an die Klägerin nur während sechs bis sieben Monaten vor seinem Tode gezahlt hat. Dem LSG kann nicht darin gefolgt werden, daß die Voraussetzungen dieser Alternative „im Regelfall“ auch durch Leistungen erfüllt seien, die sich zeitlich auf weniger als ein Jahr erstrecken; dies gilt auch nicht mit der nach den Urteilsgründen vom LSG offenbar selbst für erforderlich gehaltenen Einschränkung, daß diese Leistungen in Verbindung mit sonstigen Umständen den Schluß zulassen müssen, der Versicherte habe beabsichtigt, weiterhin Unterhalt zu leisten, und daß der Wegfall der Leistungen nicht im Willen des Versicherten begründet gewesen sein dürfe.
Die Rente nach § 42 AVG hat Unterhaltsersatzfunktion, sie wird gewährt im Hinblick darauf, daß die frühere Ehefrau durch den Tod des Versicherten Rechtsansprüche auf Unterhalt (§ 42 Satz 1 AVG, 1. und 2. Alternative) oder - ohne Rechtspflicht- gewährte Unterhaltsleistungen verliert; für die ersten beiden Alternativen wird im Gesetz auf die „Zeit seines - des Versicherten - Todes“, für die letzte Alternative auf die Verhältnisse „im letzten Jahr vor seinem Tode“ abgestellt. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG meint das Gesetz mit der „Zeit seines Todes“ i.S. der beiden ersten Alternativen den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten (vgl. z.B. Urt.e des Senats vom 23 6.1964, SozR Nr. 22 zu § 1265 RVO und vom 15.2.1966, Soz. Nr. 32 zu § 1265 RVO; Urt. vom 16.6.1961, BSG 14, 255 ff.), weil nur bei dieser Auslegung verhindert wird, daß vorübergehende Besonderheiten in den unterhaltsrechtlichen Beziehungen für die Gewährung oder Versagung der Hinterbliebenenrente den Ausschlag geben. Dieser Erwägung ist für die letzte Alternative des § 42 Satz 1 AVG im Gesetz selbst dadurch Rechnung getragen, daß Unterhaltsleistungen des Versicherten den Anspruch auf Rente nur dann auslösen, wenn sie „im letzten Jahr vor seinem Tode“ erbracht worden sind. Das bedeutet, daß diese Zahlungen sich in der Regel auf den vollen Jahreszeitraum vor dem Tode des Versicherten erstrecken müssen (vgl. auch die den gleichen Sachverhalt in der UV betreffende Vorschrift des § 592 Abs. 1 RVO i.d.F. des UVNG vom 30.4.1963; dort ist insoweit die Rente davon abhängig gemacht, daß der durch Unfall „Verstorbene Unterhalt „wenigstens während des letzten Jahres vor seinem Tode“ geleistet hat). Nur diese Auslegung verhindert - ebenso wie die Berücksichtigung des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes in den beiden ersten Alternativen - auch bei der letzten Alternative, daß die Entscheidung über die Gewährung oder Versagung der Rente durch Umstände bestimmt wird, die nicht auf einen Dauerzustand in den Verhältnissen der Beteiligten schließen lassen und objektiv nicht feststellbar sind. Diese Auslegung steht nicht im Widerspruch zu der „Unterhaltsersatzfunktion“ der Hinterbliebenenrente, sondern sie wird im Gegenteil durch diese Funktion geboten; nur Leistungen, die regelmäßig über die ganze Dauer des im Ges. genannten Jahreszeitraums erbracht worden sind, rechtfertigen objektiv die Annahme, der Versicherte hätte auch weiterhin Unterhalt geleistet, die frühere Ehefrau habe sich daher für die Zukunft auf diesen Unterhalt einstellen dürfen; nur dann erscheint es deshalb gerechtfertigt, der Ehefrau bei Wegfall dieser Zahlungen infolge des Todes des Versicherten „Ersatz“ durch die Gewährung von Witwenrente zukommen zu lassen. Für die Entscheidung darüber, ob die Voraussetzungen der letzten Alternative gegeben sind, kommt es dabei nur auf die tatsächliche Unterhaltsgewährung in dem Jahr vor dem Tod des Versicherten an; es ist unerheblich, ob der Versicherte, falls er nicht gestorben wäre, weiterhin Unterhalt hätte zahlen können; es kommt ferner nicht darauf an, ob der Versicherte - was sich vielfach gar nicht feststellen läßt - die Absicht gehabt hat, auch weiterhin Unterhalt zu zahlen.
