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2 RU 18/55

Gründe

I.

Der Kläger erlitt am 20.11.1947 im Dienst der Firma … einen Unfall. Er stürzte auf eisglatter Straße und schlug mit dem linken Oberschenkel auf seine Tabakspfeife, die er in der linken Rocktasche trug. Er zog sich eine Hautabschürfung am Oberschenkel zu und hatte Schmerzen in der linken Gesäßgegend, später auch im Kreuz. Drei Wochen nach dem Unfall zog er seinen Hausarzt Dr. K in ... zu Rate, im Mai 1948 den Chirurgen Dr. St. in ... Die Diagnose beider Ärzte lautete auf linksseitige Ischias. Im Oktober 1948 wurde der Kläger in der Universitätsklinik ... untersucht. Die Gutachter der Nervenklinik und der Chirurgischen Klinik kamen übereinstimmend zu dem Ergebnis, daß eine Bandscheibenschädigung vorliege und die Beschwerden des Klägers zum großen Teil auf degenerative Prozesse zurückzuführen, jedoch durch den Unfall von 1947 wesentlich verschlimmert worden seien. Demgegenüber verneinten die ebenfalls im Feststellungsverfahren von der Beklagten mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragten Sachverständigen Dr. Sch., ..., und Dr. K. ..., den ursächlichen Zusammenhang auch im Sinne einer Verschlimmerung. Gestützt auf die beiden zuletzt angeführten Gutachten lehnte die Beklagte die Entschädigungsansprüche des Klägers durch Bescheid vom 14.12.1949 ab.

Diesen Bescheid hat der Kläger mit der Berufung zum OVA … angefochten. Auf Grund eines Gutachtens des Gerichtsarztes Dr. H., der den Bandscheibenvorfall des Klägers als eine durch den Unfall hervorgerufene Verschlimmerung bei bestehender Anlage bezeichnete, hat das OVA durch Urteil vom 25.10.1950 den Unfall des Klägers als entschädigungspflichtigen Arbeitsunfall anerkannt und die Beklagte dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger eine Rente für die in ihrer Höhe noch festzusetzende Minderung der Erwerbsfähigkeit zu zahlen. Gegen dieses auf Grund der Vereint. VO vom 26.10.1943 (RGBl. I S. 581) erlassene, am 08.11.1950 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 15.11.1950 Rekurs eingelegt. Nach Inkrafttreten des SGG hat sie die Weiterverfolgung des Rekurses als Berufung beantragt.

Die Beklagte nahm die Entscheidung des OVA zum Anlaß, dem Kläger für die Folgezeit eine Rente nach einer MdE von 40 v.H. zu gewähren. Im April 1954 ließ sie den Kläger im H.-S.-H. in ... durch den Neurologen Dr. D., den Internisten Dr. M. und den Chirurgen Dr. Dr. G. begutachten. Diese Sachverständigen kamen zu dem Ergebnis, die nach dem erstinstanzlichen Urteil durch den Unfall hervorgerufene Verschlimmerung des Grundleidens der Osteochondrose sei nicht mehr vorhanden, die jetzigen Beschwerden des Klägers entsprächen dem Zustand, der bei einem schicksalsmäßigen Ablauf des Leidens zu beobachten sei. Auf Grund dieser Gutachten entzog die Beklagte noch während des zweitinstanzlichen Verfahrens die seit dem 25.10.1950 gewährte Rente durch Bescheid vom 23.06.1954 mit Ablauf des Monats Juli 1954. Als Rechtsmittelbelehrung enthielt der Bescheid den Hinweis, daß Klage vor dem SG Kassel erhoben werden könne. Dementsprechend hat der Kläger den Entziehungsbescheid am 20.07.1954 mit der Klage angefochten (Az. 3 U 1398/54). Über einen Aussetzungsantrag der Beklagten, der im Hinblick auf das vor dem LSG schwebende Berufungsverfahren gestellt worden ist, hat das SG bisher nicht entschieden; es hat auch noch keinen Verhandlungstermin anberaumt.

