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GS 5/61

Aus den Gründen

Der Anrufung des Großen Senats liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Die Ehe der Klägerin war 1938 geschieden und der Ehemann allein für schuldig erklärt worden. Im August 1940 war er durch Anerkenntnisurteil zur Zahlung eines Unterhalts von monatlich 30,00 RM und im Dezember 1940 durch streitiges Urteil zur Zahlung eines weiteren Unterhaltsbetrags von monatlich 20,00 RM verurteilt worden. Die Vollstreckungstitel wurden nicht auf DM umgestellt und auch nicht beseitigt. Der geschiedene Ehemann der Klägerin hatte sich wieder verheiratet und von 1943 bis zu seinem Tode im Jahre 1948 Invalidenrente bezogen.

Die Klägerin beantragte 1957 als frühere Ehefrau des Versicherten Rente. Die beklagte LVA lehnte diesen Antrag ab, weil der Versicherte zur Zeit seines Todes der Klägerin gegenüber nicht unterhaltspflichtig gewesen sei. Das SG hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente zu zahlen. Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Es ist der Ansicht, das bis zum Tode des Versicherten gültige Anerkenntnisurteil stelle als Vollstreckungstitel ohne Rücksicht auf das Bestehen eines materiell-rechtlichen Anspruchs einen sonstigen Grund im Sinne des § 1265 RVO dar, wie der 1. Senat des BSG in seinem Urteil vom 29.07.1958 (BSG 8, 24) entschieden habe.

Der für die Entscheidung des Rechtsstreits im Revisionsverfahren zuständige 4. Senat teilt nicht die Auffassung des Berufungsgerichts; er will vielmehr nur materiell-rechtliche Ansprüche als „sonstige Gründe“ anerkennen und möchte mit dieser Begründung das Urteil des LSG aufheben und die Sache an dieses Gericht zurückverweisen. Er sieht sich daran aber durch das angeführte Urteil des 1. Senats gehindert. Der 4. Senat hat deswegen den Gr. S. des BSG angerufen und ihm folgende Rechtsfragen zur Entscheidung vorgelegt:

1.Kann ein vollstreckbarer Unterhaltstitel, insbesondere ein Anerkenntnisurteil, als solcher ein sonstiger Grund i.S. des § 1265 RVO sein?
2.Gilt dies auch dann, wenn der nach jenem Titel zu leistende Unterhalt nicht über den nach den Vorschriften des EheG ohnehin zu leistenden Unterhalt hinausging?
3.Ist jener Titel ein sonstiger Grund auch dann noch, wenn der Versicherte zur Zeit seines Todes mangels hinreichenden Einkommens nicht mehr nach dem EheG zur Unterhaltsleistung verpflichtet war?

Der 4. Senat bezieht sich zur Begründung seiner Fragen und seiner Rechtsauffassung auf seine Urteile vom 27.11.1959 (BSG 11, 99) und vom 30.06.1960 (BSG 12, 257). Danach schließt er aus dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte des § 1265 RVO, daß unter „sonstigen Gründen“ nur solche des materiellen Rechts zu verstehen seien (1. Frage). In dem Urteil vom 30.06.1960 hatte er ferner ausgeführt, daß ein gerichtlicher Vergleich in einem Unterhaltsprozeß trotz seiner materiell-rechtlichen Wirkungen insoweit kein „sonstiger Grund“ sei, als er nicht über die aus dem EheG ohnehin sich ergebende Unterhaltspflicht hinausgehe. Dieselbe Einschränkung soll nach dem Vorlagebeschluß auch für Vollstreckungstitel gelten, wenn man sie nicht schon grundsätzlich als sonstigen Grund ablehnen wolle (2. Frage). Schließlich zeige sich auch vom Ergebnis her, daß die Anerkennung eines Vollstreckungstitels dem Sinn des Ges. widerspreche und grob unbillig sei. Sei der Versicherte zur Zeit der Ehescheidung nach dem EheG seiner früheren Ehefrau gegenüber unterhaltspflichtig gewesen und sei diese Unterhaltspflicht zur Zeit seines Todes weggefallen wegen seiner veränderten Einkommensverhältnisse, dann dürfe die geschiedene Ehefrau nicht völlig verschieden behandelt werden, je nachdem ob die Unterhaltspflicht seinerzeit ohne Rechtsstreit geklärt oder durch rechtskräftigen Titel festgestellt worden sei, oder je nach der Art dieses Titels, ob streitiges oder unstreitiges Urteil oder Vergleich (3. Frage).

