12/3 RJ 280/60
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 30. März 1960 und das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 10. Juli 1958 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Verfahrens sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die am ... 1895 geborene Klägerin war von 1909 bis 1915 als Schneiderlehrling und -gesellin, anschließend bis zum 31. Januar 1946 als Fahrkartenverkäuferin bei der Deutschen Reichsbahn tätig. Sie ist mit Wirkung vom 1. Juni 1923 in das Beamtenverhältnis übernommen worden. Bis zum Ende des Jahres 1923 war sie in der Arbeiterrentenversicherung versichert. Der letzte Wochenbeitrag wurde für die Beitragswoche vom 31. Dezember 1923 bis 6. Januar 1924 in der Beitragsklasse 5 geleistet.
Den im Oktober 1957 gestellten Rentenantrag der Klägerin lehnte die Beklagte ab, weil keine auf die Wartezeit anrechenbaren Versicherungszeiten vorhanden seien. Die Beitragszeiten der Klägerin seien nicht anrechnungsfähig, weil in der Zeit vom 1. Januar 1924 bis 30. November 1948 ein Beitrag mehr für sie geleistet worden sei. Der letzte Wochenbeitrag sei am 31. Dezember 1923 entrichtet worden.
Hiergegen hat die Klägerin die Klage erhoben.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung des ablehnenden Bescheides verurteilt, der Klägerin einen neuen Bescheid zu erteilen und dabei die zur Rentenversicherung entrichteten Beiträge auf die Wartezeit anzurechnen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, es werde festgestellt, daß die vor dem 1. Januar 1924 zurückgelegten Versicherungszeiten der Klägerin auf die Wartezeit für die Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit und das Altersruhegeld anzurechnen seien.
Das Berufungsgericht hat dazu ausgeführt: Das Urteil des SG sei als Zwischenfeststellungsurteil über ein streitiges Rechtsverhältnis, von dessen Existenz die Entscheidung im Leistungsstreit abhänge, aufzufassen.
Die vor dem 1. Januar 1924 zurückgelegten Versicherungszeiten der Klägerin seien auf die Wartezeit anzurechnen, weil in der Zeit zwischen dem 1. Januar 1924 und dem 30. November 1948 wenigstens ein Beitrag für die Zeit nach dem 31. Dezember 1923 entrichtet sei (§ 1249 der Reichsversicherungsordnung - RVO -); nämlich der seit dem 31. Dezember 1923 entrichtete Wochenbeitrag der Klasse 5. Es könne zwar nicht präzise bestimmt werden, wann dieser Beitrag geleistet worden ist. Der genaue Zeitpunkt der Beitragsleistung sei indessen unerheblich. § 1249 RVO stelle eine Fortentwicklung des § 4 Abs. 2 des Sozialversicherungsanpassungsgesetzes (SVAG) dar. Diese Vorschrift habe angeordnet, daß die Anwartschaft aus Beitragszeiten vor dem 1. Januar 1924 nicht erhalten sei, wenn bis zum 30. November 1948 für die Zeit nach dem 31. Dezember 1923 kein Beitrag ("Brückenbeitrag") nachgewiesen sei. Der für die Woche vom 31. Dezember 1923 bis 6. Januar 1924 bestimmte Beitrag sei ein solcher Brückenbeitrag. Denn ein Wochenbeitrag, der für eine Woche verwendet worden sei, die in zwei Kalenderjahre falle, sei nach § 1266 Abs. 2 RVO aF in beiden Jahren zu berücksichtigen. Nach § 4 Abs. 2 SVAG hätte daher der für die Woche vom 31. Dezember 1923 bis 6. Januar 1924 aufgewendete Beitrag als ein Beitrag zu gelten, der - auch - für die Zeit nach dem 31. Dezember 1923 gezahlt worden sei. Es genüge, daß der letzte Beitrag mit Wirkung für die Zeit nach dem 31. Dezember 1923 geleistet worden sei. An dieser Rechtslage habe § 1249 RVO nF nichts geändert. Entgegen dem Buchstaben dieser Vorschrift, wonach der "Brückenbeitrag" nicht nur "für" sondern "in" der Zeit von 1924 bis 1948 abgeführt worden sein müsse, sei nach dem Grundgedanken der Vorschrift, wie sich aus der Begründung zum Regierungsentwurf ergebe, eine anwartschaftliche Schlechterstellung der Versicherten gegenüber der früheren Regelung im SVAG weder beabsichtigt noch eingetreten. Die Voraussetzungen des § 1249 Satz 2 RVO nF seien daher erfüllt, wenn der letzte Beitrag - wie im vorliegenden Fall - für die Zeit nach dem 31. Dezember 1923 geleistet worden sei.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 18. August 1960 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 14. September 1960 Revision eingelegt und hat das Rechtsmittel am 12. Oktober 1960 begründet.