In dem Verfahren vor dem LSG hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 19.07.1954 die Verwaltungsakten mit ihrem Entziehungsbescheid vom 23.06.1954 vorgelegt. Auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 09.12.1954, zu welcher der Kläger nicht erschienen war, ist die Berufung der Beklagten mit der Begründung, die Entscheidung des OVA sei gemäß § 2 Abs. 2 der Vereinf. VO vom 26.10.1943 endgültig, als unzulässig verworfen worden. Zugleich hat das LSG über den Entziehungsbescheid der Beklagten vom 23.06.1954 gem. § 96 in Verbind, mit § 153 SGG entschieden und diesen bestätigt; es hat auf Grund der im Unfallkrankenhaus ... erstatteten Gutachten als erwiesen angesehen, daß die vom OVA festgestellte unfallbedingte Verschlimmerung des Grundleidens des Klägers nicht mehr vorhanden sei. Die Revision hat das LSG nicht zugelassen.

Das Urteil ist dem Kläger am 21.12.1954 zugestellt worden. Er hat hiergegen am 20.1.55 Revision eingelegt und diese, nachdem die Begründungsfrist um einen Monat verlängert worden war, am 21.03.55 begründet.

Die Revision ist darauf gestützt, daß das Verfahren des LSG an wesentlichen Mängeln leide. Sie ist der Auffassung, das LSG hätte über den Entziehungsbescheid nicht entscheiden dürfen, weil dieser den Erstbestand weder geändert noch ersetzt habe und weil über den Erstbescheid nicht sachlich entschieden worden sei. Aus diesen Gründen hält die Revision § 96 SGG für verletzt. Sie rügt auch Verletzung des § 94 SGG, weil der neue Bescheid Gegenstand einer Klage vor dem SG sei. Ferner führt sie aus: der Kläger habe nicht gewußt und nicht wissen können, daß auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 09.12.1954 über den Entziehungsbescheid entschieden werde. Da er hierauf nicht hingewiesen worden sei, habe er keine Gelegenheit gehabt, sich zu äußern.

Insoweit sei ihm also das rechtliche Gehör verweigert und die Möglichkeit genommen worden, die Anhörung eines Arztes seines Vertrauens zu beantragen. Es seien somit die §§ 62, 106, 112 Abs. 2 und 109 SGG verletzt. Einen weiteren Mangel des Verfahrens sieht die Revision darin, daß das LSG lediglich auf Grund der im Auftrage der Beklagten in M. erstatteten Gutachten entschieden, sich dagegen mit den dem Kläger günstigen Gutachten der Universitätskliniken in G. und M. nicht auseinandergesetzt und auch keinen neutralen Sachverständigen angehört habe.

II.