Die Vorlage an den Großen Senat ist zulässig. Der Große Senat hat die erste und zweite Frage bejaht, die dritte Frage - teils einschränkend, teils erweiternd - dahin beantwortet, daß ein Vollstreckungstitel ausnahmsweise dann kein „sonstiger Grund“ mehr ist, wenn der Versicherte „zur Zeit seines Todes“ die Wirkungen des Titels nach den Grundsätzen der §§ 323, 767 ZPO hätte beseitigen können.

Der § 1265 RVO, auf dessen Auslegung sich die vorgelegten Fragen beziehen, hat folgenden Wortlaut:

„Einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten geschieden, für nichtig erklärt oder aufgehoben ist, wird nach dem Tode des Versicherten Rente gewährt, wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat.“

Der 1. Senat, von dessen Entscheidung der 4. Senat abweichen will, ist mit diesem und der herrschenden Lehre der Meinung, daß ein Vollstreckungstitel einen von dem materiell-rechtlichen Anspruch verschiedenen Vollstreckungsanspruch begründe, der sich gegen den Staat richte, also keine Rechte und Pflichten zwischen Gläubiger und Schuldner erzeuge. Er bewirke aber, daß der Berechtigte von den staatlichen Organen jederzeit die Verwirklichung des Leistungsbefehls verlangen kann. Liege ein solcher Vollstreckungstitel vor, so sei eine „konkrete Verpflichtung“ des Schuldners zur Unterhaltsleistung gegeben. Sei der Titel bis zum Tode rechtsgültig geblieben, so liege ein „sonstiger Grund“ i.S. der Vorschriften der RentV vor (BSG 8, 24).

Der Große Senat geht ebenfalls davon aus, daß ein Vollstreckungstitel als solcher weder einen Anspruch noch eine Verpflichtung des materiellen Rechts begründet; er gibt aber der Auffassung des 1. Senats insoweit den Vorzug, als danach ein vollstreckbarer Titel als solcher ein „sonstiger Grund“ sein kann. Der Ausdruck „zu leisten hatte“ mag zwar, wie der 4. Senat ausführt, im allgemeinen im Schuldrecht seinen Platz haben, er schließt aber nicht die Fälle aus, in denen der Versicherte kraft des gegen den Staat gerichteten Vollstreckungsanspruchs seiner früheren Ehefrau zu Unterhaltsleistungen an diese gezwungen werden konnte. In diesen Fällen handelt es sich um rechtlich erzwingbare Leistungen, auch in ihnen „hat er zu leisten“. Auch die Zusammenfassung „nach den Vorschriften des EheG oder aus sonstigen Gründen“ zwingt nicht zu dem Schluß, daß nur gleichartige Gründe gemeint seien und daß nur solche des materiellen Rechts gleichartig seien. Das Wort „sonstige“ bezeichnet seinem Wesen nach eine Ausdehnung und bedürfte einer ausdrücklichen Einschränkung, wenn es nur eine bestimmte Art „sonstiger“ Gründe umfassen sollte.

Auch der Umstand, daß Hinterbliebenenrenten „Unterhaltsersatzfunktion“ haben, spricht nicht dafür, daß mit Hilfe des Vollstreckungsanspruchs erzwingbare Leistungen von der Ersetzung durch Rente ausgeschlossen sein sollten. Es ist auch nicht richtig, daß nur realisierte oder mindestens realisierbare Unterhaltsleistungen zu ersetzen seien; denn auch die Ansprüche auf Grund der Vorschriften des EheG werden durch die Rente schon dann ersetzt, wenn sie bestehen und ihre Durchsetzung z.B. am Pfändungsschutz hätte scheitern müssen.

