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1 RA 136/57

Der Kl. ist volksdeutscher Umsiedler aus der Sowjetunion. Er arbeitete von 1918 bis zu seiner Umsiedlung im März 1944 - allerdings mit mehrfachen Unterbrechungen - als Angestellter auf Arbeitsplätzen in der Sowjetunion und vom Juli bis Oktober 1944 als Hilfsaufseher und Hilfsarbeiter in P. Im Januar 1945 flüchtete er nach R. bei Berlin, im Juli 1947 in die heutige Bundesrepublik.

Er ist seit Herbst 1949 berufsunfähig.

Im Februar 1951 beantragte er Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit. Die LVA Unterfranken, die damals die Aufgaben der AngVers. für ihren Bezirk mit wahrnahm, lehnte den Antrag ab, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei (Bescheid vom 18.5.51). Das OVA Nürnberg wies die Berufung des Kl. zurück. Seine Rev. an das Bayer. LVAmt ging mit dem Inkrafttreten des SGG als - weitere - Berufung auf das Bayer. LSG über. Dieses verurteilte die Bekl., dem Kl. vom 1.4.52 an Ruhegeld zu gewähren und wies im übrigen die Berufung zurück: Für die Zeit vor dem 1.4.52 - dem Tag des Inkrafttretens des FremdRG vom 7.8.53 - sei der Anspruch des Kl. auf Ruhegeld nach dem Bayer. Flüchtlingsrentenges. vom 3.12.47 zu beurteilen (§ 20 Abs. 3 FremdRG). Nach diesem dürfe die in der Sowjetunion zurückgelegte Versicherungszeit nicht angerechnet werden, weil die Gegenseitigkeit zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion auf dem Gebiet der SozVers. nicht verbürgt gewesen sei (§ 2 Abs. 3 des Bayer. Flüchtlingsrentenges.). Mit der in Deutschland zurückgelegten Versicherungszeit allein sei aber die Wartezeit von 60 Beitragsmonaten nicht erfüllt, so daß dem Kl. für die Zeit vor dem 1.4.52 kein Ruhegeld zustehe. Für die Zeit danach sei sein Rentenanspruch aber begründet. Das soziale Sicherungssystem in der Sowjetunion sei zumindest für die in Betracht kommenden Zeiten (bis 1944) eine gesetzt. Rentenversicherung i.S. des FremdRG gewesen. Es beruhe auf gesetzlicher Pflicht, umfasse nicht alle Staatsbürger, sondern im wesentlichen nur die Arbeiter und Angestellten; den Versicherten stände ein Anspruch auf Altersruhegeld sowie Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit, ihren Familienangehörigen ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente zu; die Leistungen seien individuell unterschiedlich und beruhten auf Beiträgen. Die Zeiten der Zugehörigkeit zu diesem Schutzsystem seien daher für die Wartezeit, Anwartschaft und Rentenberechnung anzurechnen (§§ 1 Abs. 2 Nr. 2, 1 Abs. 6 S. 2, 4 Abs. 1 FremdRG). Der Kl. habe in der Sowjetunion 60 und in Deutschland 4 Beitragsmonate zurückgelegt. Die Wartezeit sei somit erfüllt (Urt. vom 10.5.57).

Das LSG ließ die Rev. zu. Die Bekl. legte gegen Urt. Re. ein und beantragte,

  • das angefochtene Urt. aufzuheben, soweit sie zur Zahlung von Ruhegeld verurteilt worden sei und die Berufung des Kl. gegen das Urt. des OVA Nürnberg auch insoweit zurückzuweisen: In der Sowjetunion beruhten die gesetzl. Sozialleistungen nicht auf Beiträgen. Es handele sich dort um eine Staatsversorgung, die dem Ziel diene, die Machtstellung des Staates zu stärken. Die „Versicherung“ des Kl. in der Sowjetunion sei demnach keine gesetzl. Rentenversicherung i.S. des FremdRG gewesen, so daß sie nicht berücksichtigt werden dürfe. Die Wartezeit sei somit nicht erfüllt.

Der Kl. beantragte,

  • die Rev. zurückzuweisen.

Die Bundesrepublik Deutschland, die vom LSG beigeladen worden ist, stellte im RevVerfahren keinen Antrag. Die Rev. ist zurückgewiesen worden.