Der Senat hatte zunächst zu prüfen, ob nicht das LSG gemäß § 214 Abs. 5 SGG über den gesamten Streitgegenstand endgültig entschieden hat und die Revision deshalb unstatthaft ist. Diese Frage hat der Senat verneint. Das LSG hat allerdings über einen nach Inkrafttreten des SGG als Berufung weiterverfolgten Rekurs und damit in einem Falle des § 214 Abs. 4 SGG entschieden, dies jedoch nur hinsichtlich des Erstbescheides vom 14.12.1949. Seine Entscheidung ist daher auch nur insoweit gemäß § 214 Abs. 5 SGG endgültig, nicht dagegen hinsichtlich des erst während des Berufungsverfahrens und nach Inkrafttreten des SGG ergangenen Entziehungsbescheides vom 23.06.1954. Bedenken gegen diese Auffassung lassen sich nicht etwa daraus herleiten, daß sie die teilweise Anfechtbarkeit und teilweise Unanfechtbarkeit desselben Urteils zur Folge hat. Zu einem solchen Ergebnis führen z.B. auch die Beschränkung der Revisionszulassung auf einen bestimmten Anspruch (BSG 3 S. 135 1138) und die Verbindung (§ 213 SGG) eines nach § 214 Abs. 4 SGG als Berufung geltenden Rekurses mit einer gemäß § 215 Abs. 8 SGG übergegangenen, einen selbständigen Anspruch betreffenden Berufung (vgl. Urteil des BSG vom 15.03.1957 - 9 RV 62/54 -). Auch im vorliegenden Falle hat der Vorderrichter über zwei selbständige Ansprüche des Klägers entschieden. Der erste, die Berufung der Beklagten verwerfende Teil seiner Entscheidung betrifft den Anspruch des Klägers auf Aufhebung des ablehnenden Bescheides vom 14.12.1949 und auf Gewährung einer Rente (nach dem System des SGG Anfechtungsklage in Verbindung mit einer Leistungsklage). Der zweite Teil der Entscheidung bezieht sich demgegenüber auf eine reine Anfechtungsklage, die aber nicht gegen den Erstbescheid, sondern gegen den neuen Verwaltungsakt, vom 23.06.1954 gerichtet ist. Schließlich ergibt sich auch aus dem Sinn und Zweck des § 96 SGG - seine Anwendbarkeit im vorliegenden Falle vorausgesetzt - nur, daß verschiedene Verwaltungsakte, sofern das Gesetz eine Nachprüfung im Instanzenzuge noch zuläßt, vor allem im Interesse der Prozeßwirtschaftlichkeit unter bestimmten Voraussetzungen in demselben Verfahren nachgeprüft werden sollen. Dagegen ist kein Anhaltspunkt dafür gegeben, daß der neue Verwaltungsakt der durch § 96 SGG in der angeführten Weise mit dem früheren Verwaltungsakt verbunden ist, auch hinsichtlich der Anfechtbarkeit dessen Schicksal teilen soll. Ist somit die Entscheidung über einen vor dem 01.01.54 erlassenen Verwaltungsakt nach den Übergangsvorschriften des § 214 SGG nur beschränkt anfechtbar, so gilt diese Beschränkung nicht auch für die Anfechtbarkeit eines nach dem Inkrafttreten des SGG erlassenen Verwaltungsaktes.

III.

Die Rüge der Revision, das LSG habe § 96 - in Verbindung mit § 153 SGG - zu Unrecht angewendet und dadurch gegen das Verfahrensrecht verstoßen, ist nicht begründet.

Voraussetzung für die Rechtsfolge des § 96 SGG ist einmal, daß das den Erstbescheid betreffende Verfahren bei Erlaß des Zweitbescheides rechtshängig ist. Dies trifft im vorliegenden Falle zu; denn am 23.6.54 schwebte das durch die Anrufung des OVA eröffnete Verfahren noch vor dem LSG. Entgegen der Auffassung der Revision wurde, wie der erkennende Senat bereits durch Urteil vom 24.10.1956 - SozR. SGG § 96 Bl. Da 2 Nr. 3 - entschieden hat, die Rechtshängigkeit nicht dadurch beeinträchtigt, daß die Berufung der Beklagten nach der gemäß § 214 Abs. 5 SGG insoweit endgültigen und daher im Revisionsverfahren nicht nachprüfbaren Entscheidung des LSG unstatthaft war. Die Rechtshängigkeit setzt nicht voraus, daß eine Sachentscheidung ergehen kann (so auch Brackmann, Handbuch der Soz. Vers., Stand 1.9.1956, S. 242 r; vgl. auch Mellwitz, Komm. zum SGG, § 96 Anm. 5: LSG Baden-Württemberg in Breith. 1955 S. 318; LSG Schleswig in Breith. 1955 S. 432; LSG Celle in SGb 1957 S. 85; vgl. auch Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl. S. 461).