Schließlich spricht nach Meinung des Großen Senats auch die Entstehungsgeschichte nicht dafür, daß unter den „sonstigen Gründen“ nur solche des materiellen Rechts zu verstehen sind. Vor der Neuregelung der RentV der Arbeiter und der Angestellten führten nur Ansprüche nach den Vorschriften des EheG zur Hinterbliebenenrente an die frühere Ehefrau ohne Rücksicht darauf, ob sie auch durchsetzbar gewesen waren oder nicht. Der Regierungsentwurf erweiterte die Fälle, in denen Ersatz für den Unterhaltsverlust zu leisten ist, dadurch, daß er auch die tatsächlichen Unterhaltsleistungen im letzten Jahre vor dem Tode des Versicherten als Voraussetzung für die Hinterbliebenenrente vorsah (BT-Drucks. Nr. 2437, 2. Wahlperiode 1953). Nach der amtl. Begründung sollte dadurch auch den geschiedenen Ehefrauen geholfen werden, die von dem Versicherten zur Zeit seines Todes Unterhalt nach gesetzlichen Vorschriften oder auf Grund von Vereinbarungen außerhalb des EheG erhalten haben. Dem Sozialpolitischen Ausschuß des Deutschen Bundestages schien diese Erweiterung unzureichend. Nach dem schriftlichen Bericht des Ausschusses zur Drucks. Nr. 3080 des Deutschen Bundestages, 2. Wahlperiode, ist vor allem erörtert worden, ob nicht auch Unterhaltsleistungen vor Beginn des letzten Jahres vor dem Tode zur Rente führen sollten; Mitglieder des Ausschusses hatten auch vertragliche Unterhaltsverpflichtungen anerkannt wissen wollen. Der Ausschuß habe dann die Ergänzung beschlossen, nach der es genügt, wenn der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt aus „sonstigen Gründen“ zu leisten hatte.

Selbst wenn man trotz der insoweit knappen Fassung des schriftlichen Berichts annehmen wollte, andere Gründe als vertragliche Verpflichtungen seien nicht erörtert worden, so läßt sich daraus noch nicht folgern, der Ausschuß - und später das Plenum - habe durch die Ergänzung nur vertragliche Verpflichtungen einbeziehen wollen. Erkennbar ist vielmehr nur, daß der Gesetzgeber über die Regierungsvorlage hinaus neben den tatsächlichen Leistungen und den auf dem EheG beruhenden Verpflichtungen auch andere Rechtspositionen - sonstige Gründe - als ausreichende Voraussetzung für den Anspruch auf Hinterbliebenenrente gelten lassen wollte. Daß er diese Ausdehnung auf bestimmte Rechtspositionen habe begrenzen wollen, lassen die Gesetzesmaterialien nicht erkennen. Keinesfalls aber hat der etwa vorhandene Wille zu solcher Begrenzung im Wortlaut des Gesetzes einen hinreichend klaren Ausdruck gefunden. Der Große Senat hat deswegen die erste an ihn gerichtete Frage bejaht; ein vollstreckbarer Titel kann ein „sonstiger Grund“ i.S. des § 1265 RVO sein.

Bei der Beantwortung der zweiten Frage ist der Große Senat davon ausgegangen, daß nach Rechtsprechung und Rechtslehre der Vollstreckungstitel den Vollstreckungsanspruch gegen den Staat begründet. Es handelt sich um eine Rechtsposition, die dem öffentlichen Recht angehört und von dem materiellen Recht, auf dem der Titel beruht, unabhängig ist. Diese Unabhängigkeit kommt ihm - wie oben dargelegt - auch als „sonstiger Grund“ i.S. des § 1265 RVO zu. Das gilt auch für Vollstreckungstitel, die auf Grund der Vorschriften des EheG erwirkt worden sind oder die ihrem Inhalt nach nicht über den ohnehin nach dem EheG zu leistenden Unterhalt hinausgehen. Der Große Senat hat sich nicht der Meinung anschließen können, zwischen den verschiedenen Voraussetzungen für die Hinterbliebenenrente an die frühere Ehefrau bestehe eine Rangordnung derart, daß ein „sonstiger Grund“ nur dann anerkannt werden könne, wenn kein Anspruch nach dem EheG gegeben sei, und daß die tatsächliche Unterhaltsleistung nur dann zur Hinterbliebenenrente führen könne, wenn jede Unterhaltsverpflichtung auszuschließen sei. Diese Voraussetzungen stehen vielmehr gleichwertig nebeneinander, und es ist nach Meinung des Großen Senats durchaus zulässig, wenn bei einer tatsächlichen Unterhaltsleistung „im letzten Jahre vor dem Tode des Versicherten“ darauf verzichtet wird, zu prüfen, ob sie auf einer besonderen Rechtsposition der früheren Ehefrau beruht oder freiwillig gegeben worden ist; insoweit schließt sich der Große Senat dem Urteil des 1. Senats vom 20.07.1960 (BSG 12, 278) nicht an. Ebenso kann beim Vorliegen eines Vollstreckungstitels darauf verzichtet werden zu prüfen, ob er der Verpflichtung nach dem EheG entspricht oder darüber hinausgeht oder dahinter zurückbleibt. War der Vollstreckungstitel im maßgebenden Zeitpunkt rechtsgültig, so ist er auch dann ein „sonstiger Grund“, wenn die danach zu erzwingende Leistung sich im Rahmen der Verpflichtungen nach dem EheG hält. Der Große Senat hat daher auch die zweite Frage bejaht.

