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9 RV 946/58

Tatbestand

Die 1882 geborene Klägerin, eine Volksdeutsche, wurde mit ihrem Ehemann 1946 von N. im Sudetenland nach A. im Sudetenland umgesiedelt und dort als Spulerin in einem Textilbetrieb gegen Barlohn zur Arbeit verpflichtet. Es wurde ihr ein Wohnraum zugewiesen, und sie erhielt Lebensmittelkarten, womit sie Lebensmittel einkaufen oder an der Werksküchenverpflegung teilnehmen konnte. Die sächsische und bayerische Grenze durfte sie nicht überschreiten und mußte als Deutsche eine weiße Armbinde tragen sowie eine festgesetzte Sperrstunde einhalten. 1950 wurde ihr das linke Bein amputiert. Sie führte dies zunächst auf eine durch Teilnahme an der Werksküchenverpflegung entstandene Fleischvergiftung zurück, die eine Embolie im linken Bein verursacht habe.

Mit der Revision rügt die Klägerin, das LSG habe die Frage ihrer Internierung nicht genügend aufgeklärt. Im übrigen hätte das LSG Internierung auch schon auf Grund der von ihm erhobenen Beweise annehmen müssen. Wenn auch die Klägerin nicht lagermäßig untergebracht gewesen sei, so habe sie doch erheblichen Freiheitsbeschränkungen unterlegen. Die Revision ist nicht begründet.

Den Aufenthalt der Klägerin nach dem Kriege in A. hat das LSG zutreffend nicht als Internierung angesehen. Es ist dabei mit Recht vom völkerrechtlichen Begriff der Internierung ausgegangen. Darunter wurde zunächst nur die Entwaffnung und Festhaltung von Soldaten einer kriegführenden Macht durch eine neutrale Macht verstanden (vgl. Holtzendorff, Handbuch des Völkerrechts Bd. 4 S. 662; Art. 11 des Abkommens vom 18.10.1907, betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkrieges [RGBl 1910, 151]). Die Haager Landkriegsordnung von 1907 (RGBl 1910, 132) befaßte sich mit dem Begriff der Internierung nicht. Angesichts der Praxis des zweiten Weltkrieges, in der die Festhaltung von Zivilpersonen durch die Besatzungsmächte in großem Umfang erfolgte, regelte das IV. Genfer Abkommen vom 12.8.1949 zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten (BGBl 1954 II, 917) die Rechtsstellung der Internierten in seinem Abschnitt IV. Danach beginnt die Internierung mit der Festnahme (Art. 90 Abs. 1 des Abkommens). Internierungsort ist nicht ein Ort i.S. eines Dorfes oder einer Stadt, sondern nur ein enger begrenzter Raum, also ein Internierungslager (Art. 83 Abs. 3). Für einen räumlich engbegrenzten Aufenthalt der Internierten spricht Art. 84, der es verbietet, Internierte zusammen mit Kriegsgefangenen oder aus irgend einem anderen Grund der Freiheit beraubten Personen unterzubringen, und Art. 116, der es dem Internierten gestattet, den Besuch seiner nächsten Angehörigen zu empfangen und sich in dringenden Fällen zu ihnen zu begeben. Daß die Internierten nicht am Wirtschaftsleben des Gewahrsamstaates teilnehmen, folgt aus den Bestimmungen über die Unterhaltspflicht des Gewahrsamsstaates (Art.  81), die in der Verpflichtung zur Stellung von Unterkunft, Ernährung, Bekleidung und ärztlicher Betreuung konkretisiert ist (Art. 85, 89, 90 und 91 Abs. 5), sowie aus der Verwahrung ihrer Geldmittel und der Beschränkung ihrer Beziehungen zur Außenwelt (Art. 97 ff, 105 ff). Schließlich zeigt auch die Freilassung nach Wegfall des Internierungsgrundes (Art. 132 u. 133), daß es sich bei der Internierung um Freiheitsentzug handelt. Unter Freiheit ist dabei der Inbegriff aller jener Rechte zu verstehen, kraft deren ihr Träger seinen Aufenthalt, seine Lebensweise, seine Bewegungen und alle seine sonstigen Lebensäußerungen nach eigenem Willen bestimmen kann (BVerwG vom 27.10.1955, NJW 1956, 642). Der Begriff der Internierung stellt sich mithin völkerrechtlich als die mit der Festnahme beginnende, auf dem engbegrenzten und überwachten Raum des Internierungsortes stattfindende und mit der Freilassung endende Festhaltung einer Zivilperson fremder Staatszugehörigkeit durch die Gewahrsamsmacht dar. Sie unterscheidet sich von der Zuweisung eines Zwangsaufenthaltes (Art. 41 bis 43), die nur eine Aufenthaltsbeschränkung bedeutet, durch den allgemeinen Freiheitsentzug. Von diesem völkerrechtlichen Internierungsbegriff weicht der des BVG nur insofern ab, als er nicht fremde Staatszugehörigkeit des Internierten im Verhältnis zur Gewahrsamsmacht voraussetzt. Es genügt vielmehr auch die Internierung wegen deutscher Volkszugehörigkeit im Ausland oder in den nicht unter deutscher Verwaltung stehenden deutschen Gebieten (vgl. BSG in SozR BVG § 1 Bl. Ca 19 Nr. 42). Für eine weitere Ausdehnung des Internierungsbegriffs in § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG gegenüber dem völkerrechtlichen Begriff bietet das Gesetz keinen Anhalt.