Weiter hängt die Anwendbarkeit des § 96 SGG davon ab, daß der neue Verwaltungsakt den früheren ändert oder ersetzt. Diese Voraussetzung ist gegeben, wenn der neue Verwaltungsakt die Beschwer des Betroffenen ändert, d.h. vermindert oder vermehrt (vgl. Hastler, Komm. zum SGG, § 96 Anm. 3 b; LSG Baden-Württemberg in Breith. 1955 S. 318 [322]). Im vorliegenden Falle hat zwar der Entziehungsbescheid eine geringere Beschwer als der vorausgegangene Ablehnungsbescheid; denn er läßt das Schicksal des Rentenanspruches des Klägers für die Zeit vom Unfall bis zum 31.7.54 in der Schwebe, enthält also insoweit keinen negativen Ausspruch. Jedoch hat der Zweitbescheid nicht diese geringere Beschwer an die Stelle der ursprünglichen Beschwer gesetzt, vielmehr hat er die ursprüngliche Beschwer bestehen lassen. Sein Sinn ergibt sich erst in Verbindung mit dem Urteil des OVA vom 25.10.1950, das die Beklagte - jedenfalls für die Zeit bis zum Abschluß des Verfahrens in der höheren Instanz - verpflichtete, dem Kläger eine Rente zu gewähren. Gegenüber dieser durch das OVA-Urteil bewirkten Änderung enthält der Zweitbescheid eine Vermehrung der Beschwer des Klägers. Auch auf einen solchen Fall ist § 96 SGG bei der nach dem Zweck und der Entstehungsgeschichte gebotenen weiten Auslegung der Vorschrift anzuwenden. Nach der Begründung zu § 43 des Regierungsentwurfs zur Sozialgerichtsordnung (BT-Drucksache Nr. 4357/53) sollten nämlich durch die Vorschrift alle Bescheide ergriffen werden, die „den anhängigen Prozeßstoff beeinflussen können". Ein solcher Einfluß ist in der Regel gegeben, wenn - wie hier - in dem rechtshängigen Verfahren über den ursächlichen Zusammenhang zwischen den Beschwerden des Klägers und dem Unfall gestritten wird und der neue Bescheid sich auf den Wegfall der - möglicherweise - auf den Unfall zurückzuführenden Beschwerden bezieht (vgl. auch Peters-Sautter-WoIff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, § 96 Anm. 1 Abs. 1; LSG Celle in Breith. 1956 S. 36).

Der Anwendbarkeit des § 96 SGG steht auch nicht entgegen, daß nicht der Kläger, sondern die Beklagte das Berufungsverfahren vor dem LSG in Gang gebracht hat. Die Rechtsfolge des § 96 tritt ohne Rücksicht auf die Stellung der Beteiligten im Verfahren für alle, die angeführten Voraussetzungen erfüllenden Verwaltungsakte ein, die vom Zeitpunkt der Klageerhebung bis zum Abschluß des Verfahrens in der Berufungsinstanz - für das Revisionsverfahren gilt § 171 Abs. 2 SGG - erlassen werden.

Die Auffassung der Revision, das LSG hätte im Hinblick auf die von dem Kläger am 20.7.1954 beim SG Kassel erhobene Klage nicht über den Entziehungsbescheid entscheiden dürfen, trifft nicht zu. Aus § 96 SGG ergibt sich die Rechtsfolge, daß der Entziehungsbescheid vom 23.06.1954 mit seinem Erlaß kraft Gesetzes Gegenstand des über den Erstbescheid rechtshängigen Verfahrens geworden ist. Es lag also schon eine rechtshängige Streitsache vor, als die den Entziehungsbescheid betreffende Klageschrift beim SG Kassel einging. Infolgedessen ist die dort schwebende neue Klage wegen anderweiter Rechtshängigkeit der Sache unzulässig (§ 94 Abs. 2 SGG), nicht aber war das LSG durch die anderwärts schwebende unzulässige Klage gehindert, über den Entziehungsbescheid mitzuentscheiden.