Die Beklagte beantragt,
- das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 30. März 1960 und das Urteil des SG Dortmund vom 10. Juli 1958 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie rügt Verletzung des § 1249 Satz 2 RVO und meint, das LSG habe die Vorschrift zu Unrecht als erfüllt angesehen. Es habe verkannt, daß nach dem Wortlaut der Vorschrift in der Zeit vom 1. Januar 1924 bis 30. November 1948 mindestens ein Beitrag tatsächlich gezahlt worden sein müsse. Es sei nicht ausreichend, daß ein Beitrag nur mit Wirkung für diesen Zeitraum geleistet worden sei. Darin unterscheide sich der Wortlaut des § 1249 Satz 2 RVO wesentlich von dem des § 4 Abs. 2 SVAG. Nach § 1249 Satz 2 RVO komme es entscheidend darauf an, ob der letzte Beitrag für die Klägerin im Jahre 1924 tatsächlich entrichtet worden sei. "Entrichtet" sei ein Beitrag in dem Zeitpunkt, in dem er nach dem damaligen Recht von dem Lohn abgezogen worden sei. Die umstrittene Beitragswoche habe seinerzeit am Montag, dem 31. Dezember 1923, begonnen, so daß an diesem Tage der Beitrag für die Woche vom 31. Dezember 1923 bis 6. Januar 1924 habe einbehalten werden müssen (§ 1426 Abs. 2 RVO aF); dies sei bei der Klägerin auch geschehen. Sie sei am 31. Dezember 1923 aus ihrem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis bei der Deutschen Reichsbahn ausgeschieden. Ihr Lohn sei deshalb am Entlassungstage "spitz" berechnet und nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge an die Klägerin ausgezahlt worden. Der letzte Beitrag müsse daher bereits am 31. Dezember 1923 gezahlt worden sein.
Die Klägerin hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG) und damit zulässig; sie ist auch begründet.
Ein Anspruch auf Versichertenrente steht der Klägerin nicht zu, weil sie die Wartezeit nicht erfüllt hat. Da sie seit der Jahreswende 1923/24 keine Beiträge zu den gesetzlichen Rentenversicherungen mehr entrichtet hat, kann die Wartezeit nur erfüllt sein, wenn ihre vor dem 1. Januar 1924 zurückgelegten Versicherungszeiten auf die Wartezeit anzurechnen sind. Voraussetzung hierfür ist nach § 1249 Satz 2 RVO, daß in der Zeit zwischen dem 1. Januar 1924 und dem 30. November 1948 mindestens ein Beitrag für die Zeit nach dem 31. Dezember 1923 entrichtet ist. Nach dem Wortlaut der Vorschrift müssen also beide Voraussetzungen erfüllt sein. Es ist aber nur die zweite Voraussetzung bei der Klägerin gegeben. Nach den bindenden Feststellungen des LSG ist der letzte für die Klägerin entrichtete Wochenbeitrag zwar für die Beitragswoche vom 31. Dezember 1923 bis zum 6. Januar 1924, also mit Wirkung auch für die Zeit nach dem 31. Dezember 1923 verwendet worden; hingegen ist es nicht erwiesen, daß dieser Beitrag in der Zeit nach dem 31. Dezember 1923 entrichtet worden ist.