Unterhaltsleistungen während eines Zeitraums von weniger als einem Jahr vor dem Tode des Versicherten können nach der Rechtsprechung des BSG nur in besonderen Ausnahmefällen den Anspruch auf die Hinterbliebenenrente begründen. Ein solcher Ausnahmefall liegt vor, wenn der Tod des Versicherten vor Ablauf eines Jahres seit der Scheidung eingetreten ist (vgl. BSG 14, 255 ff.; 20, 252 ff.). Hier liegt jedoch zwischen der Scheidung - 6.2… - und dem Tod des Versicherten - 17.10.1960 - ein Zeitraum von mehr als einem Jahr - 20 Monate -; im letzten Jahr vor seinem Tode - von Oktober 1959 bis Oktober 1960 - hat der Versicherte nur für die Zeit von April oder Mai bis Oktober 1960, also für die letzten sechs bis sieben Monate vor seinem Tode, Unterhalt an die Klägerin gezahlt, nicht für die Zeit von Oktober 1959 bis April oder Mai 1960 - und ebenso auch nicht für die Zeit von der Scheidung im Februar 1959 bis Oktober 1959 -. Ein weiterer Ausnahmefall ist in BSG 12, 279 ff. angenommen worden; rein zeitlich gesehen liegt der Sachverhalt hier zwar ähnlich,; auch in jenem Fall hat die Zeit zwischen der Scheidung und dem Tod mehr als ein Jahr - dort etwa 17 Monate - betragen, der Versicherte hat in jenem Fall an die frühere Ehefrau Unterhalt nur in den letzten vier Monaten vor seinem Tode gezahlt; das BSG hat aber in jenem Fall „Besonderheiten“ des dort zu beurteilenden Sachverhalts festgestellt, es hat darauf abgehoben, daß „außergewöhnliche Umstände, die der Versicherte weder beeinflussen noch gar beheben konnte“ - nämlich sein Aufenthalt in der SBZ in den ersten 13 Monaten nach der Scheidung -, ihn schlechthin gehindert haben, die Unterhaltszahlungen an die Klägerin früher aufzunehmen, und daß der Versicherte unmittelbar nach Wegfall dieses „außergewöhnlichen Hinderungsgrundes“ die Zahlungen an die frühere Ehefrau - mit der er wieder zusammen gelebt hat - aufgenommen und bis zu seinem Tode ununterbrochen beibehalten habe; auch in jenem Urt. sind also als maßgebend die Verhältnisse während des Jahres vor dem Tode des Versicherten angesehen worden, nicht aber die Verhältnisse, die voraussichtlich bestanden haben würden, falls der Versicherte nicht gestorben wäre; die „Absicht, regelmäßig und auf Dauer Unterhalt gewähren zu wollen“, die - beiläufig - in jenem Urt. erwähnt ist, ist erkennbar nicht für sich allein als maßgebend angesehen worden, sondern nur im Zusammenhang mit den weiteren „Besonderheiten“ und „außergewöhnlichen Umständen“ jenes Falles. Solche „Besonderheiten“ haben aber im vorliegenden Fall nicht vorgelegen. Die Voraussetzungen der letzten Alternative des § 42 Satz 1 AVG sind hier deshalb auch ausnahmsweise nicht erfüllt.