Nach alledem ist der Entziehungsbescheid Gegenstand des Verfahrens über den Erstbescheid geworden. In diesem Verfahren hat zunächst das OVA den Rentenanspruch des Klägers dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Dieses Urteil war nach dem damals geltenden Recht ein Endurteil, das die Instanz abschloß (vgl. RVA in AN. 92 S. 332 und EuM. 8 S. 388; RVO-Mitgl. Komm. § 1668 Anm. 1 Albs. 3; Schroeter in BG 1955 S. 338). Vor dem OVA blieb also im Unterschied zum Zivilprozeß (§ 304 Abs. 2 ZPO) nicht etwa ein Verfahren über die Höhe rechtshängig, das mit dem Inkrafttreten des SGG gemäß § 215 Abs. 2 SGG auf das SG hätte übergehen können. Infolgedessen kommt als Verfahren, das gem. § 96 in Verb. mit § 153 SGG in seinem Streitgegenstand erweitert wurde, nur das durch das Rechtsmittel der Beklagten in die höhere Instanz gelangte Verfahren über den Grund des Rentenanspruches in Betracht. Ob dies auch Rechtens wäre, wenn das Grundurteil unter der Herrschaft des SGG ergangen wäre (vgl. Peters-Sautter-WoIff a.a.O., § 130 Anm. 2) oder ob nunmehr ein Verfahren über die Höhe des Anspruches bei der Instanz anhängig bleibt, die das Grundurteil erläßt (vgl. Schroeter a.a.O., S. 338), und ob alsdann das Verfahren über den Grund oder das Verfahren über die Höhe durch einen Zweitbescheid in seinem Streitgegenstand erweitert wird, brauchte der Senat nicht zu entscheiden.

IV.

Die Rüge der Revision, dem Kläger sei hinsichtlich der Verhandlung und Entscheidung über den Entziehungsbescheid das rechtliche Gehör verweigert worden, ist begründet. Das LSG konnte nicht voraussetzen, daß der Kläger § 96 SGG und seine Tragweite kannte. Dies gilt um so weniger, als der Kläger durch die dem Entziehungsbescheid angefügte unzutreffende Rechtsmittelbelehrung irregeführt worden war. Unter den gegebenen Umständen wäre der Vorsitzende des LSG verpflichtet gewesen, den Kläger schon vor der mündlichen Verhandlung auf die Rechtsfolge des § 96 SGG hinzuweisen und ihm Gelegenheit zur Äußerung zu geben (§ 106 Abs. 1 SGG.) In diesem Zusammenhang ist es auch von Bedeutung, daß der Kläger wenige Wochen vor der mündlichen Verhandlung vor dem LSG von dem Berichterstatter die Mitteilung erhielt, daß der Beklagten nahegelegt worden war, die nach der Auffassung des Gerichtes unstatthafte Berufung zurückzunehmen. Dieser Umstand und die Unkenntnis von der Rechtsfolge des § 96 SGG konnten ihn veranlassen, von der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung abzusehen und sich auch nicht vertreten zu lassen. Daß das LSG gleichwohl auf Grund der mündlichen Verhandlung am 09.12.1954 über den Entziehungsbescheid entschieden hat, bedeutet eine teilweise Verweigerung des rechtlichen Gehörs und damit einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG und § 62 SGG. Außerdem sind die §§ 127 und 128 Abs. 2 SGG, die beide auf dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs beruhen, verletzt. Das LSG hat bei seiner Entscheidung die von den Sachverständigen des H.-S.-H. in ... erstatteten Gutachten verwertet, welche die Beklagte mit Schriftsatz vom 19.07.1954 vorgelegt hatte. Dies konnte nur im Wege des Urkundenbeweises geschehen, der in der mündlichen Verhandlung erhoben wurde (§ 420 ZPO in Verb. mit § 118 Abs. 1 SGG; vgl. hierzu Brackmann a.a.O. S. 244 l und 246 q; ferner Rosenberg a.a.O. S. 557 Ziff. 3). Wie sich den Akten des LSG entnehmen läßt, ist der Kläger von der beabsichtigten Beweisaufnahme nicht benachrichtigt worden. Nach § 127 SGG darf aber, wenn ein Beteiligter nicht benachrichtigt worden ist, daß in der mündlichen Verhandlung eins Beweisaufnahme stattfindet, und er weder zugegen noch vertreten ist, in diesem Termin ein ihm ungünstiges Urteil nicht erlassen werden. Außerdem hätte das Urteil des LSG nicht auf die angeführten Gutachten gestützt werden dürfen, weil der Kläger weder von der Einbeziehung des Entziehungsbescheides in die Verhandlung noch von der Beweiserhebung wußte und er sich infolgedessen zu den Beweisergebnissen nicht äußern konnte (§ 128 Abs. 2 SGG).