Aus den Gründen:

Das Urt. des LSG ist nur insoweit angefochten, als es den Anspruch des Kl. auf Ruhegeld vom 1.4.52 an betrifft. Hinsichtlich der Zeit vorher ist die Entsch. des LSG rechtskräftig.

Der Kl. begehrt aus der SozVers. Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit. Er ist innerhalb des Bundesgebietes und des Landes Berlin nicht gegen Berufsunfähigkeit versichert gewesen. Sein Anspruch auf Ruhegeld ist daher nach dem FremdRG zu beurteilen. Dieses Gesetz regelt, ob und in welchem Umfang aus Versicherungsverhältnissen außerhalb des Bundesgebietes und des Landes Berlin Leistungen der SozVers. zu gewähren sind (§ 1 Abs. 1 u. 2 FremdRG). Die besonderen Vergünstigungen für die Wartezeit, Anwartschaft und Rentenberechnung aus der „VO über die Eingliederung von Umsiedlern in die Reichsversicherung“ vom 19.6.43 (RGBl. I S. 375), der auch im Rahmen des FremdRG noch Bedeutung zukommt (§ 3 Abs. 6 FremdRG und § 7 der Ersten VO zur Durchführung des FremdRG vom 31.7.54, BGBl. I S. 245), können im vorliegenden Fall nicht gewährt werden, weil ihre Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Der Kl. ist erst nach Ablauf eines Jahres seit seiner Umsiedlung berufsunfähig geworden. Die genannte VO wäre daher auf ihn nur anzuwenden, wenn er nach seiner Umsiedlung bis zum 31.12.46 mindestens 6 Monate lang eine der reichsgesetzl. Rentenversicherungspflicht unterliegende Tätigkeit ausgeübt hätte (§ 4 Abs. 1 u. 4 der VO vom 19.6.43). Hierzu hat das LSG festgestellt, der Kl. sei nach seiner Umsiedlung lediglich vom Juli bis Oktober 1944 als Hilfsaufseher und Hilfsarbeiter in P. und nicht auch - wie er behaupte - von 1945 bis 1947 als Dolmetscher in R. versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Nach diesen Feststellungen, die nicht angegriffen und für das BSG bindend sind (§ 163 SGG), hat der Kl. eine der reichsgesetzl. Rentenversicherungspflicht unterliegende Tätigkeit von nur 4 Monaten ausgeübt. Die Voraussetzungen der VO vom 19.6.43 liegen somit nicht vor.

Zu dem Personenkreis, der nach dem FremdRG berechtigt ist, gehören zunächst alle Personen, die sich ständig im Bundesgebiet oder im Land Berlin aufhalten, in der gesetzl. Rentenversicherung bei einem nicht mehr bestehenden, stillgelegten oder außerhalb des Bundesgebietes und des Landes Berlin befindlichen „deutschen“ Versicherungsträger versichert waren und von diesem keine Leistungen erhalten (§ 1 Abs. 1 und 2 Nr. 1 FremdRG). Außerdem sind auch die Personen berechtigt, die in einer „gesetzl. Rentenversicherung“ bei einem „nicht deutschen“ Versicherungsträger versichert waren, wenn bei ihnen - was beim Kl. der Fall ist - noch bestimmte weitere Voraussetzungen, die die Staatsangehörigkeit und Kriegsfolgen betreffen, vorliegen (§ 1 Abs. 1 u. 2 Nr. 2 FremdRG). Der Kl. hat vor seiner Umsiedlung nach Deutschland 60 Monate dem sozialen Sicherungssystem in der Sowjetunion und nach seiner Umsiedlung 4 Monate der deutschen Rentenversicherung angehört. Die in der deutschen Rentenversicherung zurückgelegte Zeit reicht zur Erfüllung der Wartezeit für das Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit nicht aus (§§ 2 FremdRG, 31 AVG a.F., 23 Abs. 3 AVG n.F.). Die Entsch. des Rechtsstreites hängt demnach davon ab, ob das soziale Sicherungssystem in der Sowjetunion unter anderem auch als eine „gesetzliche Rentenversicherung“ i.S. des FremdRG „gelten“ kann (§ 1 Abs. 2 Nr. 2 und Abs. 6, § 4 Abs. 1 FremdRG).