Auch die dritte Frage hätte der Große Senat, so wie sie gestellt war, nicht i.S. der Auffassung des 4. Senats beantworten können, und zwar schon deswegen nicht, weil ein Vollstreckungstitel auf Unterhaltsleistungen auf anderen Grundlagen des materiellen Rechts beruhen kann als auf den Vorschriften des EheG. Ein solcher Titel könnte also nicht deswegen angegriffen werden, weil der Anspruch nach den Vorschriften des EheG weggefallen ist. Wenn aber - wie bei der dritten Frage vorausgesetzt - anerkannt wird, daß ein Vollstreckungstitel ein sonstiger, d.h. selbständiger Grund sein kann, und zwar auch dann, wenn er keinen anderen Inhalt hat als die nach dem EheG ohnehin bestehende Verpflichtung, ist es für seine Wirksamkeit bedeutungslos, ob die Verpflichtung nach dem EheG weggefallen ist oder nicht.

Der Große Senat ist allerdings mit dem 4. Senat und abweichend vom 1. Senat (Urteil vom 29.07.1958, BSG 8, 24) der Meinung, daß ein Vollstreckungstitel nicht unter allen Umständen als Voraussetzung für die Bewilligung einer Hinterbliebenenrente an die frühere Ehefrau ausreicht. Eine Ausnahme sieht er jedenfalls dann als gegeben an, wenn der Versicherte zur Zeit seines Todes die Wirkungen des Vollstreckungstitels nach den Grundsätzen der §§ 323, 767 ZPO hätte beseitigen können und dies nicht getan hat oder nicht zu tun brauchte, weil etwa die Vollstreckung gar nicht versucht wurde oder er sich auf die Erfolglosigkeit eines solchen Versuchs verlassen konnte. Der VersTr. ist zwar nicht legitimiert, die Rechtsbehelfe geltend zu machen, die dem verstorbenen Versicherten zustanden; es widerspräche aber dem Sinn des § 1265 RVO, wenn ein solcher Vollstreckungstitel durch die Hinterbliebenenrente ersetzt würde, obwohl er als solcher oder aber seine Wirkungen vom Versicherten durch Änderungs- oder Vollstreckungsabwehrklage hätten beseitigt werden können. Es handelt sich nicht etwa darum, daß der Titel nicht realisierbar gewesen wäre; die Realisierbarkeit wird weder bei den materiellrechtlichen Ansprüchen auf Grund des EheG noch bei anderen Ansprüchen des materiellen Rechts für die Bewilligung einer Hinterbliebenenrente vorausgesetzt. In jenen Fällen handelt es sich vielmehr darum, daß der Titel als solcher oder die Zulässigkeit der Zwangsvollstreckung aus diesem Titel hätte beseitigt werden können und vom Versicherten wohl auch beseitigt worden wäre, wenn er mit der Durchführung der Zwangsvollstreckung hätte rechnen müssen.

Sind diese Voraussetzungen „zur Zeit des Todes des Versicherten“ gegeben, dann besteht nach Sinn und Zweck des § 1265 RVO kein Anlaß, den nur formell noch weiter gültigen Titel durch Bewilligung einer Rente zu ersetzen. Da diese Erwägungen und ihr Ergebnis mit der dritten Frage des 4. Senats eng zusammenhängen, hielt sich der Große Senat für befugt, diese Frage dahin zu beantworten, daß ein vollstreckbarer Titel ausnahmsweise dann kein „sonstiger Grund“ mehr ist, wenn der Versicherte „zur Zeit seines Todes“ die Wirkungen des Titels nach den Grundsätzen der §§ 323, 767 ZPO hätte beseitigen können.

Ob die Voraussetzungen solcher Ausnahme gegeben sind, ist ggf. im Verfahren der SGb nachzuprüfen; nur wenn sie sich nachweisen lassen, verliert der Vollstreckungstitel die Eigenschaft als „sonstiger Grund“ i.S. des § 1265 RVO.

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