In der angeführten mehrfachen Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs liegt ein wesentlicher Mangel des Verfahrens, der die Statthaftigkeit der Revision begründet. Der Mangel ist in der durch § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG vorgeschriebenen Weise gerügt. Die form- und fristgerecht eingelegte Revision ist somit zulässig. Hiernach brauchte nicht mehr geprüft zu werden, ob auch die weiteren von der Revision gerügten Verfahrensmängel vorliegen.

V.

Aus den vorangegangenen Ausführungen ergibt sich zugleich, daß die Revision begründet ist. Es läßt sich nicht ausschließen, daß der Vorderichter zu einer dem Kläger günstigen Entscheidung gelangt wäre, wenn er ihm hinsichtlich des Entziehungsbescheides rechtliches Gehör gewährt hätte. Da dies in einer Tatsacheninstanz zu geschehen hat, konnte das BSG in der Sache nicht selbst entscheiden, vielmehr mußte gemäß § 170 Abs. 2 S. 2 SGG das angefochtene Urteil insoweit mit den ihm zu Grunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden, als der Bescheid der Beklagten vom 23.06.1954 bestätigt worden ist. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.

Anmerkung:

Der Entscheidung ist zuzustimmen.

1. Das BSG hat mit Recht bei seiner Entscheidung über die Statthaftigkeit der Revision zwischen dem Verfahren des Erstbescheides und dem des Entziehungsbescheides unterschieden und nur beim Verfahren über den Entziehungsbescheid die Statthaftigkeit der Revision bejaht. Beim Verfahren über den Erstbescheid handelt es sich, wie das BSG richtig festgestellt hat, um einen Fall des § 214 Abs. 4 SGG. Hier entscheidet das LSG gemäß § 214 Abs. 5 SGG endgültig. Das Verfahren über den Entziehungsbescheid fällt hingegen nicht unter diese Bestimmungen. Der Entziehungsbescheid ist während des Berufungsverfahrens am 23.06.1954 ergangen. Das sich mit ihm befassende Verfahren hat mithin erst nach dem Inkrafttreten des SGG begonnen. Unter Beibehaltung seiner bisherigen Rechtsprechung hat das BSG damit erneut die teilweise Anfechtbarkeit und teilweise Unanfechtbarkeit einer Entscheidung mit überzeugender Begründung bejaht, dem auch Rechtsprechung und Literatur zustimmen (vgl. Peters-Sautter-WoIff „Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit" § 96 Bem. 2d; Mellwitz „Sozialgerichtsgesetz", Kommentar, 1956, § 96 Bem. 5; LSG Schleswig in „Die SGb" 1956, 16 (17) mit Anmerkungen von Büchsenschuß (18). Beide Verfahren sind zwar über § 96 SGG verbunden worden, das BSG vertritt aber mit Recht die Ansicht, daß § 96 SGG und seine Vorgeschichte keine Hinweise enthalten, wonach die Verbindung des neuen Verwaltungsaktes mit dem früheren Verwaltungsakt ersteren auch in der Anfechtbarkeit mit dem früheren koppelt.

