11 RA 304/65
Gründe I:
Frau H. (H.) - die Beigeladene Nr. 2) - beantragte im Dezember 1961 eine Witwenrente nach ihrem im gleichen Jahr verstorbenen Ehemann. Die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) lehnte den Antrag durch Bescheid vom 9. Mai 1962 ab, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei. Hiergegen erhob der Landkreis M., der Frau H. seit September 1961 unterstützte, Klage gemäß § 1538 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Das Sozialgericht (SG) lud Frau H. und die Landesversicherungsanstalt (LVA) Hessen (Beigeladene Nr. 1) zum Rechtsstreit bei. Es wies die Klage durch Urteil vom 26. Mai 1964 ab. Frau H. legte Berufung ein und brachte Versicherungsunterlagen bei. Diese ergaben nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG), daß der Ehemann als selbständiger Landwirt in der sowjetischen Besatzungszone von November 1946 bis März 1960 Pflichtbeiträge zum sowjetzonalen Versicherungsträger geleistet hatte. Daraufhin bewilligte die LVA Hessen durch Bescheid vom 29. April für Frau H. Witwenrente ab August 1961. Sie berechnete sie nach der neuen Rentenformel und vergleichsweise nach Art. 2 § 42 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG). Dabei erwies sich die Vergleichsrente als die höhere Rente. Frau H. beanstandete die Berechnung nach der neuen Rentenformel. Bei dieser hatte die LVA die in der Anlage 5 zu § 22 des Fremdrentengesetzes (FRG) bezeichneten Arbeitsentgelte für landwirtschaftliche Arbeiter der Leistungsgruppe 1 (Anlage 1 A 2) als Arbeitsentgelte des Ehemannes H. ab 1946 zugrunde gelegt. Frau H. beanspruchte eine Erhöhung der Tabellenarbeitsentgelte um 20 % auf Grund des Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG (a.F.) für die Zeit bis 1956. Durch Urteil vom 15. Juli 1965 entschied das LSG nach ihrem Antrag: Es hob das Urteil des SG auf und verurteilte die LVA, unter Abänderung ihres Bescheides, die Rente „unter Berücksichtigung einer Erhöhung des Tabellenarbeitsentgelts“ für die Jahre 1946 bis 1956 zu gewähren. Das LSG nahm an, daß der Bescheid der LVA nach § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des Verfahrens geworden sei. Es schloß aus § 15 Abs. 1 Satz 2 FRG, daß der Ehemann H. so zu behandeln sei, als ob er in der Bundesrepublik unselbständig beschäftigt worden wäre; da landwirtschaftliche Arbeiter der Leistungsgruppe 1 üblicherweise Sachbezüge erhielten, müsse er ihnen auch insoweit gleichgestellt werden. Deshalb sei das Arbeitsentgelt des Ehemannes H. hier nach Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG zu erhöhen, auch wenn die Vorschrift bei Sachbezügen an sich die Gewährung durch Dritte (Arbeitgeber) voraussetze.
Mit der zugelassenen Revision beantragte die LVA,
- das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung zurück zuweisen.
Sie rügte zuletzt nur noch eine Verletzung des Art. 2 § 55
Die Beklagte hielt diese Vorschrift ebenfalls für verletzt.
Der Kläger (Landkreis) beantragte,
- die Revision zurückzuweisen.
Frau H. äußerte sich im Revisionsverfahren nicht.
Gründe II.
Die Revision der LVA ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG) und begründet.
Verfahrensrechtlich bestand zwar für das LSG - wenn nicht nach § 96 SGG, dann nach § 75 Abs. 5 SGG - die Möglichkeit zur Verurteilung der LVA (vgl. Urteil des 12. Senats vom 25. März 1966, 12 RJ 600/62). Sachlich-rechtlich ist aber die Verurteilung nicht gerechtfertigt gewesen.
Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG ist hier nicht anwendbar. In der Fassung vor dem Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 - nach der der Anspruch für die Zeit vor dem 1. Juli 1965 zu beurteilen ist - setzt diese Vorschrift die Gewährung von freiem Unterhalt oder von Sachbezügen neben Barbeträgen während einer versicherungspflichtigen Beschäftigung in landwirtschaftlichen Unternehmen, Heimen, Krankenanstalten oder in der Hauswirtschaft voraus. Die neue Fassung verlangt, daß der Versicherte mindestens 5 Jahre für eine versicherungspflichtige Beschäftigung neben Barbezügen im wesentlichen Umfang Sachbezüge erhalten hat. Ihrem Wortlaut nach galt und gilt die Vorschrift demnach nur für Versicherte in abhängiger Beschäftigung. Das hat auch das LSG nicht verkannt.
Entgegen der Ansicht des LSG läßt sich aber Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG hier nicht deshalb dennoch anwenden, weil § 15 Abs. 1 Satz 2 FRG eine unselbständige Beschäftigung des Ehemannes H. in der Bundesrepublik unterstelle. § 15 Abs. 1 FRG stellt in Satz 1 fremde Beitragszeiten den bundesrechtlichen Beitragszeiten und in Satz 2 die zugrundeliegende (abhängige) Beschäftigung oder (selbständige) Tätigkeit einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit im Bundesgebiet gleich. Damit werden bestimmte Beschäftigungen anderen Beschäftigungen bzw. bestimmte Tätigkeiten anderen Tätigkeiten gleichgestellt, nicht aber ist normiert, daß bestimmte Beschäftigungen wie bestimmte Tätigkeiten oder Tätigkeiten wie Beschäftigungen zu behandeln sind. Das widerspricht der ganzen Systematik des FRG. Dieses Gesetz differenziert Rechtsfolgen mehrfach (vgl. z.B. §§ 16, 23 FRG und BSG 23, 69) danach, ob eine abhängige Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit ausgeübt worden ist; auch § 15 Abs. 1 Satz 2 FRG geht davon aus, die Vorschrift hebt die Unterschiede zwischen Beschäftigungen und Tätigkeiten nicht auf. Auf Grund des § 15 Abs. 1 Satz 2 FRG darf deshalb nicht eine unselbständige Beschäftigung des Ehemannes H. in der Bundesrepublik unterstellt werden; auch keine andere Vorschrift des FRG bietet dafür eine Handhabe (vgl. BSG 19, 97, 99).
Die Anwendung des Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG ist ferner nicht über § 23 FRG möglich. § 23 bestimmt, daß die Tabellenwerte bei den pflichtversicherten Selbständigen (also auch bei dem Ehemann H.) unter Berücksichtigung der Beitragsleistung in entsprechender Anwendung des § 22 FRG zu ermitteln sind. § 22 legt die Tabellenwerte für die abhängig Beschäftigten fest; in seiner neuen Fassung durch das RVÄndG (Ergänzung des Abs. 1 durch einen weiteren Satz) schreibt § 22 FRG nun die entsprechende Anwendung des Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG vor. Daraus folgt aber nicht, daß Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG in der Fassung vor oder nach dem RVÄndG auch bei pflichtversicherten Selbständigen „entsprechend“ anzuwenden war. Das scheitert daran, daß Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG nicht nur nach seinem Wortlaut, sondern auch seinem Sinn und Zweck nach die Gewährung von Sachbezügen durch Dritte (Arbeitgeber) voraussetzt, weil gerade Sachbezüge bei Beitragsleistung oft nicht oder zu gering bewertet wurden; nach der neuen Rentenformel würde das die persönliche Rentenbemessungsgrundlage und damit die Rentenhöhe mindern; diese Nachteile für Arbeitnehmer mit Sachbezügen soll Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG verhindern oder doch ausgleichen. Da pflichtversicherte Selbständige keine Sachbezüge von Dritten erhalten haben, sind ihnen solche Nachteile nicht entstanden.
Auf die Revision der LVA ist demnach das Urteil des LSG aufzuheben. Die von der beigeladenen Frau H. gegen den Bescheid der LVA gerichtete Klage ist abzuweisen. Das Urteil des SG ist nicht besonders aufzuheben, es betrifft den Bescheid der Beklagten vom 9. Mai 1962; der Streit um die Rechtmäßigkeit dieses Bescheides hat sich nach den letzten Anträgen der Beteiligten im Berufungsverfahren von selbst erledigt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.