Das Berufungsgericht hat die Ansicht vertreten, die erste Voraussetzung des § 1249 Satz 2 RVO, die Entrichtung eines Beitrages in dem bestimmten Zeitraum, brauche "entgegen den Buchstaben des Gesetzes" nicht erfüllt zu sein; dies entspreche dem "erklärten" Willen des Gesetzgebers, der sich aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift, die an die Stelle der bisherigen Regelung in § 4 Abs. 2 Satz 2 SVAG getreten sei, ergebe. Es genüge demnach für die Anwendung des § 1249 Satz 2 RVO die "zeitliche Valuta", nämlich daß der letzte Beitrag für die Zeit nach dem 31. Dezember 1923 gilt.
Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Der Wille des Gesetzgebers ist zwar für die Auslegung des Gesetzes grundsätzlich maßgebend, aber nur dann, wenn er im Wortlaut des Gesetzes einen, wenn auch noch so unvollkommenen, Ausdruck gefunden hat. Dies ist hier nicht der Fall. Selbst wenn der Gesetzgeber den vom LSG angenommenen Willen bei der Entstehung des § 1249 RVO gehabt haben sollte, so hat ein solcher Wille im Wortlaut der Vorschrift nicht nur keinen Ausdruck gefunden, der Wortlaut ergibt sogar das Gegenteil eines solchen Willens mit voller Klarheit. Die Worte des § 1249 Satz 2 RVO "in der Zeit zwischen dem 1. Januar 1924 und dem 30. November 1948" in ihrer Gegenüberstellung mit den sogleich folgenden Worten "für die Zeit nach dem 31. Dezember 1923" können - im Unterschied zu § 4 Abs. 2 Satz 2 SVAG - ihrem Wortsinn nach nur dahin verstanden werden, daß auch die Entrichtung eines Beitrags in diesem Zeitraum erforderlich ist. Die Gesetzesauslegung kann daher nicht zu dem Ergebnis führen, zu dem das LSG gelangt ist.
Der Senat hat auch noch geprüft, ob es etwa möglich ist, im Wege abändernder Rechtsfindung zu dem Ergebnis des LSG zu gelangen. Dies würde jedoch voraussetzen, daß mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden kann, daß der Gesetzgeber, wenn er einen Fall wie den vorliegenden bedacht hätte, eine andere, dem Versicherten günstigere Regelung getroffen hätte. Eine solche Feststellung läßt sich nicht mit der erforderlichen Sicherheit treffen, auch nicht an Hand von Ausführungen, die in der Begründung zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung - die nicht der Gesetzgeber ist - enthalten sind und sich lediglich über den Grundgedanken der Vorschrift nach den Vorstellungen der Regierung aussprechen.
Nach alledem muß es dabei bleiben, daß die früheren Beitragszeiten der Klägerin nach § 1249 Satz 2 RVO nur angerechnet werden können, wenn für sie wenigstens ein Beitrag in der Zeit nach dem 31. Dezember 1923 bis zum 30. November 1948 entrichtet worden ist. Dies muß erwiesen sein. Nach den Feststellungen des LSG ist es aber nicht erwiesen, daß für die Klägerin in der in ihrem Fall allein in Betracht kommenden Zeit, den Tagen vom 1. bis 6. Januar 1924, ein Beitrag geleistet worden ist. Gegen diese Feststellungen sind keine Revisionsrügen erhoben worden. Das Vorbringen der Beklagten, der Beitrag für die in Rede stehende Beitragswoche sei schon am 31. Dezember 1923 entrichtet worden, berührt die Feststellung des LSG, daß eine Beitragsleistung in den Tagen vom 1. bis 6. Januar 1924 nicht erwiesen ist, nicht. Diese Feststellung ist daher nach § 163 SGG für das Revisionsgericht bindend und der zu treffenden Entscheidung zugrunde zu legen. Steht hiernach fest, daß der Nachweis einer Beitragsleistung in der Zeit vom 1. Januar 1924 bis zum 30. November 1948 nicht erbracht worden ist, so geht dies zu Lasten der Klägerin, weil sie ein Recht aus der behaupteten Beitragsleistung herleitet.
Das angefochtene Urteil und das Urteil des SG waren daher aufzuheben. Die Klage - die entgegen der Auffassung des LSG nicht als eine Feststellungsklage, sondern dem wirklichen Willen der Klägerin entsprechend als zusammengefaßte Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 4 SGG anzusehen ist - mußte mit der Kostenentscheidung aus § 193 SGG abgewiesen werden.