Als „Rentenversicherung“ i.S. des FremdRG „gelten“ „Rentenversicherungen für den Fall der Invalidität oder der Berufsunfähigkeit, des Alters und des Todes“ (§ 1 Abs. 6 S. 2 FremdRG). Dabei sind unter den Rentenversicherungen bei „deutschen“ Versicherungsträgern die Rentenversicherung der Arbeiter, die Rentenversicherung der Angestellten, die knappschaftl. Rentenversicherung und die nach dem 8.5.45 außerhalb des Bundesgebietes und des Landes Berlin an deren Stelle getretenen und von deutschen Versicherungsträgern durchgeführten Rentenversicherungen zu verstehen (§ 1 Abs. 6 und 7 FremdRG). Für die „nicht deutschen“ Rentenversicherungen gibt das FremdRG keine Begriffsbestimmung. Welche sozialen Einrichtungen als Rentenversicherungen gelten können, muß daher nach dem Sinn und Zweck des FremdRG beurteilt werden. Das FremdRG gehört, wie der Senat schon mehrfach ausgesprochen hat, zu den Gesetzen, die zur Regelung der Folgen des Krieges erlassen worden sind. Es will die erworbenen Anwartschaften auf Sozialleistungen grundsätzlich schützen. Daher verpflichtet es Behörden und Körperschaften des öffentl. Rechtes im Bundesgebiet und im Land Berlin, bestimmte öffentl.-rechtl. Ansprüche, die den Berechtigten in einem sozialen Bereich außerhalb des Bundesgebietes und des Landes Berlin erwachsen sind, unter näher dargelegten Voraussetzungen und „bis zu einer anderen gesetzl. Regelung“ (§ 1 Abs. 1 FremdRG) zu erfüllen (BSGE 4 S. 96). Bei dieser Aufgabe des FremdRG erscheint es - unter Berücksichtigung der Vielgestaltigkeit der sozialen Einrichtungen im Ausland - vertretbar, als Rentenversicherung bei einem nicht deutschen Versicherungsträger jedes soziale Sicherungssystem gelten zu lassen, das im wesentlichen auf einer öffentl.-rechtl. geregelten Pflichtzugehörigkeit für einen bestimmten Personenkreis mit einem irgendwie gestalteten Beitragsaufkommen - mit oder ohne Zuschüsse etwa des Staates oder der Arbeitgeber - aufgebaut ist und das gesetzl. oder satzungsmäßig wiederkehrende Leistungen (Renten) für den Fall einer vorzeitigen MdE (Invalidität oder Berufsunfähigkeit), des Alters und des Todes vorsieht. Damit sind die im FremdRG selbst aufgestellten Voraussetzungen beachtet: „Versicherung“ im Sinne einer Gefahrengemeinschaft und Gewährung von „Renten“ in den Fällen der „Berufsunfähigkeit“, des „Alters“ und des „Todes“. Dagegen liegt - selbst wenn Leistungen aus gleichen oder ähnlichen Anlässen gewährt werden - keine Rentenversicherung in diesem Sinne vor, wenn es sich um eine Kapitalversicherung, eine private Rentenversicherung, eine allgemeine Fürsorge für wirtschaftlich oder gesundheitlich in Not befindliche Menschen oder eine Versorgung handelt, die als Ausgleich für eine Aufopferung zugunsten der Allgemeinheit (etwa für Soldaten) oder vom Arbeitgeber oder Dienstherrn auf Grund des Arbeits- oder Dienstverhältnisses (etwa für Staatsbedienstete) gewährt wird. Mit dem Gesetzeszweck unvereinbar erscheint es, als Rentenversicherung bei einem nicht deutschen Versicherungsträger nur solche Sicherungssysteme anzusehen, die nach ihrem materiellen Recht, ihrem Organisationsrecht und nach der Gestaltung des Rechtsschutzes mit dem Sozialversicherungssystem in der Bundesrepublik übereinstimmen. Es kann deshalb nicht darauf ankommen, wie der Personenkreis, der von der auswärtigen Einrichtung betreut wird, abgegrenzt ist, ob die Leistungen an die Berechtigten auf deren Beiträgen beruhen und sich nach der Höhe dieser Beiträge richten, welches Deckungsprinzip gewählt wird, ob selbständige Versicherungsträger bestehen und ob die Entscheidungen der Bewilligungsstellen gerichtlich nachprüfbar sind (im Ergebnis ebenso Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 5. Auflage, S. 294 h). Merkmale dieser Art sind auch der deutschen SozVers. nicht uneingeschränkt eigentümlich. Sie sind auch in den einzelnen Versicherungszweigen nicht einheitlich beachtet worden. Überdies werden in den zwischenstaatlichen Verträgen über SozVers. regelmäßig die sozialen Einrichtungen des Vertragsstaates mit ihren nationalen Eigenheiten anerkannt und denen der Bundesrepublik trotz wesentl. Unterschiede als grundsätzl. vergleichbar gegenübergestellt. Das sollte auch bei der Deutung des FremdRG geschehen.