Das BSG hat Fehler in der Anwendung der §§ 153, 96 SGG durch das LSG verneint. Dem ist zuzustimmen. Das Verfahren, das den Erstbescheid betrifft, ist noch rechtshängig gewesen, als der Zweitbescheid ergangen ist. Das ESG hat in Übereinstimmung mit der im Urteil zitierten Rechtsprechung und Literatur mit Recht darauf abgestellt, daß es bei der Frage der Rechtshängigkeit nicht darauf ankommt, ob eine Sachentscheidung ergehen kann. Wesentlich ist allein, daß hier das Berufungsgericht noch mit der Sache befaßt gewesen ist, daß also die mündliche Verhandlung noch nicht geschlossen worden ist, die entweder zu einem Prozeß- oder Sachurteil führt. Der Entziehungsbescheid ist aber vor der Verhandlung des LSG am 09.12.1954 ergangen. Mithin ist die Rechtshängigkeit gemäß §§ 153, 96 SGG zu bejahen gewesen.

Die Revision hat zu Unrecht die Beschwer durch den Entziehungsbescheid verneint. Das BSG hat bei der Beschwer richtig darauf abgestellt, den Zweitbescheid mit der durch das rechtsgestaltene Urteil des OVA vom 25.10.1950 ausgesprochenen Verpflichtung zur Gewährung einer Rente, durch die der ablehnende Bescheid vom 14.12.1949 ersetzt worden ist, in Vergleich zu setzen. Der Zweitbescheid entzieht diese Rente. Darin liegt die vermehrte Beschwer für den Kläger. Auch auf diesen Fall ist § 96 SGG anzuwenden. Die Interpretation, die das BSG § 96 gibt, ist überzeugend und wird dem Zweck dieser Bestimmung, eine rasche und umfassende Erledigung der Streitsache auch aus Gründen der Prozeßwirtschaftlichkeit zu erreichen, gerecht.

2. Das BSG hat zutreffend die prozeßuale Einrede der Rechtshängigkeit (§ 94 Abs. 2 SGG) zurückgewiesen. Der Zweitbescheid ist gemäß § 96 SGG, also im Wege einer „gesetzlichen Klageänderung", mit seinem Erlaß vor dem LSG rechtshängig geworden. Diese Rechtshängigkeit schließt naturgemäß eine weitere Klage aus, § 94 Abs. 2 SGG. Mithin ist das LSG befugt gewesen, über den Entziehungsbescheid zu befinden. Auf der anderen Seite hat der Kläger mit Rücksicht auf die Rechtshängigkeit keine Möglichkeit mehr gehabt, Klage gegen den Entziehungsbescheid zu erheben. Die entsprechende Rechtsmittelbelehrung der Beklagten ist unzutreffend gewesen.

3. Es ist der Auffassung des BSG beizupflichten, daß der Kläger hier nicht ohne weiteres § 96 SGG und seine Konsequenz hat erkennen können. Dabei kommt im vorliegenden Fall hinzu, daß von der Beklagten eine falsche Rechtsmittelbelehrung erteilt worden ist. Auch die Rücksprache mit dem Berichterstatter hat bei dem Kläger den Eindruck entstehen lassen müssen, die Berufung der Beklagten sei nicht statthaft. Das BSG stellt daher mit Recht heraus, daß er unter diesen Umständen nicht mit einer Entscheidung gemäß § 96 SGG über den Entziehungsbescheid hat zu rechnen brauchen. Wenn das LSG gleichwohl entschieden hat, stellt dies, darin muß dem BSG zugestimmt werden, ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG, § 62 SGG dar. Auch die weiterhin festgestellte Verletzung der §§ 127, 128 Abs. 2 SGG unterliegt keinen Bedenken. Das BSG hat daher zutreffend gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen, soweit der Bescheid der Beklagten vom 23.06.1954 bestätigt worden ist.

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