Ein Versorgungsanspruch der Klägerin aus § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG würde voraussetzen, daß sie in dem Zeitpunkt, als sie sich die von ihr als Ursache der späteren Beinamputation angesehene Fleischvergiftung zuzog, also im Jahre 1950, interniert war. Ob die Umsiedlung der Klägerin von N. nach A. im Jahre 1945 einer Festnahme gleichzusetzen ist, bedarf daher keiner Entscheidung. Es kommt auch nicht darauf an, ob im Jahre 1953 in A. Straßensperren bestanden, sondern allein auf die Bedingungen, unter denen die Klägerin im Jahre 1950 in A. lebte. Nach den Feststellungen des LSG, die die Klägerin ohne Erfolg angegriffen hat, und die daher für das Revisionsgericht bindend sind (§ 163 SGG), wohnte die Klägerin in einem ihr zwar zugewiesenen, aber doch gegen die Stadt nicht durch besondere Bewachung abgeschirmten Hause. Sie war zwar zur Arbeit verpflichtet und erhielt geringeren Lohn und weniger Lebensmittelkarten als gleichwertige tschechische Arbeitskräfte, aber sie konnte mit ihrem Verdienst und ihren Marken in den Geschäften der Stadt einkaufen bzw. an der auch Tschechen zugänglichen Werksküchenverpflegung teilnehmen. Demnach war sie zwar wirtschaftlich benachteiligt, aber doch in das allgemeine Wirtschafts- und Erwerbsleben eingegliedert. Auch ein Festgehaltenwerden auf engbegrenztem Raum lag im Jahre 1950 nicht vor. Es bestanden zwar Grenzsperren an der deutschen Grenze, und es war für Facharbeiter mit großen Schwierigkeiten verbunden, eine Aussiedlungsgenehmigung zu erhalten; die Bewegungsfreiheit der Klägerin war dadurch aber nicht engbegrenzt, sondern erstreckte sich auf die Stadt A. und das tschechische Hinterland. Es handelte sich demnach bei der Klägerin im Jahre 1950 nicht um einen allgemeinen Freiheitsentzug, sondern um eine Arbeitsverpflichtung mit den sich daraus ergebenden Bindungen an den Betriebsort, also nicht um Internierung i.S. des BVG. Die Annahme des LSG, daß eine Internierung nicht vorgelegen habe, ist somit auch sachlich-rechtlich nicht zu beanstanden.

Der Senat hat auch geprüft, ob der Klägerin nach dem HHG idF vom 25.7.1960 (BGBl I 579) Versorgung zusteht. Würde die Klägerin zu dem vom HHG geschützten Personenkreis gehören, so hätte sie nach § 4 des Gesetzes Anspruch auf Versorgung in entsprechender Anwendung des BVG. Dann wären für die Gewährung der Versorgung die Versorgungsverwaltung des Beklagten und für Streitigkeiten wegen dieses Anspruchs die Sozialgerichtsbarkeit zuständig (§ 10 Abs. 1 und 3 HHG). Das HHG dient dem Schutz der Personen, die nicht aus kriegsursächlichen, sondern aus durch die politische Entwicklung der Nachkriegszeit bedingten Gründen in Gewahrsam genommen wurden (vgl. Bundestag, 2. Wahlperiode Drucksache Nr. 1450, 5). Da die hier erfaßten Fälle des Freiheitsentzuges nicht mehr im Zusammenhang mit dem Kriege stehen, spricht das Gesetz nicht von Internierung, sondern von „Gewahrsam"; sachlich handelt es sich jedoch auch hier um den der Internierung eigentümlichen allgemeinen Freiheitsentzug. Der Begriff des Gewahrsams ist durch Art. 1 Nr. 2 Abs. 2 und 3 des Ersten Änderungs- und Ergänzungsgesetzes zum HHG vom 13.3.1957 (BGBl I 165) definiert. Danach ist Gewahrsam i.S. des Gesetzes ein Festgehalten werden auf engbegrenztem Raum unter dauernder Bewachung; lagermäßige Unterbringung als Folge von Arbeitsverpflichtungen oder zum Zwecke des Abtransports von Vertriebenen oder Aussiedlern gilt nicht als Gewahrsam. Demnach hat die Klägerin keinen Versorgungsanspruch nach dem HHG, denn abgesehen davon, daß es sich bei ihrem Aufenthalt in A. um die Folge einer Arbeitsverpflichtung handelte, fehlt es hier jedenfalls an einem Festgehaltenwerden auf engbegrenztem Raum unter dauernder Bewachung.

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