Das LSG hat nach umfangreichen Beweiserhebungen (Einholen von Rechtsgutachten, Vernehmen von Sachverständigen) über das soziale Sicherungssystem der Sowjetunion konkrete - bereits aufgezählte - Feststellungen getroffen. Das RevGer. ist an die vom BerGer. über den Inhalt des ausl. Rechtes getroffenen Feststellungen zwar nicht gebunden (vgl. RGZ Bd. 115 S. 103, Bd. 145 S. 74, Bd. 166 S. 367), der Senat hält jedoch nach eigener Prüfung die Erhebungen des LSG für ausreichend und zutreffend. Danach werden vom sozialen Sicherungssystem der Sowjetunion die Arbeitnehmer (Arbeiter und Angestellte), nicht aber alle Staatsbürger, pflichtmäßig erfaßt; für sie werden aus der Gesamtlohnsumme Beiträge geleistet, die als Sondervermögen verwaltet werden; bei Berufsunfähigkeit, im Alter und beim Tode werden Renten gewährt; die Höhe der Renten steht zu den Beiträgen in Beziehung. Diese Feststellungen decken die Anforderungen, die vom Senat an eine „gesetzliche Rentenversicherung“ i.S. des FremdRG gestellt werden. Das LSG hat deshalb mit Recht gefolgert, daß der Kl. in der Sowjetunion einer „gesetzlichen Rentenversicherung“ angehört hat. Es hat dabei den Begriff der „gesetzlichen Rentenversicherung“ nicht verkannt, sondern ihn in dem zuvor dargelegten Sinne verwandt. Der Ansicht der Bekl., der soziale Schutz in der Sowjetunion diene nur dem Ziel, die Machtstellung des Staates zu stärken, braucht für die Entsch. dieses Rechtsstreites nicht nachgegangen zu werden. Diese Zielsetzung beträfe nicht die Art des sozialen Schutzsystems, worauf es das FremdRG allein abstellt, sondern das gesetzgeberische Motiv für seine Einführung. Die nicht deutschen sozialen Sicherungssysteme, deren Verpflichtungen nach dem FremdRG übernommen werden, mögen Teil einer politischen und sozialen Ordnung sein, die den Wertvorstellungen des Grundgesetzes widerspricht. Die Bundesrepublik gewährt oder verweigert ihren Schutz nicht um der fremden Motive willen, sondern nach den Maßstäben ihrer eigenen sozialen und rechtlichen Ordnung. Die vom Kl. in der Sowjetunion zurückgelegte Versicherungszeit ist daher für die Wartezeit, Anwartschaft und Rentenberechnung anzurechnen (§§ 1 Abs. 2 Nr. 2, 4 Abs. 1 FremdRG). Hierbei handelt es sich, wie das LSG auf Grund der nachgewiesenen Beschäftigungen bindend festgestellt hat (§ 163 SGG), um 60 Beitragsmonate. Der Kl. hat somit unter Einrechnung der 4 Beitragsmonate in der deutschen Rentenversicherung insgesamt 64 Beitragsmonate in der „gesetzlichen Rentenversicherung“ zurückgelegt. Die Wartezeit von 60 Beitragsmonaten ist also erfüllt und der Anspruch auf Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit vom Inkrafttreten des FremdRG an - 1.4.52 - begründet (§§ 1 Abs. 1 u. 2, 2, 4 Abs. 1 u. 2, 7 Abs. 1 Nr. 2, 20 Abs. 1 FremdRG, 26, 31, 32 AVG a.F., 23 AVG n.F.).

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